S. McCaffray u.a. (Hgg.): Russia in the European Context, 1789-1914

Titel
Russia in the European Context, 1789-1914. A Member of the Family


Herausgeber
McCaffray, Susan; Melancon, Michael
Erschienen
Basingstoke 2005: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 62,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In ihrem Buch über die Situation Russlands in einem europäischen Rahmen versammeln die Herausgeber Susan McCaffray und Michael Melancon Artikel, die sich überwiegend mit Fragen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte beschäftigen und dabei eine gute Portion kulturhistorischer Perspektivierung verinnerlicht haben. Die Texte sind in Inhalt und Ansatz mehr oder weniger aktuell und originell und stellen – mehr oder weniger explizit – eine europäisch-vergleichende Betrachtung des späten imperialen Russlands in den Mittelpunkt.

Die Absicht der Herausgeber, die historische Besonderheit Russlands zu hinterfragen, bedarf einer genaueren Diskussion. Ihre Einleitung beginnen McCaffray und Melancon mit dem Hinweis auf die Konstruiertheit der geografischen verorteten Einheiten West- und Osteuropas. Die wichtigsten Grundlagen dieser Konstruktion erkennen die Autoren in den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Zeit nach 1945; die vorhergehenden Jahrhunderte haben McCaffray und Melancon zufolge keine geografische Festschreibung eines „guten“ und eines „schlechten“ Europas gekannt. Die Vorstellung von einem sehr offenen, kategorienfreien 18. Jahrhundert mag in mancher Hinsicht zutreffend sein, und sicher kann man die These Larry Wolffs von der „Erfindung Osteuropas“ in der Zeit der Aufklärung anzweifeln. Sie vollkommen zu ignorieren und die Konstruktion Osteuropas kommentarlos in die Zeit des Kalten Krieges zu verlegen erscheint allerdings problematisch.1 Gleichzeitig rennen die Autoren einige offene Türen ein, sind sie doch keineswegs die ersten, die sich um eine Problematisierung des überkommenen Dualismus West-Ost bzw. Europa-Russland bemühen.

Vor allem aber geht ihr Konzept nicht auf. Zunächst ist die Auswahl der Texte für die Absicht der Herausgeber eher unglücklich ausgefallen. Insbesondere der erste Artikel, in dem Lee Farrow Eigentumsrechte im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts beschreibt, ist stark in der klassischen Rückständigkeitsperspektive gehalten. Doch auch in einigen anderen Kapiteln, die nicht so deutlich traditionellen Wahrnehmungen entsprechen, wird das Rückständigkeitsmodell als bestimmendes Paradigma deutlich. Formulierungen wie „Russia lagged behind some, but not all, Western European countries“ (Daly, S. 160) und die Vorstellung von einer Entwicklung, die „not yet“ der westlichen entsprach, zeigen, wie stark Geschichte in vielen dieser Artikel bewertet und am Konzept des historischen Fortschritts gemessen wird.

Die Forderung des Einleitungsartikels „despite its tremendous utility, it may be time to abandon the great interpretive tool of `backwardness´” wird also nicht erfüllt. In erster Linie aber stellt sich hier natürlich die Frage, ob diese Forderung selbst in der hier formulierten Art sinnvoll ist. Bereits die Feststellung, das Rückständigkeitsparadigma sei von enormem Nutzen, solle aber dennoch aufgegeben werden, macht stutzig. Nicht nur erscheint es zweifelhaft, ein „nützliches“ wissenschaftliches Instrument aus Gründen politischer und ethischer Präferenzen aufzugeben. Vor allem haben zahllose Studien der letzten Jahre gezeigt, wie viel weiter historische Untersuchungen in ihrer Erkenntnis gelangen können, wenn sie sich nicht von einem Rückständigkeits-/Fortschritts-Maßstab leiten lassen oder zumindest dessen Ambivalenz demonstrieren.

Aus den verschiedenen Beiträgen sticht Esther Kingston-Manns Artikel über die Statistiker und Sozialwissenschaftler des vorrevolutionären Russland in seiner Komplexität hervor: die Arbeit der Statistiker wird, komparatistisch angelegt und an Fragen des Kulturtransfers orientiert, in verschiedene Debatten und Strukturen der Zeit eingeordnet, und Kingston-Manns Studie geht damit deutlich über die vielen allzu foucaultistischen Darstellungen von Wissenschaftsentwicklungen des 19. Jahrhunderts hinaus. Die Autorin zeigt, wie russische Statistiker eine führende Rolle im globalen Prozess der Verwissenschaftlichung von Bevölkerungsanalyse übernahmen und so das ambivalente Erbe der Aufklärung übernahmen. Andere Autoren fassen hauptsächlich ihre Thesen aus umfangreicheren Werken zusammen, und so legitim und aus der Sicht des Lehrenden auch wünschenswert dies sein mag, so erscheint doch eine ausführliche Erörterung im Rahmen einer Rezension nicht unbedingt angebracht.

Susan McCaffray und Michael Melancon haben ein Buch herausgegeben, das sehr stark moralisch motiviert und von möglicherweise lobenswerter political correctness ist, dabei aber deutlich hinter den aktuellen Stand der Forschung zurückfällt. Allein der Titel des Buches „A Member of the Family“ zeigt, wie wenig das westliche Ideal hier problematisiert wird; vielmehr geht es den Autoren und insbesondere den Herausgebern darum, Russland als Teil eines idealisierten Europas erscheinen zu lassen. Der im Aufsatz von Susanna Rabow-Edling vereinfacht vorgeführte Samuel Huntington kann so kaum widerlegt werden. Vielmehr wird ein Clash of Civilizations noch deutlicher und radikaler, wenn die Grenzen Europas durch eine Einbeziehung Russlands – und die entsprechende, wenn auch implizite Ausgrenzung Außereuropas – gefestigt werden.

Auf paradoxe Weise werden so Konzepte wie Öffentlichkeit, Humanität und Effektivität zu europäischen Merkmalen bestimmt – das Paradigma wird nicht problematisiert, sondern erfährt eine deutliche Stärkung; die Grenzen werden nicht eingerissen, sondern nur verschoben. Jubelformeln für Europa wie „Einheit in der Vielfalt“ werden hier in Wissenschaftssprache übersetzt, und die daraus hervorgehende, eher nichts sagende These „The Russia that emerges from this effort is wholly European“ (S. 6) bringt nur geringen Erkenntnisfortschritt, ebenso wie die vorauseilende Feststellung eines „Russia´s long nineteenth century (marked by the universal European hallmarks of 1789 and 1914)“ (S. 3) kaum als Differenzierung vereinfachender und eurozentrischer Periodisierungsstrategien gelesen werden kann.

Die politische Korrektheit macht die daraus hervorgehende Wissenschaft kaum interessanter. Dies wird besonders deutlich in dem Artikel von Boris B. Gorshkov: Während andere Autoren die russischen Verhältnisse in aufschlussreicher Form in einen europäischen Zusammenhang setzen und Ansätze für ertragreiche Vergleiche erarbeiten (McCaffray, Daly, Häfner), beschränkt sich die Studie Gorshkovs vor allem auf die Feststellung, dass die russische Arbeitergesetzgebung sich von den europäischen Maßnahmen nicht unterschied. Was hier zu beobachten ist, ist das Wegargumentieren eines Forschungszweiges, letztlich eines ganzen Faches: Nach der Lektüre des Artikels stellt man sich in erster Linie die Frage, warum man all dies erforschen musste, wenn es doch in anderen Ländern im Prinzip nicht anders war. Gorshkovs Thesen an anderer Stelle sind weiterführend, hier jedoch hinterlässt der Wunsch nach Integration Russlands ein Gefühl der Leere.

Doch muss allein die Absicht, Russland nicht mehr in einem dualistischen und moralisch aufgeladenen Gegensatz zum Westen zu betrachten, nicht zu einer Nivellierung aller Besonderheiten führen. Auch Frankreich und Deutschland sind Mitglieder der viel gerühmten europäischen „Familie“; eine Erforschung der französischen und der deutschen Geschichte blickt dennoch auch auf Eigenarten und Singularitäten.

Die Oberflächlichkeit, die Konzepten von einer „europäischen“ Geschichte häufig innewohnt, wird in Titel und Vorwort des Buches – nicht unbedingt in allen hier zusammengefassten Aufsätzen – deutlich. Idealistische Zukunftspläne vermischen sich mit unhistorischer Nostalgie, die ihr Wunschbild hier vor allem in einem vom 20. Jahrhundert scheinbar vollkommen abgetrennten 19. Jahrhundert findet: „The imagined Europe of nineteenth-century progress, prosperity, and peace remains admirable. That it actually existed, to the extent that it did, is remarkable. That it committed suicide is tragic.” (S. 9) Ebenso wie übertriebene politische Korrektheit hilft auch solch essayistische Poetik der Geschichtswissenschaft leider nicht weiter.

Anmerkung:
1 Die mangelnde Zitierung in McCaffrays und Melancons Buch sei hier nachgeholt: Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994, ebenso Ders., Voltaire’s public and the Idea of Eastern Europe. Toward a Literary Sociology of Continental Division, in: Slavic Review 51 (1995)4, S. 932-942.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension