C. Opitz (Hg.), Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess

Cover
Titel
Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias' Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive


Herausgeber
Opitz, Claudia
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Hirschbiegel, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel

2003 erschien bei Suhrkamp Norbert Elias’ „Höfische Gesellschaft“ in der 10. Auflage. Schon 2002 ist dieser Klassiker der Kulturwissenschaften – und bei der „Höfischen Gesellschaft“ wie auch beim „Prozess der Zivilisation“ handelt es sich zweifelsohne um Klassiker – im selben Verlag im Auftrag der Norbert Elias Stichting, Amsterdam, als zweiter Band der Reihe „Norbert Elias, Gesammelte Schriften“ publiziert worden. Bearbeiterin dieses Bandes war Claudia Opitz und die Herausgeberin des hier vorzustellenden Werkes nennt in ihrer Einleitung ebenjene Neuausgabe der „Höfischen Gesellschaft“ ausdrücklich als Anlass für die vorliegende Publikation (S. 7), die auf eine 2003 in Stuttgart gemeinsam mit Dieter R. Bauer durchgeführte Tagung zurückgeht. Bekanntlich hatte Norbert Elias genau 70 Jahre zuvor in Frankfurt die „Höfischen Gesellschaft“ als Habilitationsschrift vorgelegt.1 Neben Neuauflage und Jahrestag gibt es für Tagung und Publikation freilich auch inhaltliche Begründungen, sich mit Elias auseinanderzusetzen, die sich nicht in einem rein wissenschaftshistorischen Interesse erschöpfen: „Es geht […] nicht darum, ein großes Werk zu feiern und dann […] zu verabschieden, sondern vielmehr, die Potentiale […] für die künftige Forschung zu erschließen und […] kritische Positionen aus heutiger Sicht zu formulieren“ (S. 8). So sei Elias’ Studie zwar „Impulsgeber für eine moderne sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Hofforschung geworden, […] aber in den Sozialwissenschaften […] wenig präsent.“ (S. 7) Demgemäß soll, so die Herausgeberin, erstens durch das Aufzeigen von Anschlussmöglichkeiten diesem Desiderat begegnet und am Beispiel Elias die interdisziplinäre Verständigung zwischen den Kultur- und den Sozialwissenschaften gefördert werden. Zweitens soll – an die Adresse der Kulturwissenschaften gerichtet – der „Höfischen Gesellschaft“ insofern Gerechtigkeit widerfahren, als in der Vergangenheit häufig übersehen worden sei, dass es sich bei dieser Arbeit nicht um ein Geschichtswerk, sondern um eine kultur- und machtsoziologische Untersuchung handele. Diese Ansprüche werden weitestgehend eingelöst.

Elf AutorInnen aus den Bereichen der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, der Romanistik und der Kunstgeschichte haben den Dialog aufgenommen und zeigen, dass ein Nachdenken über Elias immer noch lohnt und seine methodisch-theoretischen Angebote wie die Figurationsanalyse oder die Untersuchung von Interdependenzen nach wie vor von Belang (nicht nur) für die Hofforschung sein können. Der Band ist in drei Bereiche eingeteilt, denen statt einer abschließenden Zusammenfassung eine einleitende Vorstellung der einzelnen Beiträge vorangestellt ist. Am Anfang stehen Ausführungen biografisch-wissenschaftsgeschichtlicher Ausrichtung, gefolgt von jenen, die sich mit einer kritischen Würdigung befassen, abschließend werden „Kulturwissenschaftliche Perspektiven“ behandelt. Jeder deutschsprachige Beitrag beginnt mit einer englischsprachigen Zusammenfassung.

