C. Kretschmann u.a. (Hgg.): Wissen in der Krise

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Titel
Wissen in der Krise. Institutionen des Wissens im gesellschaftlichen Wandel


Herausgeber
Kretschmann, Carsten; Pahl, Henning; Scholz, Peter
Reihe
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 7
Erschienen
Berlin 2004: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Schüller-Zwierlein, Universitätsbibliothek München

Wissen als soziales Phänomen: Diese von Durkheim und James im ausgehenden 19. Jahrhundert angestoßene Sichtweise hat das 20. Jahrhundert dominiert. Was mit Schelers, Flecks und Mannheims Wissenssoziologie begann, verstärkte sich durch die Erfahrungen mit dem Dritten Reich, beherrschte die Studentenrevolten der 1960er-Jahre, schloss Allianzen mit kohärentistischen Theorien in der Epistemologie, gewann noch einmal an Einfluss im Foucault-geprägten Postmodernismus der 1980er- Jahre und ist heute als geisteswissenschaftliche Grundhaltung etabliert, auch in den historischen Wissenschaften: Maßgebliche Bände wie Shapins A Social History of Truth (1994) und Burkes A Social History of Knowledge (2000) verdeutlichen dies genauso wie aktuelle Schwerpunkte der Forschungsförderung, etwa der SFB 573 "Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit".

Wissen wird tradiert, verteidigt, anerkannt, verbreitet, oktroyiert, gespeichert, hinterfragt und vieles mehr. Unentbehrlich hierfür sind Institutionen – überindividuelle Konsens-Körper, die für Autorität, Legitimation, Identität, Sozialisation und Perpetuierung des Wissens sorgen. Dies ist von soziologischer (z.B. Douglas 1986) und historischer Seite (etwa Melville 1992) herausgearbeitet worden. Doch was geschieht mit solchen Institutionen, wenn die Gesellschaft in eine Krise gerät? Welche gesellschaftlichen Veränderungen führen dazu, dass eine Wissensinstitution etabliert oder hinterfragt wird? "Können sich Institutionen überhaupt einer dauerhaften Unterstützung versichern?" (S. 7) Wie reagieren "Institutionen des Wissens auf den drohenden Relevanzverlust" (S. 12)? Mit diesen grundlegenden Fragen beschäftigt sich anhand historischer Fallbeispiele der vorliegende Sammelband, der im Rahmen des DFG-Forschungskollegs 435 "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel" entstand.

Wissensinstitutionen, so heißt es in der Einleitung, "speichern die Wissensbestände vorangegangener Generationen und institutionalisieren deren Deutungskultur" (S. 9). Der Begriff wird jedoch sehr weit ausgelegt – die elf Beiträge befassen sich mit so unterschiedlichen Gebilden wie Roms Senat, Mehmets Hof im eroberten Konstantinopel, dem ersten internationalen Gefängniskongress, der evangelischen Landeskirche Württembergs, der Naturheilkunde-Bewegung und einem indianischen Radiosender. Um diese Vielfalt zu ordnen, skizziert die Einleitung vier Typen.

