H.-J. Rupieper u.a. (Hgg.): Die Mitteldeutsche Chemieindustrie

Cover
Titel
Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Rupieper, Hermann-Josef; Sattler, Friederike; Wagner-Kyora, Georg
Erschienen
Halle an der Saale 2005: Mitteldeutscher Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Schuhmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Eingebettet in die Geschichte der Arbeit muss Arbeitergeschichte inzwischen einer Fülle von Ansprüchen gerecht werden: Sie ist ein interdisziplinär zu gestaltendes Forschungsobjekt, das ohne die Erkenntnisse beispielsweise der neueren Unternehmens-, Kultur- und Gechlechtergeschichte nur noch bedingt ernst genommen wird. Diese methodische Erweiterung hat ihre Ursache in einem Paradigmenwechsel innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft seit Beginn der 1990er-Jahre, nicht zuletzt aber ist sie auch der Entwicklung der westeuropäischen Arbeitsmärkte geschuldet.

Der vorliegende Sammelband „Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert“, herausgegeben von Hermann-J. Rupieper, Frederike Sattler und Georg Wagner-Kyora, verdeutlicht die Suche nach methodischen Zugängen und zeigt, dass die Arbeitergeschichtsschreibung sich inzwischen nach vielen Richtungen geöffnet und dabei neue methodische Verbindungen geknüpft hat. Er fixiert Ergebnisse und Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die im November 2003 in Halle, Schkopau und Leuna stattfand. Das Anliegen der Tagung war es, „jüngere theoretische Ansätze der Unternehmens- und der Arbeitergeschichte sowie ergänzende Konzepte von Generation und Geschlecht“ am Forschungsgegenstand mitteldeutsche Chemieindustrie im 20. Jahrhundert vorzustellen und zu diskutieren. So wird in einem ersten konzeptionellen Teil des Bandes nach der Anwendbarkeit unternehmensgeschichtlicher Ansätze, hier insbesondere der Neuen Institutionenökonomie, auf die Erforschung staatssozialistischer Unternehmen gefragt, werden Handlungs- und Kommunikationsmuster in Unternehmen beschrieben und das Verhältnis von Unternehmensstrategien und Politik analysiert. Innovativ ist der Band besonders hinsichtlich dieses konzeptionellen Teils.

So bietet der Unternehmenshistoriker Johannes Bähr einen instruktiven Abriss des Forschungsstandes der neueren Unternehmensgeschichte, diskutiert den Effekt methodischer Verknüpfungen zwischen Unternehmens- und Arbeitergeschichte und fragt schließlich nach der Anwendbarkeit dieses Konzeptes auf die Erforschung staatssozialistischer Unternehmen. Bähr zielt darauf, den DDR-Betrieb in seiner Komplexität von Wirtschaftseinheit und sozialem Raum zu untersuchen und die in der Tat bisher wenig thematisierten, ungeplanten Abläufe in ihren Funktionen und Folgen innerhalb des Betriebes zu beschreiben.

Die Wirtschaftshistorikerin Anne Nieberding lotet in ihrem Beitrag die Chancen einer Unternehmenskulturforschung aus, die kulturelle Codes in Unternehmen sowie deren Bedeutung für den Erfolg beziehungsweise Misserfolg von Unternehmen untersucht. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob eine Analyse kultureller Codes, die sich innerhalb der Unternehmen bildeten, und das daraus resultierende Verhalten der IndustriearbeiterInnen eine hinreichende Erklärung bieten können für die konjunkturelle Entwicklung von Unternehmen. Eine Unternehmensgeschichte ohne die Einbeziehung der Produktionsbedingungen, ohne eine Analyse der Arbeitskämpfe der Belegschaften beziehungsweise der Formen betrieblicher Sozialpolitik droht, die Metaebene der Abstraktion nicht verlassen zu können.

Dietmar Süß tritt in seinem Analyseansatz für einen mikropolitischen Fokus auf die Arbeitergeschichte ein. Dabei bezieht er sich mit seinen Überlegungen auf die kritische Organisationssoziologie der 1980er-Jahre und plädiert, ähnlich wie Bähr, für eine Verknüpfung von Unternehmens- und Arbeitergeschichte. Gleichzeitig warnt er vor einer Verabsolutierung der betrieblichen Lebenswelt und vor einer Ausblendung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Kontexte. Die Bochumer Historikerin Helke Stadtland schließlich diskutiert in ihrem Beitrag die analytische Dimension der Kategorien Geschlecht und Generation für die DDR-Geschichtsschreibung. Dabei bezieht sie sich mit ihrem Generationenbegriff auf das Bourdieusche Habituskonzept. Das Generationenkonzept beinhaltet in ihrer Deutung nicht automatisch die Feststellung eines gesellschaftlichen Wandels, vielmehr ließen sich so auch Stabilität und Stagnation erklären. Stadtland illustriert dies plausibel am Beispiel der so genannten HJ-Generation. Der Kategorie Geschlecht bescheinigt sie dagegen eine fundamentale Durchschlagkraft und die Eignung als zentrale Unordnungskategorie.

