R. J. Evans: The Third Reich in Power 1933-1939

Cover
Titel
The Third Reich in Power 1933-1939.


Autor(en)
Evans, Richard J.
Erschienen
London 2005: Penguin Books
Anzahl Seiten
XVII, 941 S.
Preis
£30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Center for German and European Studies, Georgetown University, Washington, D.C.

Richard Evans ist ein bedeutender Historiker, der von den Feministinnen im Kaiserreich und einer Mikrogeschichte der Cholera in Hamburg über grundsätzliche Reflexionen zur Geschichtsschreibung bis hin zur engagierten Prozessbeobachtung über David Irving seit Jahrzehnten Bedeutendes leistet. Kaum jemand ist so qualifiziert wie er, nun eine monumentale Geschichte der NS-Zeit zu schreiben – man denkt allerdings sofort an seinen britischen Landsmann Ian Kershaw, der vor wenigen Jahren zwei monumentale Bände einer Hitlerbiografie vorlegte und dessen Lob hier schon den Schutzumschlag ziert. Drei Bände sind vorgesehen, hier ist der mittlere zu würdigen, der nur anderthalb Jahre nach dem Auftakt heraus kam.1 Er umfasst die so genannten Friedensjahre, bei dessen Lektüre man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es nicht das mittlere Herzstück ist, sondern ein weiterer Vorbereitungsband zum geschichtsmächtigen Zweiten Weltkrieg mit seinem genozidalen Charakter. Das folgt der seit einem guten Jahrzehnt gängigen Forschungslinie, bei der geschichtspolitisch nicht mehr primär vom Scheitern einer Demokratie und der Überwältigung durch die Nazis die Rede ist, sondern von den Menschheitsverbrechen und ihrer Bedeutung im 20. Jahrhundert.

Aber schon der Schutzumschlag hat es in sich: ihn ziert ein Foto führender Nationalsozialisten in Parteikluft, wabernde Dämpfe aus Feuerschalen im Hintergrund. Es handelt sich anscheinend – genau erfährt man das nicht – um einen Aufmarsch zum Gedenken an den Putsch von 1923. Noch auf der Verlagswerbung sah man jedoch ein Bild fröhlich Hakenkreuzfähnchen schwenkender junger Frauen, wohl in Erwartung einer nahenden NS-Größe. Beides kommt natürlich im Band vor, aber es scheint so, dass letzteres das Buch besser charakterisiert hätte: das Funktionieren der Volksgemeinschaft von unten, während die NS-Ritualisierung des öffentlichen Raumes eher dem NS-Düsternis erwartenden Lesepublikum der englischsprachigen Welt geschuldet sein dürfte.

Evans geht in sieben großen Kapiteln mit je drei bis fünf Unterkapiteln systematisch vor, folgt in den Unterkapiteln gelegentlich dem Zeitablauf oder fügt Schlüsselereignisse ein. Es sind dies: The Police State, The Mobilization of the Spirit, Converting the Soul, Prosperity and Plunder, Building the People`s Community, Towards the Racial Utopia und: The Road to War. Der Autor reflektiert die dabei auftretenden Probleme selbst. Die notwendig auftauchenden Dilemmata sektoraler Schneisen sind zumeist vertretbar gelöst, wenn etwa zunächst von der wirtschaftlichen Entrechtung der Juden die Rede ist und später erst die Rassenutopie thematisiert wird. 712 Textseiten und annähernd 200 Seiten Anmerkungen und Literatur nachzuerzählen, ist wenig ergiebig. Evans hat mit stupender Belesenheit zum Teil auch entlegende Literatur erfasst und zitiert sie in den Anmerkungen erhellend. Eigene Archivstudien waren angesichts der jahrzehntelangen Forschung auch nicht unbedingt erforderlich.

Das Buch ist für ein breiteres Publikum geschrieben, zieht daher die Erzählung, den Bericht aus den Quellen, das typische Beispiel gegenüber der Analyse vor. Es ist dem gelegentlich an Methoden-Debatten gelitten habenden Historiker aus der Seele gesprochen, wenn hier, im Hintergrund wohl informiert, einfach mal gesagt wird, dieses und jenes sei nicht richtig, vielmehr müsse man ein Problem eher so sehen. Dem kann man dann fast immer zustimmen. Die Lesefreude ist aber durchweg ungetrübt. Vieles war dem Rezensenten neu und wird unaufgeregt vorgetragen. Deutlich wird die Dynamik des Systems, aber auch wie viel sich in der vergleichsweise kurzen Zeit von sechs Jahren änderte. Das Hauptverdienst Evans sehe ich darin, dass er immer wieder hervorhebt, was denn staatlich, gesellschaftlich geplant und angeordnet wurde – und damit dann kontrastiert, wie viel weniger sich das in der Gesellschaft durchsetzte und zu ganz anderen Mischungen verband. Das gibt eine differenzierte Sicht auf die sich wandelnde Szene, nicht nur eine Alltagsgeschichte, aber eine, die auch die erlebte Realität einbezieht. „Yet again the reality was different from the propaganda”(S. 485), heißt es sinngemäß häufig. Eine terrorisierte, geknebelte, aber doch vielfältige Gesellschaft wird so geradezu pointillistisch erfasst.

Dabei bleibt es nicht aus, dass bestimmte Personen als Kronzeugen immer wieder auftauchen. Luise Solmitz, Melitta Maschmann, Victor Klemperer sind dabei die wichtigsten. Bei NS-Größen wie Hitler ist zum Teil früher stärkere Quellenkritik an Niederschriften geäußert worden, als sie hier vorkommt. Ich finde dieses Kompositionsprinzip sehr geglückt und es wäre Beckmesserei, an dieser oder jener lokalen Illustration, regionalen Schwerpunktbildung zu mäkeln. Evans greift selten etwas nur auf, weil es nett klingt, sondern weil er damit etwas Allgemeineres deutlich machen kann. Immerhin: über die Trinkfestigkeit von Robert Ley sollte man schon etwas erfahren, über die aus trüben Quellen berichteten sexuellen Vorlieben des „Reichstrunkenbolds“ aber doch eher knapper (insgesamt schreibt Evans fast acht Seiten zur Person).

Es ist zu begrüßen, wenn die wichtigsten Personen, ihre Karrieren vorgestellt werden. Dadurch werden sie auch als Handelnde immer greifbar, es wird also Politik gemacht und nicht nur ein kultureller Handlungsraum des Politischen vorgestellt. In diesem Sinne wird so auch Hitlers Handeln Bedeutung zugemessen: Wenn er wollte, konnte er also diesen oder jenen Kurs durchsetzen, seinen Satrapen war prinzipiell gleiche Möglichkeit gegeben. Der NS-Ideologie schenkt Evans angemessene Beachtung, kommt aber zu der Einsicht, diese selbst sei „too meager, too crude, too self-contradictory and in the end too irrational“ gewesen (S. 304), um etwa die Schule und Universität wirklich bestimmen zu können.

Bei der Frage nach der Modernisierung werden diese Ambivalenzen überzeugend benannt. Das Dritte Reich habe dazu tendiert, etwa in den Schulen und Universitäten Körperertüchtigung und Militarisierung in den Vordergrund zu rücken, dann aber doch die modernste Technologien entwickelt, wenn sie irgend etwas mit der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung zu tun gehabt habe (S. 311). Diese Mischung aus Archaischem und dynamischer Effizienz wird auch sonst immer wieder deutlich.

Einen in anderen Darstellungen nicht so ausgeprägten Schwerpunkt setzt Evans auf Religion, Kultur, Erziehung. Gerade was man über alle Künste erfährt, die Grenzen und Möglichkeiten deutscher Kunst, aber auch deutscher Physik und die Schwierigkeiten mit deutscher Musik ist klug exemplarisch entfaltet. Aber ebenso schenkt er den herkömmlichen Teilen des Freizeitangebots und der Hochkultur Beachtung; der Leser kann sich besser vorstellen, wie man in den ersten Jahren der NS-Zeit lebte und dachte.

Aus seinem Duktus fällt Evans nur einmal heraus, als er sich (S. 605-610) der These von der Verfolgung der Juden als einer Regression in die Barbarei stellt. „This is fundamentally to misunderstand its dynamics“ (S. 605). Sodann vergleicht er knapp und erhellend mit dem sonstigen Antisemitismus in Mittelosteuropa, zumal in Polen, Ungarn und Rumänien und befindet den deutschen Fall doch wegen seiner Systematik des Vorgehens als singulär – das deutet auf den dritten Band hin.

Aber nur hier geht der Autor im Blick deutlich über die Landesgrenzen hinweg. Gerade das letzte Kapitel über die Außenpolitik leistet das nur wenig. Gewiss, von der Einleitung an hebt Evans immer wieder hervor, welche zentrale Rolle Kriegsvorbereitung und -mobilisierung für das NS-Regime bildeten, jedoch die einschlägigen hundert Seiten zur Außenpolitik sind ein wenig problematisch an das Ende gestellt. Und sie beginnen dann erst einmal ganz anders: Es gibt drei Seiten über Hitlers bohèmehaften Lebensstil. Die Außenbeziehungen (die zuvor schon als Außenwirtschaft präsentiert wurden) werden ganz überwiegend aus der Perspektive Berlins präsentiert, die Ämtervielfalt findet anschaulich ihren Platz – aber wichtiger als von Ribbentrops Aufstieg wären da vielleicht doch konkrete Fragen von Politik und Strategien, Meinungen, Weltbildern und Interessen gewesen. Insbesondere fehlt ganz überwiegend die Interaktion, die ja auch strukturell im Austausch mit anderen Ländern behandelt werden kann. Gewiss, Chamberlain 1938 und Stalin 1939 sind im Fokus, aber sonst fehlt dieses Element weitgehend. Außenpolitik heißt über weite Strecken, deutsche Expansion bzw. Penetration anderer Gebiete im Konflikt mit anderen Staaten dazulegen, so etwa im Saargebiet, bei der Rheinlandbesetzung, in Österreich. Darin lässt sich eine Verkürzung erkennen, mit der nicht eine traditionelle Diplomatiegeschichte angesprochen ist. Sondern die als zentral erkannte Thematik nach Krieg und Kriegsvorbereitung hätte kompositorisch eine andere Einbettung vertragen. In geringerem Maße gilt das auch für die innere Mobilisierung der Mentalitäten und der Produktion, des Militärpersonals und des Materials in anderen Kapiteln.

Ansonsten: die Ausstattung ist ausgezeichnet, viele Kartenschaubilder liefern Anschauungen zu diversen Sachverhalten. Es ist ein Buch des Lesevergnügens zu einem ganz und gar unvergnüglichen Thema – das ist als Lob gemeint. Auch der weniger vorgebildete Leser wird an die Hand genommen und etwa mit solchen Zügen wie der ausufernden Korruption des Führungspersonals bekannt gemacht. Erhellende Witze können auch heute noch Aha-Effekte der kritischen Art auslösen. Ganz neu ist das alles nicht, wohl aber gediegen gearbeitet und lesbar formuliert. Das Schwere leicht zu machen, das ist schon gekonnt. NS-System für Anfänger: aber mit einem dicken wissenschaftliche Apparat. Die Übersetzung ist für Herbst 2006 benannt. Empfehlenswert.

Anmerkung:
1 Evans, Richard, The Coming of the Third Reich, London 2004; Das Dritte Reich, Bd. 1: Aufstieg, München 2005.

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