Mit dem ersten Typus – Institutionen, "die primär der Routinisierung von politischen Verfahren, der Ausübung und Repräsentation von Herrschaft dienen" (S. 12) und "Repräsentanten und Sachwalter eines traditionellen akkumulierten Erfahrungswissens" (S. 12) sind – beschäftigen sich die ersten drei Beiträge, die sämtlich den Zusammenhang von Wissenszentren und Machtzentren herausstellen. Peter Scholz untersucht, wie der Senat des republikanischen Roms – Institution politischer Entscheidungen ebenso wie der Wahrung des mos maiorum – auf den zunehmenden Einfluss griechischer Bildung und die damit zusammenhängende "Intellektualisierung" (S. 17) der Erziehung und Politik reagierte. Während allerdings Scholz' These der Destabilisierung der Autorität des Senats durch die veränderte Bildungspraxis durchaus überzeugt, ist das vorgebrachte Belegmaterial kaum ausreichend: Seine Argumentation beruht hauptsächlich auf zwei Textquellen, deren Entstehungsdaten 69 Jahre auseinander liegen. Zudem werden hier – wie in Scholz' grober Skizzierung der Vorherrschaft des mos maiorum im Krieg und der Rhetorik im Frieden – die konkreten Einzelinteressen vernachlässigt, die zu politischen Beschlüssen führen, wie sie beispielhaft Ciceros Atticusbriefe zeigen. Barbara Schliebens Beitrag hingegen zeigt in eindrucksvoller Weise, welchen Einfluss einzelne außenpolitische Bestrebungen auf ganze Überlieferungskanäle haben können; in "Ambition und Wissen" belegt sie nicht nur klar, wie der kastilische Hof Alfons' X. durch umfangreiche schriftstellerische und Übersetzungstätigkeiten sowie durch die personelle Identität von Politikern und Gelehrten als Wissensinstitution fungierte, sondern zeigt auch, wie die Rückwendung vom Lateinischen zum Kastilischen (nach dem Scheitern von Alfons' Ambitionen auf die Kaiserwürde Kastiliens) politisch wie sprachlich isolierte und damit seine Rolle als 'Importeur' griechisch-arabischen Wissens nahezu wegfiel: "Das Versiegen dieser Quelle beschleunigt in Zentraleuropa die Konzentration auf bereits vorliegende Übersetzungen – in diesem Zusammenhang wäre etwa an den bereits vollständig vorliegenden lateinischen 'Aristoteles' zu denken." (S. 40f.) Anna Akasoys Untersuchung der Adaptation byzantinischen Wissens am Osmanenhof nach der Eroberung Konstantinopels zeigt in ebenso überzeugender Weise nicht nur, wie eng Wissenschaft und höfische Kultur zusammenhingen, sondern auch wie europäische Deutungsmuster die Interpretation historischer Wissenskrisen verzerren können. Ihr Beitrag verweist auf ungenutzte Forschungsquellen und betont zu Recht den massiven Bedarf an geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung in ihrem Bereich.

Die zweite Kategorie umfasst solche Institutionen, "deren vornehmliche Aufgabe es ist, das bekannte Wissen in Frage zu stellen und nach neuem Wissen zu suchen" (S. 13). Hier untersuchen die Beiträge von Andreas Franzmann und Barbara Wolbring das Krisenverhalten staatlicher Wissenschaftsinstitutionen. Franzmanns Analyse eines Aufsatzes des Chemikers Louis Pasteur aus dem Jahre 1871 kann zwar zeigen, wie Pasteur das französische Wissenschaftssystem als grundlegendes Element der französischen Krise beschreibt und die Wissenschaft als Möglichkeit gesellschaftlicher Erneuerung präsentiert; seine allzu demonstrativ formal-methodische Vorgehensweise (die an den new criticism der Literaturwissenschaft erinnert, mit all seinen Schwächen) verführt ihn jedoch oft zu banalen oder spekulativen Äußerungen. Wolbring dokumentiert die Erneuerungsbestrebungen der Universität Heidelberg nach dem Dritten Reich; ihr gut ausgearbeiteter Beitrag stellt anhand von Zeitdokumenten die institutionelle und moralische Wiederbelebung der Universität durch Karl Jaspers und andere in einem differenzierteren Licht dar als dies die studentische Anklage des "Muffs von tausend Jahren" tat.

