Cover
Titel
Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR


Autor(en)
Doßmann, Axel
Erschienen
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Burghard Ciesla, Historisches Institut, Universität Potsdam

In Axel Doßmanns Dissertation geht es um die Autobahnen in der SBZ/DDR. Die „blassgrauen Bänder“ sind Gegenstand und Bezugspunkt seiner Untersuchung, die er als bemerkenswerte politische Kulturgeschichte einer Infrastruktur geschrieben hat. Sein Buch bewegt sich in einem erstaunlichen Spektrum von Themen: Es geht um politische und technische Kultur, internationale Politik, alltägliche Herrschaft, individuelle Erfahrungen, innerdeutscher Diplomatie, Verkehrspolitik und politische Ökonomie. Das Buch zeigt, dass Autobahnen eben nicht nur technische Artefakte oder exklusive Wege für die automobile Welt sind, sondern zugleich auch von Freiheitsversprechen, Vergangenheitspolitik, ästhetischen Dogmen, Selbst- und Fremdbildern erzählen können.

In den ersten drei Kapiteln untersucht Doßmann den Autobahnbau von der Weimarer Republik bis zur Errichtung der Mauer 1961. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches verfügte die SBZ über 1.378 Kilometer Reichsautobahn. Eine willkommene materielle Erbschaft. Die Wiederherstellung der zerstörten Brücken der neuartigen Infrastruktur gehörte zu den Schwerpunktaufgaben beim wirtschaftlichen Wiederaufbau. Die sowjetische Besatzungsmacht sorgte dafür, dass den Autobahnen des NS-Systems auch in der neuen Ordnung wieder ihre alte Sonderrolle zukam. Bis spätestens 1950 gingen jedoch viele der Bauingenieure, die im „Dritten Reich“ Autobahnen geplant und gebaut hatten, in den Westen und verwirklichten ihr „Lebenswerk Autobahn“ in der Bundesrepublik. Diejenigen, die blieben, versuchten das selbstverständlich auch in der DDR. Wie im Westen so waren auch im Osten die Autobahnen Ausdruck für eine moderne und leistungsfähige – in der DDR sozialistische – Industriegesellschaft.

Im ersten Jahrzehnt der DDR wurde der Ausbau der in den 1930er-Jahren bereits trassierten Strecke von Berlin nach Hamburg zur Aufgabe erster Ordnung. Die Teilung Deutschlands und die damit verbundene Drehung der Verkehrsströme forderten jedoch ihren infrastrukturpolitischen Tribut. Der fehlende Anschluss an die Weltmeere über den Hamburger Hafen wurde durch den Ausbau des Ostseehafens Rostock in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre kompensiert. Das auf den Süden der DDR konzentrierte Autobahnnetz sollte nun mit Rostock verbunden werden. Die Systemkonkurrenz bewirkte, dass der Ausbau des Autobahn- und Fernstraßennetzes der DDR zeitgleich zum ersten Verkehrswegeplan der Bundesrepublik zum Schwerpunkt des DDR-Siebenjahrplanes im Jahre 1959 wurde. Die Bundesrepublik sollte wirtschaftlich auch im Autobahnbau „überholt“ werden. Die zweite Gesellschaftskrise der DDR (1960/61) führte aber dazu, dass die SED-Führung die außerökonomische Notbremse zog und sich einmauerte. Das engte die Handlungsspielräume der Verkehrsplanung drastisch ein. Nach kurzer euphorischer Planungszeit musste festgestellt werden, dass der geplante Ausbau der Autobahnen nicht finanziert werden konnte. Insgesamt schildert Doßmann in den ersten drei Kapiteln kenntnisreich und detailliert, wie und durch wen Argumente des Autobahnbaus aus der Zeit vor 1945 in den Aufbau des Sozialismus transformiert wurden.

Das vierte Kapitel handelt nicht nur von einem deutsch-deutschen Autobahnbrückengeschäft, sondern es fungiert auch im Buch – symbolisch – als „Brückenkapitel“. Doßmann schildert die lange Geschichte des Wiederaufbaus der Hirschberger Grenzbrücke über die Saale auf der Autobahn Berlin-München zwischen 1952 und 1966. Diese Brückengeschichte hat es in sich, da sie vor allem als ein Experimentierfeld für die noch nicht etablierte spätere Entspannungspolitik „der kleinen Schritte“ fungierte. In diesem Kapitel werden die Handlungsspielräume im Kalten Krieg erkennbar: Verhandlungen bei noch offener Grenze und im Schatten der Mauer, der Kampf um die Anerkennung der DDR und die diskreten innerdeutsche Handelsgeschäfte, aber auch der Arbeitsalltag und das Grenzregime werden thematisiert. Am Ende wirft Doßmann „Blicke nach drüben“, so der Titel eines 1967 beim Kindler-Verlag in München erschienenen Buches, und verdeutlicht damit, wie die Hirschberger Brücke in der Bundesrepublik als Sinnbild für die deutsch-deutschen Verhältnisse genutzt wurde.

