H. Bispinck u.a. (Hgg.): Aufstände im Ostblock

Cover
Titel
Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus


Herausgeber
Bispinck, Henrik; Danyel, Jürgen; Hertle, Hans H.; Wentker, Hermann
Reihe
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Diedrich, Militärgeschichtliches Forschungsamt

Seit einigen Jahren haben Begriffe wie „Globalisierung der Erinnerung“ oder „Transnational History“ in der Geschichtswissenschaft Hochkonjunktur. Sie bilden damit eine Entwicklung ab, welche die internationale Politik nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend mitbestimmt. Der „neue“ Wissenschaftstrend (wie die Globalisierung selbst ist auch deren Betrachtungsweise so neu nicht) ist gut und wichtig. Tatsächlich gewinnen in dem nach dem Niedergang des kommunistischen Weltsystems verstärkten Prozess der Europäisierung die Besinnung auf gemeinsame Erinnerungen an Diktatur und Willkür auf der einen sowie tradierungswürdige Ereignisse des Ringens um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf der anderen Seite einen sehr deutlich wachsenden Stellenwert als Brücken zum gegenseitigen Verständnis in Europa und der Welt.

Folglich ist es historiografisch verdienstvoll, sich aus vergleichender Perspektive gerade den Krisen im Ostblock zuzuwenden, waren sie doch antitotalitäre Bewegungen für Reformen und Demokratie. Die Ereignisse der Jahre 1953, 1956, 1968 und 1980/81 erlangten in den 1990er-Jahren in den Ländern des ehemaligen Ostblocks schnell Bedeutung als Orte des öffentlichen Gedenkens, der wissenschaftlichen Aufarbeitung und zugleich der Überwindung der Diktaturfolgen selbst. Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus wurde der Weg frei für eine enttabuisierte Erforschung und die Beseitigung „sozialistischer Geschichtsmythen“. Diese Aufarbeitung war gleichzeitig ein Schritt der Selbstfindung im Reformprozess der jeweiligen Länder auf den Weg zu demokratischen Strukturen.

Der vorliegende Band ist aus der Tagung „Der 17. Juni 1953 und die Krisengeschichte des ‚realexistierenden’ Sozialismus“ des Zentrums für Zeitgeschichtliche Forschung Potsdam, des Institutes für Zeitgeschichte und der Fritz-Thyssen-Stiftung im Jahre 2003 entstanden. Ziel der Veranstaltung wie auch nun des Sammelwerkes war und ist es, die vorerst vor allem aus dem nationalen Blickwinkel aufgearbeiteten Krisen und Aufstände, breiter als bislang geschehen, in den internationalen Kontext einzuordnen. Die Herausgeber zeigen sich dabei der Tatsache durchaus bewusst, dass die Erforschung der Krisengeschichte des sozialistischen Systems keineswegs abgeschlossen ist und auch der Stand der Aufarbeitung noch deutliche Unterschiede aufweist. Es ist offensichtlich, dass der diachrone und synchrone Vergleich zuallererst einer grundlegenden Basisforschung zu den einzelnen Ereignissen und ihren Folgewirkungen bedarf. Besonders auf letzterem Feld jedoch fehlen selbst beim gut erforschten Volksaufstand in der DDR durchaus noch empirische Längsschnitte durch die verschieden Ebenen von Staat und Gesellschaft.

In dem Band greifen die Herausgeber die Idee der Tagung auf, aus einer differenzierenden Sicht auf das wohl besterforschte Ereignis als solches – den Volksaufstand in der DDR – Symptome der Krisen und deren Nachwirkungen in den ost- und mitteleuropäischen Ländern nachzuzeichnen und vergleichend zu analysieren und führen sie weiter. Allerdings blieb – mancher mag das bedauern - die doch recht starke Fixierung auf den 17. Juni 1953 erhalten; Essentielles steht gelegentlich neben Marginalem. Das ist zum einen dem wissenschaftlichen Ansatz von Tagung und Band geschuldet, zum anderen aber finden sich trotz der Publikationsflut im Jahr 2003 interessante Ergebnisse und neue Erkenntnisse auch zum Volksaufstand 1953, insbesondere dort, wo neue Ansätze gesucht wurden.

Hervorhebenswert erscheint hier Karl Schlögels einleitende Einordnung des „17. Juni“ in die Krisengeschichte des sozialistischen Systems. Der Autor stellt mit vier Ausgangsfragen scheinbar eindeutige historische Perzeptionen in Frage, zeigt neue Denkansätze und findet Forschungsdesiderata. Resümierend stellt er fest, dass es nicht den Sozialismus, sondern viele Sozialismen gab und folglich auch entsprechend viele Krisengeschichten, deren langfristige nationale Folgewirkungen zuerst aufbereitet werden müssen, um folgend die Basis der international vergleichenden Analyse zu bieten. Denn, so Schlögel, die Aufstände gehören nicht nur in die Verfallsgeschichte des Sozialismus, sondern zugleich „ins Zentrum einer Geschichte des geteilten Europas“ (S. 39).

