P. Bernhard: Zivildienst zwischen Reform und Revolte

Cover
Titel
Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982


Autor(en)
Bernhard, Patrick
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 64
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 462 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Widera, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 als eines der wichtigen Grundrechte das Recht zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe verankert – niemand darf gegen sein Gewissen dazu gezwungen werden. Diese Festschreibung, vom Parlamentarischen Rat zuvor kontrovers diskutiert, war Resultat der jüngsten Vergangenheit. Die Spuren der Verwüstung des Krieges waren noch allgegenwärtig; Millionen Menschen betrauerten Angehörige; Tausende deutsche Wehrpflichtige hatte die nationalsozialistische Militärjustiz wegen ihrer verweigerten Teilnahme am Krieg und an Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit lehnte die übergroße Mehrheit der deutschen Bevölkerung eine Aufstellung von Streitkräften überhaupt ab, und der 1950 wegen der Remilitarisierung einsetzende Konflikt drohte die soeben erst gegründete Bundesrepublik zu spalten. Die Wehrpflicht schließlich kollidierte mit Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes: Grundrechte hatte die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht verbindlich zu achten. Mit der lapidaren Festlegung, alles Nähere habe ein Bundesgesetz zu regeln, kamen auf den Gesetzgeber nicht absehbare juristische Probleme zu.

Patrick Bernhards Buch „Zivildienst zwischen Reform und Revolte“ ist die überarbeitete Fassung seiner Dissertation über eine „bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982“. Der zeitliche Rahmen ergibt sich aus der Zielsetzung der Studie. Denn abgesehen von dem Konsens, der Staat müsse jenen Menschen Schutz gewähren, die an Kriegen nicht teilnehmen wollten, bestand zunächst weder Einigkeit noch eine konkrete Vorstellung darüber, wie ein Ersatzdienst beschaffen sein könnte, den die Verweigerer statt des Wehrdienstes ableisten sollten. 1960 verabschiedete der Bundestag schließlich nach langjährigen Vorarbeiten das „Gesetz über den zivilen Ersatzdienst“. Ursprünglich lagen der Intention zur Ausgestaltung des Zivildienstes die Anträge von jährlich wenigen tausend Personen zu Grunde. Seit 1968 aber war ein drastischer Anstieg der Verweigererzahlen zu verzeichnen, wodurch der Reformbedarf augenfällig wurde und der Druck auf staatliche Institutionen erheblich zunahm. Kritik zog besonders das komplizierte Anerkennungsverfahren auf sich: Jeder Antragsteller musste sich einer eingehenden Gewissensprüfung unterziehen. Das Prüfungsverfahren mit teilweise inquisitorischen Zügen war speziell für die davon betroffenen jungen Menschen inakzeptabel und unvereinbar mit ihren Vorstellungen einer modernen und offenen Gesellschaft. Bernhard konzentriert sich mithin auf den Protest gegen das Gesetz und den innergesellschaftlichen Diskussionsprozess zwischen 1961 und 1982, der zu Reformen und 1984 zur Abschaffung des Prüfungsverfahrens führte. Er untersucht das komplizierte innere Gefüge von Phänomenen des Wandels, fragt nach staatlichen Reaktionen auf die revoltierenden Zivildienstleistenden und nach dem Einfluss der Studentenbewegung auf die sozialliberalen Reformbemühungen. Waren veränderte Einstellungen und Haltungen, die in den folgenden Jahren deutlich hervortraten, tatsächlich erst das Ergebnis der Protestbewegung, die mit dem Jahr 1968 verbunden wird?

Bernhard unterteilt seine Arbeit chronologisch in sechs Hauptabschnitte, wobei die weitere Untergliederung in zahlreiche Unterkapitel zunächst verwirrend wirkt, aber während des Lesens plausibel wird und der Orientierung dient. Schwerpunkte bilden der Abschnitt III zu Revolte und Wandel 1968-1973 sowie die Reformgesetzgebung der Jahre 1970-1978 in Abschnitt V. Zu Beginn war der Zivildienst weit weniger liberal als heute. Die grundsätzlich restriktiven Bedingungen für die Zivildienstleistenden fanden ihren sinnfälligsten Ausdruck in der häufig kasernierten Unterbringung und einer strengen Reglementierung des Dienstes. Doch nicht allein gegen die Umstände des Einsatzes artikulierte sich Unmut; er richtete sich auch gegen die prinzipiellen Einsatzziele. Zu offenkundig waren die Bestrebungen verschiedener Akteure in Staat und Parteien, mittels Zivildienst junge Menschen zu disziplinieren – wie etwa die zunächst unnachgiebige Anwendung der Gesetze auf die Zeugen Jehovas demonstriert, die jede Form staatlicher Dienstverpflichtung ablehnen. Dies ging einher mit Bemühungen zur Verschärfung der Rahmenbedingungen und Verwendung Zivildienstleistender zu wenig attraktiven Arbeiten, in denen diese häufig keinen Sinn erblickten, wenn sie etwa in großem Umfang zu reinen Handlangertätigkeiten eingesetzt wurden. Überdies zeigten sich die verantwortlichen Behörden außerstande, ausreichend Arbeitsplätze und Unterkünfte bereitzustellen.