Im fünften und sechsten Kapitel wird die Zeit von 1961 bis zum Ende der DDR untersucht. Nach dem Mauerbau war aus der rechtzeitigen Vorsorgepolitik im Straßenbau der 1950er-Jahre nach und nach eine Art Krisenmanagement für Staus, baufällige Brücken und schlechte Straßen geworden. Zugleich wartete die SED-Führung in dieser Zeit mit einer neuen Formel auf: „Überholen ohne einzuholen“. Dahinter steckte der Gedanke, den „Westen“ auf neuen bzw. anderen Wegen als den dort üblichen zu überflügeln. Im Verkehrsministerium wurde mit technokratischen Optimierungsmodellen und kybernetischen Regelkreisen versucht, erneut die Vision von einem flächendeckenden Autobahnnetz in der DDR umzusetzen. Die Autobahn als Königsweg für die Zukunft des automobilen Verkehrs blieb auch im Sozialismus zumindest in den Köpfen der Verkehrsingenieure vorherrschend.

Als jedoch von 1969 bis 1971 zwischen Dresden und Leipzig die erste Autobahn der DDR gebaut wurde, lebte der Straßenbau schon deutlich von der Substanz. Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker im Jahre 1971 war mit einem Wechsel zum sozialpolitischen Pragmatismus verbunden. Die umfangreichen Autobahnausbaupläne wurden zugunsten der so genannten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ aufgegeben. Im gedrosselten Tempo kam es zur Vollendung der seit 1958 geplanten Autobahnstrecke Berlin nach Rostock, die dann 1978 dem Verkehr übergeben wurde. Diese Entwicklung bringt Doßmann mit der Formel „Wohnungen statt Autobahnen: Vom gebremsten Leben in der Ära Honecker“ auf den Punkt. Zugleich führte der permanente Devisenmangel zur umfassenden Kommerzialisierung der deutsch-deutschen Beziehungen. Die DDR baute die Transitautobahnen für den „bundesdeutschen Wohlstandsverkehr“ aus und verstärkte zudem die Überwachung des Transitverkehrs, der mit seinen glänzenden und schnellen Westautos mitten durch die DDR für die Menschen jenseits der Transitwege zum Objekt neidischen Bestaunens wurde. Die Transitautobahnen „glichen Fließbändern der westlichen Warenwelt“.

In seinem Schlusskapitel befasst sich Doßmann mit den Entwicklungen bis zur Gegenwart. Das Fazit ist einleuchtend: In der Gegenwart ist es der Verkehr selbst, der die Mobilität begrenzt und im Namen der demokratischen Freiheiten neue Autobahnen fordert. Am Ende provoziert er mit der Frage, ob sich in den 1990er-Jahren auf den Autobahnen das „unterdrückte Gewaltpotential der Revolution“ entlud? Mit dieser Frage weist er zugleich auf ein neues Themenfeld: Unfälle als Teil einer politischen Kulturgeschichte. „Auto“-Suggestionen über grenzenlose Freiheit und die Erfahrungen von begrenzter Mobilität auf den Autobahnen der DDR sind für eine solche Thematik eine wichtige Voraussetzung.

Dem Autor ist es ohne Zweifel gelungen, eine aufschlussreiche, interessante und gut geschriebene Darstellung einer Infrastruktur vorzulegen. Seine Geschichte liegt zudem erfreulich quer zu den politischen Verwerfungen und Brüchen im 20. Jahrhundert. Doßmann zeigt am Beispiel der Verkehrspolitik im Hinblick auf die Autobahnen die Verschiebung von Erwartungshorizonten und die gesellschaftlichen Veränderungen in den beiden deutschen Staaten. Hierfür schaut er inhaltlich über die Systemgrenzen hinaus und bleibt methodisch gekonnt variabel. Neben dem Blick auf die große Politik fragt er immer wieder nach den biografischen Erfahrungen und Erwartungen der Akteure und kann so zeigen, dass Verhaltensmuster und Symbolwelten oft vor 1945 entstanden sind und nach 1945 tradiert wurden. Dadurch ist er in der Lage, lebendig und zugleich analytisch über die konfliktreichen Aufbaujahre, über „Auto-Suggestionen“, über reale Verkehrsentwicklungen und Sehnsüchte nach planbarer Mobilität und freier Fahrt zu erzählen. Eine empfehlenswerte und fundierte Lektüre, die viel mehr ist als „nur“ eine Geschichte der Autobahnen im Osten.

Angemerkt sollte noch werden, dass es inzwischen auch einen Film zum Buch gibt: Zum 15. Jahrestag des Mauerfalls setzte der Dokumentarfilmemacher Gerd Kroske mit „Autobahn Ost“ das Buch filmisch um. Die Idee zum Film hatte Axel Doßmann, der nicht nur als Fachberater an der Produktion beteiligt war.

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