Zu nennen ist zudem der Beitrag von Thomas Lindenberger, der aus dem Blickwinkel der historischen Protestforschung den Volksaufstand betrachtet und eine tiefer gehende Analyse der Ereignisse als sozialen und politischen Protest in seiner langfristigen Nachhaltigkeit und im transnationalen Vergleich einfordert. Mag dieser Ansatz sicher nicht unumstritten bleiben, Innovatives und Diskussionswürdiges birgt er in Hülle und Fülle.

In einem zweiten Abschnitt wird das Sichtfenster auf die Krisenphänomene der DDR-Geschichte bis 1989 geweitet. Hier finden sich sehr lesenswerte und erkenntnisreiche Analysen zur Anatomie der Wirtschaftskrisen von Andre Steiner oder in vergleichender Perspektive zwischen 1953 und 1989 zur Flucht- und Ausreisebewegung von Henrik Bispinck und der Rolle der West-Medien von Hans-Hermann Hertle. Ihr punktuell vergleichender Ansatz führt zu neuen Aufschlüssen für die Verortung der spektakulären Einzelereignisse in der DDR-Geschichte.

Den größten Innovationswert jedoch bietet der letzte und auch umfänglich stärkste Abschnitt mit komparatistischen Analysen der Protestformen auf der einen und des Krisenmanagements in Ostmitteleuropa auf der anderen Seite. Peter Hübner untersucht zuerst das Konfliktverhalten in Krisensituationen in der DDR und stellt seine Ergebnisse in einen wirklich tief gehenden Vergleich mit dem der polnischen Bevölkerung. Er findet sowohl kulturalistische Erklärungsansätze, aber auch übergreifende Erfahrungen, die generiert wurden. Interessant sind vor allem die Erkenntnisse, dass der inszenierte Konsens zwischen Regime und Arbeiterschaft über die sozialen Verbesserungen letztlich das Modernisierungspotential konsumierte und damit den Weg in den Untergang des Sozialismus beschleunigte.

Auch Jürgen Danyels Vergleich des Krisenmanagements der SED 1953, der KSC 1968 und der PVAP 1980/81 dokumentiert eindrücklich einen aus den Erfahrungen, aber auch den inneren Entwicklungen heraus bewirkten Wandel der Herrschaftsmethoden weg von der gewaltbetonten Konfrontation hin zu einem Arrangement mit der Bevölkerung über kleine Zugeständnisse und Freiräume. Das aber führte nicht zu einem produktiven Umgang mit Krisen, das System blieb seinen starren Strukturen verhaftet.

Nicht weniger wegweisend ist Hermann Wentkers komparatistischer Blick auf das Verhalten der UdSSR während der Ostblockkrisen. Ging es in den 1950er-Jahren noch um den Erhalt des Imperiums mittels Gewalt und initiierter Reformversuche von oben, dokumentierte das mit der Breschnew-Doktrin eingeforderte Interventionsrecht bereits die zunehmende Schwäche der Sowjetunion gegenüber den sich international zunehmend emanzipierenden „Vasallen“. Bereits in Polen schied die militärische Intervention als Option aus, die Gorbatschow-Reformen in der UdSSR gaben sie gegenüber den Ostblockstaaten frei – eine Grundvoraussetzung für den Erfolg der friedlichen Revolution in der DDR.

Es schließen sich Beiträge der Wahrnehmung der Krisen im Osten durch den Westen (Stöver), eine Analyse verschiedener Oppositionsgenerationen (Ruchniewicz), über das Krisenmanagement der ungarischen Parteiführung (Klimo/Kunst) sowie in der Tschechoslowakei (Tuma) an. Die Aufsätze sind auf den nationsbezogenen Längsschnittvergleich angelegt, bieten aber damit eine komparatistische Basis im europäischen Maßstab.

Aufs Ganze gesehen offenbaren die Beiträge, dass die rote Diktatur, wie Jürgen Danyel für die 1970/80er-Jahre aufzeigt, eben nicht nur Repression und Unterdrückung war, sondern viel mehr ein kompliziertes Geflecht von Überzeugungen und Verführungen, Karrieren und Anpassung. Zwang war nur ein Part der Diktatur, das Arrangement zwischen Herrschern und Beherrschten wirkte oft viel stärker stabilisierend auf die Gesellschaft. Die Aufstände im Ostblock waren allesamt in ihrer Stoßrichtung antidiktatorisch und antisowjetisch – sie stellen einen Kampf um Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie dar. Sie gehen in die gemeinsame europäische Geschichte ein und bilden die einende Klammer. Offenkundig wird aber auch, dass bei aller Freiheitsbestrebung im Osten ohne die Veränderungen in der UdSSR kein Wandel möglich und zugelassen war.

Fast alle Beiträge orientieren sich mehr oder minder stark an der komparatistischen Methode, die viel Interessantes und Bedenkenswertes zu Tage fördert. Der Vergleich gelingt zumeist dort überzeugend und ist gewinnbringend, wo auch die empirische Forschung profunde Ergebnisse aufweist. Letztlich legen Autoren und Herausgeber ein richtungweisendes Buch vor, welches neue Ansätze des transnationalen Vergleichs ebenso wie Forschungsdesiderata offen legen und damit künftigen komparatistischen Forschungen Basis und Ausgangspunkt sein wird.

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