Der zweite Teil des Bandes stellt konkrete empirische Befunde der Forschung dar, gewinnbringend ist hier vor allem der systemübergreifende Forschungsansatz. Der Verzicht auf die Verwendung üblicher Zäsuren bei gleichzeitiger Verknüpfung theoretischer Konzepte und empirischer Daten wird deutlich in den Beiträgen von Frederike Sattler und Susan Becker. So untersucht Sattler am Beispiel der Investitionspolitik, der Standortwahl sowie der Personal- und Arbeitspolitik innerhalb der mitteldeutschen Chemieindustrie die Handlungs- und Entscheidungsspielräume und die strategischen Weichenstellungen von Unternehmen im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Im Ergebnis ihrer Betrachtungen stellt Sattler eine stetig enger werdende Verquickung unternehmerischer Interessen mit denen der verschiedenen politischen Regimes fest, wobei die Möglichkeiten eigener Durchsetzung unternehmerischer Strategien auf wirtschaftspolitische Weichenstellungen mehr und mehr abnahmen. Die Thesen, die Sattler in diesem Beitrag entwickelt, überprüft sie gemeinsam mit Becker in einer empirisch dichten Untersuchung der betrieblichen Arbeits- und Sozialpolitik der BASF im Umgang mit sozialen und politischen Arbeiterprotesten vor und nach der Revolution von 1918/19. Dabei stellen die Autorinnen fest, dass die BASF in ihren Werksteilen zwar eine einheitliche betriebliche Arbeits- und Sozialpolitik verfolgte, zugleich aber unterschiedliche Reaktionen auf Arbeiterproteste sichtbar werden. Offenbar war die Perspektive der Unternehmensleitung stark von lokal differenzierten äußeren Faktoren geprägt, ebenso wie durch die von Werk zu Werk unterschiedliche Sozialstruktur der Beschäftigten.

Albrecht Wieseners Beitrag beschränkt sich auf einen relativ kurzen Ausschnitt aus der Geschichte der Leuna-Werke. Er betrachtet die innerbetrieblichen Auseinandersetzungen in dem Zeitraum, in dem das Chemieprogramm der SED die mitteldeutsche Chemieindustrie ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Anstrengungen stellte. Im Mittelpunkt der Betrachtungen Wieseners stehen die Spannungen, die sich aufgrund der permanenten Forderungen nach Erhöhung der Produktivität zwischen der Zentrale und den Beschäftigten ergaben, welche wiederum wachsende Erwartungen hinsichtlich der Verbesserung ihrer sozialen Lage hegten.

Georg Wagner-Kyora nutzt in seiner Analyse von IM-Berichten aus den Buna-Werken Schkopau ähnlich wie Helke Stadtland das Bourdieu’sche Habitusmodell, plädiert jedoch für eine Erweiterung des Konzeptes hin zu einer offeneren Gesellschaftsanalyse. Er ist gegen die Beschränkung seiner Analyse auf Klassengrenzen und untersucht die Veränderung von Habitus und Distinktion von Arbeitern vor allem in der Aufstiegsbewegung. Auf der Basis von Berichten informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit und der darin sichtbaren Selbstbeschreibungen filtert er einen allgemeinen Verlust von Arbeiteridentität im Zuge biografischer Aufstiegsbewegungen heraus. Daraus ergibt sich in der Darstellung ein Bild der Entfremdung wie auch des Gegensatzes zwischen Produktionsarbeitern und Angestellten. Methodisch einleuchtend verknüpft Wagner-Kyora Diskursgeschichte und Generationenkonzept. Einschränkend stellt sich bei aller methodisch-theoretischer Brillanz, mit der sich Wagner-Kyora dem Forschungsgegenstand Arbeitergeschichte widmet, die Frage, ob hier die IM-Berichte als zentrale Quelle hinsichtlich ihrer Interpretations- und Analysekraft nicht überstrapaziert werden.

Der Titel des Beitrages von Helmut Walser Smith „The Workers of Europe and a Dye Factory in Germany 1940-1945“ verweist bereits auf die Methodik, die seine Untersuchung der Fremdarbeiter der Wolfener Farbfabriken bestimmt. Smith untersucht FremdarbeiterInnen nicht in erster Linie als beherrschte Subjekte innerhalb eines totalitären Produktionssystems. Er eröffnet vielmehr mit seinem, wie er es nennt, „weiten Blick auf das Lokale“ eine Perspektive, in der er sowohl die aus ganz Europa stammenden Fremdarbeiter als auch das deutsche Werk in einen systemischen Zusammenhang stellt.

Die methodisch-theoretischen Ansprüche der Herausgeber will der zweite Teil des Bandes im Nebeneinander von Einzelbeiträgen erfüllen, die zentrale Aspekte des Gegenstandes sichtbar machen, ohne selbst den Theorierahmen stets explizit mitzuliefern. So bietet Dirk Hackenholz in seiner kurzen Darstellung der Belegschaftsentwicklung der elektrochemischen Werke von 1914-1945 eine kommentierte Statistik ohne jeglichen kontextualen Schnörkel. Der Beitrag von Claus Christ zu Umweltproblemen und Umweltschutz in der mitteldeutschen Chemieindustrie der DDR bietet eine Fülle technischer Details, die einen Eindruck von den katastrophalen Arbeits- und Umweltbedingungen vermitteln, denen die Beschäftigten der mitteldeutschen Chemieindustrie ausgesetzt waren.

Die Beiträge von Renate Hürtgen zum Konfliktverhalten von Arbeitern in den 1970er und 1980er-Jahren, von Francesca Weil zum betrieblichen Sozialverhalten von Frauen und schließlich der Text von Annegret Schüle über Textilarbeiterinnen eines Leipziger Textilbetriebes bieten quellennahe empirische Betriebsstudien.

Der Sammelband offenbart insgesamt in der Kombination von sozial-, unternehmens- und kulturgeschichtlichen Ansätzen einen innovativen Umgang mit dem Forschungsgegenstand in einer Fülle bemerkenswerter Beiträge. Der Arbeitergeschichtsschreibung wird hier durch eine jüngere Generation von HistorikerInnen mit methodischer Neugier und theoretischem Ehrgeiz neues Leben eingehaucht.

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