R. Lentin (Hg.): Re-presenting the Shoah for the Twenty-First Century

Cover
Titel
Re-presenting the Shoah for the Twenty-First Century.


Herausgeber
Lentin, Ronit
Erschienen
Oxford 2004: Berghahn Books
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
$75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabella Matauschek, Zentrum für soziale und interkulturelle Kompetenz, Johannes-Kepler-Universität Linz

Die Frage nach der „Repräsentation des Holocaust für das 21. Jahrhundert“ stand am Beginn einer im Jahr 2001 am Trinity College in Dublin veranstalteten Konferenz. Der von der irisch-israelischen Soziologin Ronit Lentin herausgegebene Band versammelt unter demselben Titel dreizehn überaus heterogene Beiträge. In ihrer Einleitung geht Lentin vom Befund Giorgio Agambens aus, dass trotz aller Fortschritte im Wissen über den Holocaust von Verständnis noch lange keine Rede sein könne. Von der (Un-)Möglichkeit des Verstehens spannt sie den Bogen zu Formen der generationellen Tradierung und Aneignung des Holocaust bis zum politischen Einsatz des „Auschwitz-Codes“ heute. Gegenüber der Tendenz, die Erinnerung durch metaphorisches Sprechen zu verschleiern oder auszulöschen, plädiert Lentin nachdrücklich für eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Holocaust.

Eindringlich geht Zygmunt Bauman der Frage nach einer möglichen Lehre aus dem Holocaust nach: Auf dem schmalen Grat zwischen Sakralisierung und Banalisierung des Holocaust balancierend, könne die Vergangenheit zur Lehre für die Gegenwart werden und zu Entwürfen für die Zukunft führen. Die Lehre aus dem Holocaust liegt für Bauman darin – wie er bereits vielerorts dargestellt hat –, das Potenzial für Genozide in unserer modernen Lebensform zu erkennen, im Zustand der „flüchtigen Moderne“. Sein emphatischer Aufruf zieht aus dem Holocaust damit eine universalistische, gegen die Mechanismen der Exklusion gerichtete Lehre.

Janina Baumans Beitrag, der vielleicht interessanteste des Sammelbands, beschäftigt sich mit der Lektüre ihrer Autobiografie „Winter in the Morning. A young girl’s live in the Warsaw Ghetto and beyond 1939-1945“ durch englische Jugendliche. 14-jährige SchülerInnen aus Yorkshire lasen im Rahmen des Literaturunterrichts ihr Buch und interpretierten es; die Schriftstellerin und Übersetzerin Bauman wiederum analysiert die Arbeiten und Zugänge der Jugendlichen zu ihrem Buch sowie zum Thema Holocaust generell. Die Auseinandersetzung der Autorin mit ihren jugendlichen Rezipienten und Baumans Reflexionen zu diesem Prozess ergeben eine reizvolle Lektüre.

Mit der Rolle des Holocaust für die Bildung gegenwärtiger Identitäten in Deutschland, Polen und Israel beschäftigen sich die Beiträge der deutschen Literaturwissenschaftlerin Christine Achinger, der polnischen Anthropologin Annamaria Orla-Bukowska sowie in sehr persönlicher Form der Aufsatz der in den Vereinigten Staaten lehrenden Judaistin Esther Fuchs. Den Zugang der zweiten Generation zum Holocaust thematisiert neben Fuchs auch die Herausgeberin Lentin in ihrem Beitrag. Ausgehend von der Bedeutung des „Auschwitz-Codes“ für Identitätskonstruktionen in Israel fragt sie, welche Rolle den abweichenden Narrativen von Töchtern Holocaust-Überlebender zukomme. Lentin unterstreicht dabei die Notwendigkeit einer Analyse aus Gender-Perspektive. Die Erzählerinnen vertreten Deutungen, die Lentin im Gegensatz zum heroisch-maskulinen Narrativ des Zionismus sieht.

Ebenfalls mit Israel beschäftigt sich der Aufsatz der israelischen Historikerin Dalia Ofer. Zum Ereigniskomplex der Deportation von Flüchtlingen aus Mitteleuropa nach Mauritius durch die britische Verwaltung in Palästina vergleicht Ofer historische und literarische Darstellungen. Sie argumentiert für das Nebeneinander von historischen und literarischen Repräsentationen, die erst gemeinsam ein tieferes Verständnis der Ereignisse ermöglichten. Die israelische Psychologin Ruth Linn geht in ihrem Beitrag der Frage nach, warum in Israel heute kaum jemand weiß, dass fünf Männern die Flucht aus Auschwitz gelungen ist. Niemand kennt die Namen dieser Männer, die versucht hatten, die jüdischen Gemeinden in der Slowakei und in Ungarn zu warnen. Linn, die sich vehement für die Übersetzung der Autobiografien und Dokumente einsetzte, macht komplexe Gründe in der israelischen Gesellschaft dafür verantwortlich. Dazu gehört nach ihrer Sicht auch die Vermeidung einer schmerzhaften Auseinandersetzung mit der Rolle der Judenräte und deren Weigerung, Informationen an die Mitglieder ihrer Gemeinden weiterzugeben.