Kirchliche Stimmen hatten die Missstände frühzeitig kritisiert, die Gewissensprüfung äußerst skeptisch beurteilt und vielfach Korrekturen vorgeschlagen. Doch in der breiteren Öffentlichkeit fand das Thema anfangs wenig Interesse. Das änderte sich um das Jahr 1968. Mehr als zuvor leisteten Studenten und Abiturienten Zivildienst, und neben die bislang dominierenden religiösen Einstellungen traten politische Motive. (Diese allein werden allerdings nicht anerkannt und müssen als Gewissensgründe deklariert werden.) Die linke Studentenbewegung entdeckte im Zivildienst eine „staatliche Einrichtung als probates Agitationsfeld“ (S. 115), dessen Bedeutung zudem quantitativ wuchs. Obwohl radikale Kräfte den Zivildienst nicht wie beabsichtigt instrumentalisieren konnten, interessierte sich die Presse verstärkt für diese Institution und ihre Probleme. Unangemessene behördliche Reaktionen auf die inszenierte Unbotmäßigkeit von Gruppierungen, die damit ihr Ziel erreichten, die ihrer Ansicht nach repressive Staatsgewalt „vorzuführen“, ließen die anfänglich geringe Sympathie für Kriegsdienstverweigerer in der Bevölkerung steigen. Öffentlichkeitswirksame Aktionen und auch Streiks der Zivildienstleistenden bewirkten, dass sich nun nicht nur die vorgesetzten Dienststellen mit den Konflikten befassten, sondern dass eine immer breiter werdende Diskussion einsetzte. Dadurch entstand jenseits ideologischer Barrieren eine Reformkoalition aus Kirchen, Interessenverbänden der Kriegsdienstverweigerer, Gewerkschaften und Parteien.

Bernhards Studie zum Zivildienst ist ein Lehrstück über Konsensfindung im Umgang mit Minderheiten und die Aushandlung von Lösungsmöglichkeiten bei Interessengegensätzen in pluralistischen Gesellschaften. Die von einer Mehrheit der Bevölkerung damals oft als langhaarige und bärtige „Drückeberger“ stigmatisierten Zivildienstleistenden führten in der Bundesrepublik auch nach 1970 ein gering geachtetes Randgruppen-Dasein. Konservative Kreise erblickten in ihnen ein Sicherheitsrisiko, und – heute unvorstellbar – Ministerialbeamte hatten insgeheim Pläne zu ihrer Kasernierung in Arbeitsbataillonen erarbeitet. Von der Realisierung eines sozialen Friedensdienstes, einer alten kirchlichen Forderung, war man weit entfernt. Das anachronistische Prüfungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer, um das einflussreiche gesellschaftliche Gruppen jahrelang rangen, versuchte die sozialliberale Bundesregierung 1977 gegen den Willen der Opposition abzuschaffen – und scheiterte damit vor dem Bundesverfassungsgericht. Wenige Jahre später ersetzte die neue konservative Koalition selbst das restriktive Prüfungs- durch ein einfaches Feststellungsverfahren. Dessen ungeachtet blieb die Schieflage erhalten, dass Kriegsdienstverweigerer einen Antrag stellen und ihre Haltung schriftlich rechtfertigen müssen. Inzwischen war Kriegsdienstverweigerung kaum noch ein Instrument des Protests, und die Zivildienstleistenden rückten unaufhaltsam in die Mitte der Gesellschaft und in Funktionen im Sozialbereich vor, aus dem sie mittlerweile nicht mehr wegzudenken sind. Ein geradezu revolutionärer Wertewandel der zurückliegenden Jahrzehnte hat – Ironie der Geschichte – zu einer Situation geführt, in der die quantitative und qualitative Bedeutung von Kriegsdienstverweigerung Überlegungen zur Aufhebung der Wehrpflicht blockiert.

Die flüssig geschriebene Abhandlung informiert eingehend über die soziokulturellen Wandlungsprozesse, die den Charakter der Bundesrepublik entscheidend ausformten und prägten. Bernhard hat ungedrucktes Archivmaterial und Fachliteratur umfassend ausgewertet und Gespräche mit Personen geführt, die das Geschehen an maßgeblicher Stelle beeinflussten. Die ausschließliche Fokussierung der Forschungsperspektive auf die Bundesrepublik dient der analytischen Klarheit; mögliche Rückwirkungen durch Entwicklungen in der DDR bleiben allerdings ausgeblendet. Gerade weil Kräfte der Außerparlamentarischen Opposition an einer Radikalisierung des Zivildienstes so großes Interesse zeigten, liegt die Frage nach deren möglicher Unterwanderung durch östliche Geheimdienste nahe. Diese kritische Anmerkung ist aber ebenso marginal wie die, dass eine begriffliche Differenzierung zwischen Kriegs- und Wehrdienstverweigerern unterlassen wurde, wobei Wehrdienstverweigerung im Sinne einer Totalverweigerung durch das Grundgesetz nicht gedeckt ist. Patrick Bernhard analysiert präzise das historische Geschehen und belegt überzeugend seine These, dass „der ab Mitte der 60er Jahre einsetzende Wertewandel unter einer damals kleinen gesellschaftlichen Minderheit, den Kriegsdienstverweigerern, langfristig enorme Rückwirkungen [...] auf Kernbereiche des bundesrepublikanischen Staatswesens“ hatte (S. 391).

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