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Titel
Russkij Berlin. Migranten und Medien in Berlin und London


Autor(en)
Tsypylma, Darieva
Reihe
zeithorizonte: Perspektiven Europäischer Ethnologie 9
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 25,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Christoph Schumann, Institut für gegenwartsbezogene Orientforschung, Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen

Die neuen Kommunikationstechnologien sind ein zentraler Katalysator für Prozesse der Globalisierung. Satellitenfernsehen und Internet eröffnen ganz neue Möglichkeiten, soziale Kontakte über große Distanzen aufrecht zu erhalten und an Ereignissen an verschiedenen Orten auf dem Globus synchron teilzunehmen. Satellitenschüsseln auf dem Dach oder Balkon sind eindrückliches Sinnbild dieses „Fensters zur Welt“. Eine wesentlich ältere Form der medialen Globalisierung ist die so genannte Migrantenpresse. Vor allem in den Vereinigten Staaten erlebte sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine reiche Blüte, die von Robert Park in seiner 1922 erschienen klassischen Studie „The Immigrant Press and its Control“ beschrieben wurde.

In ihrem Buch „Russkij Berlin“ zeigt Tsypylma Darieva anhand von russischen Wochenzeitungen in Berlin und London, dass das Phänomen der Migrantenpresse (ethnic press) durch Internet und Satellitenfernsehen keineswegs obsolet geworden ist. Im Gegenteil, mit dem Fall des so genannten Eisernen Vorhangs und der darauf folgenden neuen Wanderungswelle von Ost nach West, kam es in den 1990er-Jahren zur Entstehung einer Reihe neuer russischer Publikationsorgane in Deutschland und England. Sie stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie, die 2002 als Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht worden ist.

Die Autorin geht im Unterschied zur gängigen Sichtweise nicht davon aus, dass sich das Phänomen der Migrantenpresse lediglich durch den Aufbau von ethnischen Strukturen in der „Fremde“ und durch eine überwiegende thematische Fokussierung auf das Herkunftsland auszeichnet. Stattdessen beschreibt sie die untersuchten Zeitungen als ein „pragmatisches Handlungsfeld und ein neues Netzwerkforum von zugleich lockeren und multiplen Bindungen, die zwischen den Ein- und Auswanderungsländern zur Geltung kommen“ (S. 251). Sie zeigt, dass in den untersuchten russischen Wochenzeitungen nicht die einseitige Orientierung auf die ehemalige Heimat überwiegt, sondern eine „Dreiteilung der medialen Weltkarte“ (S. 252), in der die Berichterstattung über das Herkunftsland, die Aufnahmegesellschaft und die jeweiligen kosmopolitischen Metropolen Berlin und London mit ihren russischsprachigen Bewohnern ausbalanciert werden.

Methodisch gesehen geht es Darieva um eine „Ethnografie der Migrantenmedien“. Ihre empirische Grundlage besteht dabei aus Teilnehmenden Beobachtungen während einer Feldforschung, einer Reihe von Interviews mit Redakteuren und Kulturschaffenden und der Analyse von ausgewählten Zeitungsausgaben. Damit richtet die Autorin ihr Augenmerk hauptsächlich auf die Produktions- und weniger auf die Rezeptionsseite der russischsprachigen Zeitungen. Darieva ordnet ihre Arbeit selbst in die Kategorie „Elitenforschung“ ein (S. 22). Ihre Interviewpartner, so schreibt sie, traten ihr oft eher als „geschäftsorientierte Unternehmer“ (S. 22), denn als Migranten gegenüber. Einige davon versuchten sogar, die Gespräche gleich zur Vermarktung ihrer eigenen Interessen zu nutzen.

Zu Beginn des Buches charakterisiert die Autorin die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion am Beispiel von sechs Portraits der von ihr interviewten Medienmacher. Sie macht dabei insbesondere die Vielfalt der Migrationsbiografien und Lebenssituationen der Betreffenden in Europa deutlich. Trotz des gleichen Herkunftslandes fallen sie in so unterschiedliche Kategorien wie „Spätaussiedler“, „jüdische Kontingentflüchtlinge“, „Wirtschaftsimmigranten“ und „Asylbewerber“. Dementsprechend unterschiedlich ist ihre jeweilige rechtliche Stellung in den Aufnahmeländern, und es differieren ihre Identitätskonstruktionen und Zukunftsentwürfe. Vor allem in Deutschland werden Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion einer stark differenzierenden Integrationspolitik unterworfen. Zur staatlichen Politik kommt der Einfluss der deutschen und englischen Medien hinzu, die die „Russen“ mit einer Reihe zum Teil altbekannter Klischees belegen: Die Zuschreibungen umfassen so unterschiedliche Motive wie die „schwermütige russische Seele“ über die organisierte Kriminalität der russischen Mafia bis hin zu exotischen Vorstellungen von Multikulturalität. Staatliche Politiken und solcherart Mediendiskurse, so betont die Autorin, fließen in der einen oder anderen Weise auch in die Konstruktion eines Konzeptes von „russischer Community“ ein (S. 113).