Mit dem changierenden Feld der Leugnung des Holocaust in Ostmitteleuropa setzt sich der Journalist und Politikwissenschafter Michael Shafir auseinander. Neben der selten vorkommenden offenen Holocaustleugnung identifiziert Shafir weitere Mechanismen: Dabei wird der Holocaust nicht prinzipiell geleugnet, als Täter werden jedoch ausschließlich andere ausgemacht; die Teilnahme von Landsleuten an den Verbrechen wird minimalisiert, indem dies als unbedeutende Abweichung dargestellt wird – Schuld wird auf die Nazis, zahlenmäßig kleine Randgruppen innerhalb der Gesellschaft oder die Juden selbst geschoben. Oder es wird behauptet, im eigenen Land habe der Holocaust nicht stattgefunden. Daneben diskutiert Shafir die Strategie, den Holocaust durch Vergleich mit den sowjetischen Gulags zu trivialisieren: Den Juden wird hierbei eine besondere Schuld zugewiesen, da ihnen eine Nähe zu den kommunistischen Führungen der Länder nachgesagt wird. So werden Juden auch in dieser Konstruktion von Opfern zu Tätern.

Die Medienwissenschaftlerin Yosefa Loshitzky setzt sich in ihrem Beitrag mit dem Genre der Holocaust-Komödie auseinander. Eine Repräsentation im Genre der Komödie, zunächst einmal ein Tabubruch, habe zum Ergebnis, dass der Rahmen der Darstellung erweitert und damit das künstlerische Spektrum der Darstellung größer werde (S. 132). Loshitzky identifiziert einen Minikanon von drei Filmen, die für die Darstellung des Holocaust im westlichen Kino des 20. Jahrhunderts stehen: Neben Claude Lanzmanns „Shoah“ (1985) und Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) stellt sie die Komödie „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni (1997). Während Spielberg den Tabubruch beging, das Unvorstellbare nachzustellen, verankerte Benigni den Holocaust in einer phantasmagorischen Welt, die sowohl Alpträume als auch Utopien umfasst. Konventionelle Filmgenres müssten überwunden werden, um zu einer adäquateren Repräsentation des Holocaust zu kommen – diese Sicht des wohl radikalsten Kritikers der Holocaustkomödie, des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, hat indes noch keinen Niederschlag auf der Leinwand gefunden.1

Die in den Niederlanden lehrende amerikanische Historikerin Andrea Tyndall vergleicht die Repräsentation des Holocaust in Yad Vashem, dem United States Holocaust Memorial Museum und dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam – ein Vergleich, der in ähnlicher Form schon häufiger unternommen wurde. Im Spannungsfeld der nationalen und der universellen Deutungen bevorzugt Tyndall den universalistischen Ansatz der Anne-Frank-Stiftung, die besonderes Augenmerk auf die Vermittlung von Werten wie Toleranz legt. In einem nächsten Schritt diskutiert sie die Versuche auf der Ebene der Europäischen Union, den Holocaust als gemeinsame europäische Geschichte zu etablieren. Inhaltlich lose zusammengehalten diskutiert Tyndall danach die Zunahme von Verschwörungstheorien (im Sinne einer jüdischen Weltverschwörung) nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sowie die Möglichkeit einer zeitgemäßen Vermittlung von Wissen über den Holocaust in diesem Kontext. Wie eine solche Vermittlung aussehen könnte und wie Menschen erreicht werden könnten, die an eine jüdische Weltverschwörung glauben, lässt sie hingegen offen.

Die Anthropologin Heidrun Friese und der britische Politikwissenschafter Philip Spencer diskutieren den Beitrag der Frankfurter Schule für ein Verständnis des Holocaust. Während Friese weite Traditionen in der deutschsprachigen Philosophie und Literatur konsultiert, beschäftigt sich Spencer explizit mit dem marxistischen Gedankengut: Er betont, dass die intellektuelle Tradition des Marxismus auch für das 21. Jahrhundert einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Holocaust zu leisten imstande sei.

Insgesamt ist der Band durch wenig Kohärenz gekennzeichnet. Diesen Umstand kann auch Lentins interessante Einleitung nicht überbrücken. Die Vielzahl an Ansätzen und Herangehensweisen ermöglicht jedoch eine spannende Lektüre, die, eklektisch genossen, anregende Perspektiven auf das Thema eröffnet.

Anmerkung:
1 Žižek, Slavoj, Camp Comedy, in: Sight & Sound, April 2000, S. 26-29, online unter URL: http://www.bfi.org.uk/sightandsound/feature/17.

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