M. Middell: Weltgeschichtsschreibung

Titel
Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung, Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990. 3 Bde.. Bd. 1: Das Institut unter der Leitung Karl Lamprechts; Bd. 2: Von der Kulturgeschichte unter Walter Goetz zur historischen Soziologie Hans Freyers; Bd. 3: Von der vergleichenden Kulturgeschichte zur Revolutionskomparatistik


Autor(en)
Middell, Matthias
Reihe
Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, 6/1-3
Erschienen
Anzahl Seiten
1.270 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Ein einzelnes Institut an einer sächsischen Universität, noch dazu eines, dessen institutionelle Kontinuität zu einem Gutteil vorgestellt, nicht vorgefunden ist, in Beziehung zu den Grundlinien der Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Deutschland insgesamt zu setzen - und das über einen Zeitraum von nicht weniger als einhundert Jahren -, das ist zweifellos ein gewagtes Unterfangen. Dies um so mehr, als sich auch die Hauptprotagonisten dieser ungewöhnlich dichten Beschreibung aus der Gegenwartsperspektive sämtlich als marginal ausnehmen und zudem einander ideologisch diametral entgegengesetzt erscheinen: Karl Lamprecht, Walter Goetz, Hans Freyer, Walter Markov und Manfred Kossok decken das politische Spektrum vom Nationalismus über den Liberalismus bis zum Sozialismus nahezu vollständig ab und sind daher bislang nirgends in ein und dieselbe politisch-wissenschaftliche Traditionslinie gestellt worden. Jedoch wird der Verdacht, dass hier ein lokalpatriotischer Universitätshistoriker den eigenen Tellerrand mit dem Horizont verwechselt, bereits im zweiten Satz dieser voluminösen Untersuchung nachhaltig ausgeräumt: Die erkenntnisleitende Frage “Wie kann man Weltgeschichte schreiben?” erweist sich als multiples tertium comparationis mit regelrechter Sesam öffne dich!-Wirkung. Wenn Hebbel in der Habsburgermonarchie des ausgehenden 19. Jahrhunderts “die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält”, gesehen hat, dann porträtiert Matthias Middell das Lamprecht-Institut und seine bis 1951 realen, danach virtuellen Nachfolgeinstitutionen als Zentrallaboratorium deutscher, europäischer und internationaler Universalgeschichtsschreibung mit gewaltigem Wirkungsradius und traditionsstiftender Langzeitwirkung. Und auf dieser global history-Folie nehmen sich dann selbst die genannten und so unterschiedlichen Leipziger Protagonisten als Mitglieder ein und derselben Staffellaufmannschaft aus.

Die Geschichte, die in dieser Leipziger Habilitationsschrift fesselnd erzählt wird, ist diejenige des 1909 gegründeten Instituts für Kultur- und Universalgeschichte bei bzw. – je nach Sichtweise – an der Universität Leipzig samt seiner Vorgeschichte seit der Berufung seines Gründers Karl Lamprecht nach Leipzig im Jahr 1890 und der Entwicklung seiner Nachfolgeeinrichtungen bis zum Ende der DDR 1990. Die Untersuchung gibt den Blick frei auf Besonderheiten der Institutionalisierung des Faches Geschichte in Leipzig, wo die Universität über zwei historische Institute verfügte, welche nicht durch eine nach zeitlichen oder räumlichen Gesichtspunkten organisierte Arbeitsteilung, sondern durch Konkurrenz um die Deutungshoheit über die Geschichte insgesamt verbunden waren. In Middells Sicht hatte dies zur Folge, dass sich im Wettstreit der Institute sowohl alternative Möglichkeiten der Institutionalisierung von Geschichtswissenschaft als auch der Entscheidung über die Definition eines ihr angemessenen Gegenstandes und ihres Interpretationsanspruchs in Koalition bzw. Abgrenzung mit anderen Fächern spiegelten. Die ihrem Verfasser zufolge zunächst als lokal begrenzte Fallstudie beabsichtigte Arbeit stellt sich ihm somit als Prisma dar, durch das allgemeine Entwicklungen des Fachs in Deutschland und seines Selbstverständnisses über vier Regime im 20. Jahrhundert hinweg verfolgt werden können: das Wilheminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Herrschaftszeit des Nationalsozialismus und die 45-jährige Periode der SBZ/DDR.

Zwar ist das mehr als tausendseitige Werk explizit als Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft als ganzer angelegt, doch enthält es grundlegende Beiträge zu einer regionalbezogenen historischen Teildisziplin, die gleich der Kultur- und Universalgeschichtsschreibung Lamprechtscher Prägung das implizit nationalhistorische Paradigma aufzusprengen sucht, nämlich zu der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum universitär etablierten Osteuropäischen Geschichte. Hier treibt Middell gleich ein ganzes Dutzend Erkenntnisstollen in ein weitgehend unexploriertes wissenschaftsgeschichtliches Quellenmassiv. Dazu gehören das Interesse mittlerer Intensität innerhalb des engeren Lamprecht-Umfelds an der Geschichte Südosteuropas; das 1917 gegründete, indes anämisch gebliebene Südosteuropa- und Islam-Institut, welches 1922 in Osteuropa- und Islam-Institut und schließlich 1923 in Osteuropa-Institut umbenannt wurde; die Versuche einer Institutionalisierung des mittlerweile erheblich verstärkten Südosteuropa-Interesse in Form der 1937 erfolgten Gründung eines Südosteuropa-Instituts samt eigenem Periodikum, der von 1937 bis 1943 erschienenen “Leipziger Vierteljahreszeitschrift für Südosteuropa” – sämtlich Schritte, mittels derer Leipzig zur “Südost-Universität des Reiches” aufgewertet werden sollte 1; das wissenschaftspolitische (und nachrichtendienstliche) Wirken Hans Freyers nach Ostmittel- und Südosteuropa hinein als Leiter des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Budapest 1938-1945; sowie das schwierige Verhältnis der SED zur Leipziger Osteuropaforschung in der Markov-Kossok-Ära als Funktion der DDR zu den “Volksdemokratien” und den anderen Staaten Osteuropas. Von besonderem Interesse sind hier die Passagen zu den zahlreichen institutionellen Brüche osteuropabezogener historischer Forschung an der Karl-Marx-Universität – ein stumbling and dusting off, das in der seinerzeitigen Außensicht nicht zu deuten und, wie Middell belegt, primär auf ideologische Zickzackbewegungen zurückzuführen war.2

Dass Middells opus magnum eine ungewöhnliche Länge aufweist, hat mit einer Fragestellung zu tun, bezüglich derer er sich nur auf kurzen Strecken auf einen befriedigenden Forschungsstand stützen kann. Da dies mit Blick auf den gesamten einhundertjährigen Untersuchungszeitraum die Ausnahme ist, waren umfangreiche Quellenstudien unausweichlich. Ein besonders krasser Fall einer klaffenden Lücke sind dabei Werk und Wirkung Walter Markovs, musste doch selbst die fulminante, 1947 vorgelegte Leipziger Habilitationsschrift “Grundzüge der Balkandiplomatie” des späteren “Titoisten” den Archiven entrissen werden. Deren erstmalige Veröffentlichung in Form einer kritischen Edition ist nur eines von etlichen profunden Nebenergebnissen dieser Studie.3

Dass der Historiker Matthias Middell seine Darstellung 1990 enden lässt, dass also nicht auch der gleichnamige Leipziger Akteur und Zeitzeuge seine Narration bis zur Gegenwart herangeführt hat, ist zugleich bedauerlich wie verständlich. Denn der auch an der erneut als Universität Leipzig firmierenden Alma mater fortbestehende Institutionen-Dualismus in der Geschichtswissenschaft, also die Existenz eines Historischen Seminars an einer der drei philosophischen Fakultäten sowie das Vorhandensein eines aus mehreren historischen Professuren an den beiden anderen Fakultäten gebildeten invisible college (bzw. mit Hannes Siegrist: visible college), birgt gerade bei einem Unterfangen wie dem der Habilitation Risiken. Dennoch fehlt der Middellschen Langzeituntersuchung dadurch in gewisser Weise der Ausblick auf die prägende Dekade nach 1990. Denn das Fortspinnen des roten Fadens über die Wende hinaus wäre gleichsam die Nagelprobe auf die These von der institutionell begründeten produktiven Originalität Leipziger geschichtswissenschaftlicher Zweigleisigkeit und ihres durch Konkurrenz stimulierten intellektuellen Fallout gewesen.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu auch Sindilariu, Thomas, Die wissenschaftlichen Anfänge von Georg Stadtmüller. Motive und Grenzen der Integration in den Wissenschaftsbetrieb des NS-Staates, in: Ungarn-Jahrbuch 26 (2002/03), S. 95-124, sowie Ders., Südosteuropahistoriographie im Kontext nationalsozialistischer Machkämpfe. Das Südosteuropa-Institut Leipzig und der Konflikt Georg Stadtmüller – Fritz Valjavec 1936-1943, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006) (im Erscheinen).
2 Dazu jetzt auch Behrendt, Lutz-Dieter, Die Osteuropahistoriographie in der DDR. Das Beispiel Leipzig, in: Dahlmann, Dittmar (Hg.), Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Stuttgart 2005, S. 183-194, samt der Besprechung in: H-Soz-u-Kult, 26.10.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-054>.
3 Markov, Walter, Grundzüge der Balkandiplomatie. Ein Beitrag zur Geschichte der Abhängigkeitsverhältnisse, Mit einer Einführung von Günther Schödl und einem Dokumentenanhang herausgegeben von Fritz Klein und Irene Markov, Redaktion Matthias Middell und Katharina Middell, Leipzig 1999.

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