Reinhard Blomert präsentiert zunächst Norbert Elias‘ „Liebe zur höfischen Kultur“ und zeigt, dass Elias’ Hinwendung zur französischen Geschichte der Zeit Ludwigs XIV. auch als Reaktion auf die eigene Gegenwart in der Weimarer Republik, auf spezifische Erfahrungen als jüdischer Intellektueller verstanden werden kann, als ein an der historischen Gesellschaft des absolutistischen Hofs orientiertes Verhaltensideal im Sinn einer sich von der zeitgenössischen Gesellschaft abwendenden und abgrenzenden Positionierung, als positiv besetzter Gegenentwurf zu einer ihn zunehmend umgebenden gesellschaftlichen Rohheit. Der Autor legt damit die vorwissenschaftlichen Wurzeln des Werkes von Elias offen: „Das Erleben einer sicheren Welt der staatlichen Garantien und der Höflichkeitsdisziplin [gemeint ist hier stellvertretend für das ancien régime die untergegangene wilhelminische Monarchie] bildet die Basis für das ‚opus magnum‘ von Norbert Elias.“ (S. 37) Einen Schritt weiter geht Claudia Opitz. Sie wendet sich den kleinen und großen Schauplätzen der gelehrten Diskussion im wissenschaftlichen Werk selbst zu und verfolgt die bei Elias in Text und Anmerkungen aufscheinenden Auseinandersetzungen des Autors mit der wissenschaftlichen Produktion nicht nur seiner Zeit (v.a. Veblen und Weber sind hier zu nennen). Damit erfüllt Opitz eine alte Forderung des Soziologen Karl-Siegbert Rehberg nach Untersuchung von Entstehungszusammenhängen und Werkhintergründen nun auch mit Blick auf Entstehungszeit und -bedingungen der „Höfischen Gesellschaft“ um 1930, was bislang ein Desiderat der Forschung war. Im Zentrum des Beitrags der Kunsthistorikerinnen Birgit Franke und Barbara Welzel steht die Frage nach dem Ertrag des Eliasschen Studie für eine „kunstgeschichtliche Kulturgeschichte“. Dazu inszenieren die beiden Forscherinnen einen imaginären Gesprächskreis mit Walter Benjamin, Johan Huizinga, Ernst Cassirer und Ernst H. Kantorowicz, Maurice Halbwachs und Aby Warburg und stellen die Frage nach den Folgen der Unmöglichkeit von Forschungsdiskussionen in der Zeit und der zeitlichen Verzögerung und Verschiebung in der Rezeptionsgeschichte, aber auch der Tatsache, dass Elias selbst kunstgeschichtliche Erkenntnisse nicht wahrgenommen hat. Ihr Fazit ist dennoch positiv und deutet künftige Forschungen an, Elias’ Anregungen „gewinnbringend aufzugreifen“ (S. 86).

Jeroen Duindam schließlich, der Hofforschung u.a. bekannt durch verschiedene kritische Publikationen zu Elias 2, macht einmal mehr deutlich, dass zentrale, gleichwohl wissenschaftsgeschichtlich bedeutsame Aussagen wie z.B. diejenige der Domestikation des Adels nach dem heutigen Stand der Forschung entweder so nicht mehr haltbar sind oder einer sehr differenzierten Betrachtung bedürfen. Gleichzeitig aber macht Duindam auf eine besondere Konstellation in Elias’ Werk aufmerksam, nämlich die Verbindung von modernisierungstheoretischen und anthropologischen Aspekten, die er für Widersprüchlichkeiten im argumentativen und interpretatorischen Vorgehen verantwortlich macht.