Als dritten Typus definieren die Herausgeber Institutionen, "die eine vor allem vermittelnde Funktion haben, die also bereits erzeugtes Wissen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, es propagieren, medial aufbereiten und popularisieren" (S. 14), etwa Zeitschriften, Rundfunkanstalten, Verbände oder Ausbildungsstätten. Diesen Typus analysieren fünf Beiträge des Bandes. Andreas Wendlands Beitrag vollzieht die (wenig überraschenden) Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges, konkurrierender theologischer Bewegungen und lokaler Machtinteressen auf das Jesuitenkloster Porrentruy nach und dokumentiert den zögerlichen Anpassungsprozess dieser Wissensinstitution in verschiedenen Krisensituationen materieller und immaterieller Art. Wie Wissenschaftler verschiedener Couleur sich für die Intervention in einer rechtspolitisch und sozial relevanten Frage zu einer Wissensinstitution zusammenschließen, zeigt Lars Hendrik Riemer in seiner Untersuchung des ersten internationalen Gefängniskongresses im Jahre 1846. Henning Pahls Beitrag betont die bestimmende Rolle der begrifflichen Klassifikation in der Auseinandersetzung der evangelischen Landeskirche Württembergs mit dem Methodismus im 19. Jahrhundert, seine verallgemeinernden Schlüsse aus der regionalen Kirchengeschichte auf die Natur von Wissensinstitutionen scheinen jedoch nicht zulässig. Florentine Fritzens Beobachtung der deutschen Naturheilkunde-Bewegung während des Ersten Weltkriegs konzentriert sich auf die 'Überlebenshandlungen' von Institutionen; ihre anregende Darstellung naturheilkundlicher Propaganda angesichts der Kriegsnotstände macht trotz dürftiger Quellenbasis Appetit auf mehr. Michael Schlottners Untersuchung des Phänomens der Contemporary Native American Music stellt den Identitätscharakter geteilten Wissens und die Rolle der Musik bei der Identitätsfindung der indigenen amerikanischen Bevölkerung heraus; die Analysen bewegen sich jedoch stellenweise auf recht niedrigem Niveau: "Das rote Amerika (das eigentlich braun ist)" (S. 213).

Der vierte Typus, der Institutionen umfasst, die Wissen sammeln, bewahren, erschließen und bereitstellen, ist mit Christian Carstensens Beitrag zum indianischen "Stammesmuseum als 'Kulturbewahrer'" eher unterrepräsentiert. Carstensen betont – in wiederum recht simpler Manier – den politisch und sozial gebundenen Charakter musealer Darstellungsformen, die strategisch eingesetzte Speicherung und Weitergabe von Wissen sowie die wichtige politische Funktion von Stammesmuseen für das Überleben indigener Kultur. In diesem Teil hätte man sich weitere historisch-kulturpolitische Beiträge, etwa zur Rolle von Zentralisierung und Dezentralisierung bei der Überlieferung oder zum staatlichen Einfluss auf bibliographische Unternehmen im Dritten Reich, vorstellen können.

Zusammenfassend kann man Folgendes sagen: Der vorliegende Band nimmt hochaktuelle geisteswissenschaftliche und kulturpolitische Fragen auf (vgl. Butzer/Günter 2004; Fabian 2005) und ergänzt die wichtigen Publikationen des Forschungskollegs zu historischen Wissenskulturen. Er ist jedoch qualitativ und inhaltlich disparat. Die in der Einleitung geweckte Erwartung – "Gerade die Vielfalt der hier vorgestellten Institutionen" verspreche "Aufschluß über allgemeinere Fragestellungen" (S. 8) – wird enttäuscht: Der Band kann Melvilles präzisen Definitionen und allgemeinen Schlussfolgerungen nichts Wesentliches hinzufügen, im Gegenteil: Fachbegriffe wie "Wissen", "Kultur", "Institution" und "Krise" sind hier reine Dachbegriffe. Das genaue Beleginteresse bleibt trotz teils sehr guter Einzelbeiträge (Akasoy, Schlieben) unklar. Der Band hätte zudem ein gründlicheres Lektorat verdient: Abgesehen von vielen Flüchtigkeitsfehlern enthält nahezu jedes fremdsprachige Zitat einen Fehler.

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