Die von Darieva untersuchte russische Presse unterscheidet sich in einigen wichtigen Punkten von der türkischen Presse in Deutschland. Bei dieser handelt es sich um Tageszeitungen, die zunächst importiert und später durch spezielle „Europaausgaben“ an die Bedürfnisse der Migranten angepasst wurden. Zwar unterhalten die meisten türkischen Zeitungen Redaktionen in Deutschland und anderen europäischen Ländern, die letztendlichen redaktionellen Entscheidungen werden jedoch meist in Istanbul getroffen. Bei den russischen Publikationen handelt es sich dagegen größtenteils um Wochenzeitungen, die genuin in den Aufnahmeländern entstanden sind. Um ihr ökonomisches Überleben zu sichern, mussten sie sich vor Ort eine möglichst breite Leserschaft sichern. Die Autorin beschreibt in diesem Zusammenhang den Übergang von den spätsowjetischen „Samizdat“-Projekten, die auf idealistischer Kooperation und materieller Entsagung beruhten, hin zu einem journalistischen Unternehmertum (Entrepreneurship), das sich der Ethnizität als einem Mittel zur Absatzsicherung bedient. Die Medienmacher seien in diesem Sinne weniger ethnische Diasporapolitiker aus Überzeugung als vielmehr wirtschaftliche Akteure, die sich geschickt einer bestimmten Marktlücke bedienten. Die Bindung der Leserschaft, funktionierende Distributionssysteme und eine Sicherung von Anzeigenkunden sind dann die wirtschaftlichen Voraussetzungen für das Gelingen der Medienprojekte.

Nach der Verortung der russischen Zeitungen in den Aufnahmegesellschaften und der Darstellung ihrer ökonomischen Praktiken kommt Darieva im letzten Schritt zur inhaltlichen Analyse der Identitätskonstruktionen, die in der Presse angeboten werden. Anhand der Devise der Zeitung Russkij Berlin „Unser Vaterland (otetschestvo) ist die russische Sprache“ greift die Autorin zunächst die beiden Identitätsmarker Vaterland und Sprache heraus. Die mythisch überhöhte Vorstellung vom Vaterland in russischer und sowjetischer Tradition sei einer ent-territorialisierten und ent-emotionalisierten „Gemeinschaftsvorstellung“ im Sinne Benedict Andersons gewichen. In ihr könnten sich auch Migranten wieder finden, die zwar russisch sprächen, aber ethnisch gesehen keine Russen seien, wie zum Beispiel die ehemals sowjetischen Armenier. Die Sprache sei damit nicht nur „Instrument in der Produktion der Zeitung“, sondern werde zum Ausgangspunkt für die Konstruktion einer neuen „imagined world“ (S. 213). Auch für die Zukunft, so prognostiziert die Autorin, werde die Sprache eine wichtige Rolle bei der Stiftung einer gemeinsamen, post-sowjetischen Identität spielen (S. 218). Dies, so muss man hinzufügen, würde allerdings voraussetzen, dass auch die folgenden Generationen dem Assimilationsdruck widerstehen und weiterhin des Russischen mächtig bleiben.

Indem die Autorin die Zeitungen als imagined worlds konzipiert, durchschreitet sie jeweils eine Ausgabe der Russkij Berlin und des Londonskij Kurier wie ein Dorf. Ausgehend vom Zeitungskopf als Ortschild und den Leitmeldungen und Werbeanzeigen als „Orientierungstafeln“ beschreibt sie die verschiedenen Regionen und deren Verknüpfungen. Anders als andere Zeitungen seien die russischen Publikationen nicht nach inhaltlichen Ressorts sondern nach „dem Ordnungsprinzip einer entterritorialisierten (entkoppelten) Gruppe“ gegliedert. Die Aufteilung in drei Zonen, nämlich Deutschland, Russland und dem „Dazwischen“ stelle die zentrale Sinngebung der Migrantenzeitung dar (S. 228). Die russische Presse in Deutschland sei eben nicht, wie die traditionelle Forschung argumentiere, einseitig auf ihre Herkunftsländer orientiert, sondern zeige großes Interesse für die Belange der Aufnahmegesellschaft und der jeweiligen eigenen Community vor Ort. Die Zeitungen fungieren hier auch als ein „Marktplatz“ für kommerzielle Aktivitäten, soziale Verknüpfungen (Heiratsmarkt) und den Austausch von Informationen.

Insgesamt gelingt es der Autorin zu zeigen, dass die russische Presse in Berlin und London nicht etwas Fremdes oder Importiertes ist, sondern ein genuines Produkt der ansässigen Bevölkerung. Die Identitäten und Interessen, die sich in den Publikationen widerspiegeln, sind dementsprechend vielfältig und fluktuierend. Das Buch „Russkij Berlin“ ist deshalb unerlässlich für alle, die sich für russische Migranten in Westeuropa interessieren und gewinnbringend für alle vergleichenden Studien über Medien im Kontext der Globalisierung.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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