Der Beitrag der Kunsthistorikerin Jutta Held über „Norbert Elias und die Kunstgeschichte“ ist Auftaktbeitrag des Teils, der sich der „kritischen Würdigung“ widmet. Held macht diejenigen Bereiche namhaft, die Elias bspw. in seinen architektursoziologischen Überlegungen ausgeblendet hat. Seine Theorie bleibe der Elitenkultur verpflichtet, deren Funktionalität und Logik sie aufdecke, aber die Welt außerhalb der höfischen Gesellschaft werde nur als Randphänomen wahrgenommen (S. 118). Ob diese Kritik allerdings dem Anliegen von Elias gerecht wird, sei dahingestellt. Ronald G. Asch wiederum ergänzt die Betrachtungen von Duindam. Asch zeigt, wie weit sich die moderne Forschung inzwischen inhaltlich von den Positionen und Interpretationen Elias’ entfernt hat, diese modifiziert, korrigiert oder gar verworfen hat. Insbesondere sind es die Aussagen zu den Macht- und Rangverhältnissen und zu den aristokratisch-höfischen Verhaltensweisen (die Frage der „Verhöflichung“) am französischen Hof und die Frage nach der Übertragbarkeit der an diesem Hof gewonnenen Erkenntnisse auf andere frühneuzeitliche Höfe, die Asch in den Blick nimmt. Eine genderorientierte literaturwissenschaftliche Sicht auf Elias wird von Renate Kroll vertreten. Kroll bemerkt zu recht, dass von einer Figurationsanalyse gefordert werden könne, „in Relationen von Menschen zu denken und nicht z.B. die ‚höfische Gesellschaft‘ einseitig als männliches Universum zu analysieren“ (S. 162) wie Elias es getan hat: „Eine Studie, die sich – auch und vor allem im Sinne der Figurationstheorie – mit der höfischen Gesellschaft als auch geschlechtsspezifisch interdependentes Machtgefüge befaßt, steht noch aus.“ (S. 162) Am Beispiel der von Elias als explosive Verlagerung der gesellschaftlichen Machtverteilung beschriebenen Französischen Revolution zeigt Wolfgang Schmale, dass auch hier ein über Elias hinausgehendes figurationsanalytisches Vorgehen als soziologische Diagnose zur Erklärung des Geschehens immer noch denkbar und sinnvoll sein kann.

Der dritte Teil wird eingeleitet von Eric Dunning und behandelt das Verhältnis von Soziologie und Geschichte an Arbeiten, die von Elias geprägt sind. Dunnings Ausführungen lassen sich auch als Plädoyer für die Rezeption historischer Wissensbestände in der Soziologie verstehen. Umgekehrt versucht Sophie Ruppel die Figurationsanalyse in ihrer Untersuchung zu „Geschwisterbeziehungen im Adel und Elias’ Figurationssoziologie“ für die Erforschung von Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts nutzbar zu machen. Dem Beitrag von Eckart Schörle über „Die Verhöflichung des Lachens“ liegt mit Blick auf die Disziplinierungsthese von Elias der bislang noch nicht veröffentlichte, unvollendet gebliebene Aufsatz „Essay on Laughter“ zugrunde, womit der „Prozess der Zivilisation“ um einen interessanten Aspekt erweitert wird.

Ein Abschied von Elias ist also mitnichten in Sicht, wie dieser Band zeigt, auch wenn zentrale Aussagen seines Werkes inzwischen als überholt gelten müssen. Sein methodisch-theoretisches Vorgehen, die Figurationsanalyse und die Untersuchung von Interdependenzen, bleibt anregend; und zumindest partiell ließen sich die Überlegungen Elias’ als entfernte Vorläufer dessen sehen, was heute in der Forschung mit dem Begriff „Soziabilität“ belegt ist. 3

Anmerkung:
1 Die beiden Bände zu Elias’ „Prozess der Zivilisation“ liegen in der genannten Reihe in der Bearbeitung von Heike Hammer und Reinhard Blomert bereits seit 1997 vor; in diesem Jahr erschien bei Suhrkamp der „Prozess der Zivilisation“ in der nun schon 23. Auflage.
2 Myths of Power. Norbert Elias and the Early Modern European Court, Amsterdam 1994; Norbert Elias und der frühneuzeitliche Hof. Versuch einer Kritik und Weiterführung, in: Historische Anthropolgie 6 (1998), S. 370-387; Norbert Elias and the History of the Court. Old Questions, New Perspectives, in: Butz, Reinhardt; Hirschbiegel, Jan; Willoweit, Dietmar (Hgg.), Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen (Norm und Struktur 22), Köln 2004, S. 91-104.
3 Vgl. bspw. Teuscher, Simon, Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500 (Norm und Struktur 9), Köln 1998.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension