Titel
Ironijata na istorika. V pamet na istorika i prijatelja profesor Milco Lalkov. (Die Ironie des Historikers. Zum Gedenken an den Historiker und Freund Milco Lalkov)


Herausgeber
Baeva, Iskra
Anzahl Seiten
468 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Der bulgarische Neuzeitspezialist Milco Lalkov (1944-2000) gehörte zur ersten Historikergeneration im kommunistischen Bulgarien, der Ausbildung, Sprachkenntnisse und Reisemöglichkeiten den Anschluß an die internationale Geschichtswissenschaft ermöglichten. Während seine Dissertation von 1976 über die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen in den kritischen Jahren 1944-1947 damals aus politischen Gründen nicht veröffentlicht werden konnte, erregten sein 1983 erschienenes Buch über die Balkanpolitik Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg sowie seine 1993 publizierte Habilitationsschrift zur habsburgischen Bulgarienpolitik im Zeitraum 1878-1903 auch international Interesse 1. Neben zahlreichen bulgarischsprachigen Überblicksdarstellungen zur neueren Geschichte Bulgariens und Jugoslawiens, zur Geschichte Südosteuropas insgesamt und zu derjenigen der Habsburgermonarchie sowie Dutzenden von Chrestomatien, Lehr- und Schulbüchern legte Lalkov 1998 auch eine elegante “History of Bulgaria. An Outline” vor. Der aus Varna gebürtige Historiker, der 1973 ein Auslandssemester in Wien absolvieren konnte, von 1977 bis 1980 die Villa Wittgenstein, also das Bulgarische Forschungsinstitut in der österreichischen Hauptstadt, leitete, 1982 als Gastwissenschaftler an der Universität Hamburg tätig war und 1995 den Herder-Preis der Stiftung FVS erhielt, hatte von 1982 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2000 den Lehrstuhl für die Geschichte Byzanz‘ und der Balkanvölker an der Sofioter Universität inne.

Die von Lalkovs KollegInnen an der Universität Sofija verfasste Gedenkschrift stellt eine Momentaufnahme der bulgarischen Geschichtswissenschaft ein gutes Jahrzehnt nach der Wende von 1989 dar. Sie bietet Gelegenheit, den Stand der Professionalisierung, Internationalisierung und Entideologisierung der Zunft auf dem Hintergrund der dramatischen sozialen Umwälzungen der neunzige Jahre auszuloten. Vorauszuschicken ist, dass die bulgarische Historiografie bereits seit den frühen 1970er-Jahren marxistisch-leninistische Dogmen durch den Rückgriff auf die Traditionen der Nationalgeschichtsschreibung weitgehend außer Kraft gesetzt hatte.2 Die Zweiteilung der Gedenkschrift in Beiträge zu “Bulgarien” und solche zu “Balkan und Welt” spiegelt dabei bereits den die bulgarische Geschichtswissenschaft durchziehenden Graben zwischen mit Nationalgeschichte befassten (und damit hierarchisch höher gruppierten) Historikern und solchen, die – wie Lalkov – für den “Rest der Welt” zuständig waren. Nur auf den zweiten Blick erkennbar ist darüber hinaus ein weiterer Graben, nämlich der zwischen einer auch vor 1989 relativ ideologiefernen historischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung einerseits und der sowohl deutlich stärker national wie parteilich politisierten Neuzeithistoriografie.

Ivan Ilcevs Beitrag “Bulgarce da TE naricam purva radost e za mene” [Auch DICH Bulgare zu nennen, ist mir die größte Freude] (S. 97-116) geht der Frage nach, wie der 1878 gegründete Staat versucht hat, seine nationalen und religiösen Minderheiten – Türken, Griechen, Aromunen, Pomaken, Rumänen, Armenier, Roma, Juden, Muslime, Katholiken, Protestanten u. a. – zu “richtigen” Bulgaren zu machen. Als Bulgarisierungsagenturen dabei macht er Bildungswesen, Sprache, orthodoxe Kirche und Armee aus, als Methode eine positive Umarmungsstrategie mit dem Ziel der Assimilation. Um Erfolg bzw. Misserfolg dieser Strategie zu messen, untersucht Ilcev Produkte der Massenkultur, hier vor allem populäre Liedersammlungen, die mit Blick auf die Gesellschaft des jungen Staates ein deutlich differenzierteres Bild zeigen: Mit der Ausnahme einiger weniger “problemarmer” Gruppen wie Armenier oder Protestanten sahen sich fast alle Minderheiten spezifischen Aversionen der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Dies galt an erster Stelle für die Griechen, die mehrheitlich im Zuge einer Pogromwelle emigrierten, und für die Juden, die gleichfalls pogromartigen Übergriffen ausgesetzt waren. Die Kluft zwischen der Minderheitenpolitik des Staates und dem Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu den Minderheiten resultierte Ilcev zufolge im bulgarischen Fall in einer Modernisierung der zwei Geschwindigkeiten: Während Staat und Titularnation den Weg in die Moderne beschritten, galt dies nicht für das nicht-bulgarische Drittel der Bürger, jenen “fremdstämmigen, gesunden Kern, der sich mit dem Staat nicht verbunden fühlte” (S. 116).

Ebenfalls mit Mehrheits-Minderheits-Relationen befasst sich Michail Gruev in seinem fesselnden Beitrag “Pasportizacija ot 1953 g. i bulgarite mjusjulmani” [Die Personalausweiskampagne von 1953 und die bulgarischen Muslime] (S. 210-222). Die stalinistische Führung unter Vulko Cervenkov nutzte die Einführung von neuen Personaldokumenten für alle Staatsbürger dazu, die Pomaken, d. h. Muslime bulgarischer Zunge, unter Assimilierungsdruck zu setzen. Vor allem dort, wo die Pomaken sich ungeachtet ihrer Sprache als Türken definierten, leisteten sie erbitterten Widerstand gegen die Einordnung in die Ausweiskategorien “Bulgare” oder "Bulgaromohammedaner". Auch die Forderung, dass Frauen zur Herstellung von Passbildern ohne Schleier fotografiert werden sollten, stieß auf militante Ablehnung. So wurden etwa in dem großen Pomakendorf Ribnovo in den Westrhodopen ein Staatsbeamter von einer Frau mit einem Beil bedroht und eine Fotografin von einem Stein am Kopf getroffen. Das Ortskomitee Ribnovo der Bulgarischen Kommunistischen Partei hielt dieses Verhalten für vollauf gerechtfertigt, was das übergeordnete Bezirkskomitee in Blagoevgrad darauf zurückführte, dass der Ortskomiteevorsitzende und Dorfälteste Alija Kiselov zugleich als Vorstand des Moscheevereins tätig war. In seiner Doppelfunktion hatte Kiselov bereits im Vorjahr das BKP-Ortskomitee bewogen, den Bau einer neuen Moschee zu initiieren. Nach deren Fertigstellung diente das Gotteshaus dann dem Ortskomitee als Versammlungslokal. Auf dringendes Anraten sowohl des BKP-Kreiskomitees in Goce Delcev als auch des besagten Bezirkskomitees in Blagoevgrad sah das Politbüro des ZK der BKP von unmittelbaren Sanktionen gegen das Ortskomitee Ribnovo und seinen Vorsitzenden ab. Dies deshalb, weil eine Absetzung von Kiselov dazu geführt hätte, dass die Partei in Ribnovo schlicht nicht mehr präsent wäre. In anderen Städten und Dörfern der Westrhodopen gingen Staatsorgane und Parteiobere deutlich massiver vor, was zum einen eine Reihe jugendlicher Pomaken zur Flucht über die nahe Grenze nach Griechenland veranlasste, zum anderen zum Entstehen einer pomakischen Guerilla führte.

Die Pomaken, so die Berichte von Parteifunktionären, waren davon überzeugt, dass ihre Zustimmung zur Einordnung in die Ausweiskategorie "Bulgare" lediglich die Vorstufe zur zwangsweisen Änderung ihrer islamisch-arabischen Vor-, Vaters- und Familiennamen in christlich-slawische sowie zum Verbot des Besuchs der Moschee sei. Daher bestanden sie darauf, dass in den Ausweisdokumenten ihre ethnonationale Zugehörigkeit analog zu den BKP-Mitgliedsbüchern mit “Nationalität: Pomake” anzugeben sei. Die Partei reagierte nun zunehmend mit Verhaftungen, Blockaden von Dörfern durch Miliz und Armee sowie schließlich mit Zwangsumsiedlungen. Dennoch waren auch noch 1955 große Teile der Pomaken ohne neue Ausweisdokumente.

Gemäß Gruev zogen Staat und Partei aus den Erfahrungen der Personalausweiskampagne weit reichende Lehren für die Folgekampagnen: Sowohl die Durchsetzung des Schleierverbotes Ende der 1950er-Jahre als auch die Zwangsumbenennung Mitte der siebziger erfolgten zügig, da von Beginn an von massivem Miliz- und Militäreinsatz begleitet – entsprechend hoch war die Zahl der Todesopfer.

Nikolaj Poppetrov, der wohl originellste bulgarische Zeithistoriker, der nichts desto trotz nie einen Fuß in die Tür der bulgarischen Geschichtswissenschaft brachte und sich vor wie nach 1989 als Publizist durchschlägt, versucht in seinem ambitionierten Beitrag “Stremezut kum promjana ili ‚bjagstvo ot demokracijata'? Za njakoi osnovni tendencii v bulgarskoto obstestvo (1918-1944)” [Der Drang nach Veränderung oder ‚Flucht vor der Demokratie‘? Über einige grundlegende Tendenzen in der bulgarischen Gesellschaft (1918-1944)] (S. 148-166) den roten Faden der Entwicklung Bulgariens von der Niederlage an der Seite des deutschen Kaiserreiches 1918 bis zur Niederlage an der Seite des Dritten Reiches 1944 sichtbar zu machen. Seine Grundthese ist, dass es sich hier um eine “Periode verstärkten politischen Experimentierens” handelte, um zweieinhalb Jahrzehnte, die von einem in den drei Kriegen 1912-1918 gewachsenen Drang nach Veränderung geprägt waren. Dies macht er am Diskurs bulgarischer Politiker und Intellektueller in der Zwischenkriegszeit darüber fest, wie das demokratische Prinzip im bulgarischen Fall zu adaptieren sei. Ergebnis war die 1935 etablierte Königsherrschaft ohne Parteien, aber mit einem Parlament und freien Wahlen.

Zugleich erklären ihm zufolge die Intensität und der Konsens in dem besagten Diskurs den Umstand, dass die Staatsstreiche von 1923, 1934 und 1944 großteils vom selben Personal durchgeführt wurden, und dies obwohl in der Außensicht 1923 eine rechtsextremes Regime und 1944 eine kommunistische Diktatur etabliert wurden. Diesen ebenso profunden wie gut lesbaren Beiträgen stehen etliche zähe Kontributionen gegenüber, bei denen bereits die Titel an Fragestellungen der Zeit vor 1989 erinnern. Die Skizze des Militärhistorikers Georgi Daskalov “Bulgarskata nacionalna kauza v Egejska Makedonija v konteksta na elinizma i makedonizma (1941-1944)” [Die bulgarische nationale Sache in Ägäisch-Makedonien im Kontext von Hellenismus und Makedonismus (1941-1944)] behandelt die bulgarische Besatzung von Teilen Nordgriechenlands im Zweiten Weltkrieg und will einmal mehr den bulgarischen Charakter dieser Region “beweisen”. Deren dauerhafter Besitz wurde in der Sicht des Autors dem bulgarischen Staat aufgrund eines ungerechten Schicksals vorenthalten.

Überdies hätten griechische Nationalisten im Verbund mit jugoslawischen Titoisten versucht, mittels finsterer Machenschaften die autochthonen Bulgaren zu “Makedoniern” umzupolen. Bis in die Diktion hinein erinnert das an den die Geschichtswissenschaft bis 1989 prägenden bulgarischen Nationalkommunismus unter Partei- und Staatschef Todor Zivkov, zu dessen Protagonisten Daskalov damals gehörte.3 Sein Schlusssatz “Der bevorstehende Rückzug der Wehrmacht aus Griechenland und der bulgarischen Organe aus dem Weißmeergebiet [Griechisch-Thrakien] deaktualisierten die Bestrebungen der Bulgaren Ägäisch-Makedoniens zur nationalen Befreiung” kann als Paradebeispiel für die damals übliche nationalistisch-parteiliche Rabulistik gelten (S. 173).

Gleichfalls einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt der Essay des 2003 verstorbenen Zeithistorikers und Geschichtspolitikers Ilco Dimitrov, “Durzavnijat antisemitizum – mnozinstovo i malcinstvoto” [Der staatliche Antisemitismus – die Mehrheit und die Minderheit] (S. 174-183). Zum einen wird hier die vor 1989 außenpolitisch instrumentalisierte Legende einer “Rettung der bulgarischen Juden im Zweiten Weltkrieg” durch Partei und Volk unter Verweis auf die Kriegswende von Stalingrad partiell dekonstruiert. Zum anderen aber wird die historisch unbegründete Annahme von einer Antisemitismusresistenz der Bulgaren, gar von einer generellen “Toleranz des bulgarischen Volkes [...] gegenüber den übrigen ethnischen Gruppen im Lande” geäußert (S. 182f.). Als Bildungsminister unter Todor Zivkov sowie vor allem nach der Wende als postkommunistischer Parteipolitiker und Publizist (sowie erneut Bildungsminister!) hat Dimitrov durch Brandreden und Hetzschriften gegen die große Minderheit der Türken Bulgariens diese Annahme in eigener Person widerlegt.

Dieser und andere Beiträge im Bulgarien-Teil der Festschrift zeigen, dass hier wie in den anderen Balkanstaaten die Unterscheidung des demos vom ethnos, also der Unterschied zwischen Staatsvolk und Titularnation, für Politik wie Historiografie noch immer ein Problem darstellt.

Zugleich wird deutlich, dass in Geschichtswissenschaft wie Gesellschaft Bulgariens auch fast sechs Jahrzehnte nach der bis heute gültigen Grenzfestlegung von Paris 1946 der (nie Realität gewordene) Grenzverlauf eines Großbulgariens, wie er im Präliminarfriedens von San Stefano im Frühjahr 1878 zu Papier gebracht wurde, weiterhin als hochgradig wirkungsmächtige mental map fungiert. Damals hatte der russische Zar dem osmanischen Sultan die Abtretung fast aller seiner europäischen Territorien oktroiert, um daraus einen von der Donau an die Ägäis, vom Schwarzen Meer bis fast an die Adria reichenden bulgarischen Staat zu bilden. Mit Blick auf die Landkarte des Jahres 2005 hätte San-Stefano-Bulgarien neben dem Territorium des heutigen Bulgarien auch Teile Rumäniens, Serbien-Montenegros, Kosovas, Albaniens, Makedoniens, Griechenlands und der Türkei umfasst. Der Berliner Kongress vom Sommer 1878 revidierte dann bekanntlich dieses Maximalprogramm und führte zur Gründung des deutlich kleineren Fürstentums Bulgarien sowie einer bulgarisch dominierten autonomen osmanischen Provinz Ostrumelien.

So groß die Diskrepanz zwischen kritischer Geschichtswissenschaft und ethnozentrischem Geschichtsbild im Bulgarien-Teil der Festschrift ist, so groß ist die geografische Spannweite der Beiträge im Teil “Balkan und Welt”. Diese reicht von der Zentralisierung Frankreichs im 17. Jahrhundert (Borislav Gavrilov) und der US-amerikanischen Sklavenpolitik während des Bürgerkriegs (Andrej Pantev) über die alliierten Nachkriegspläne für Deutschland (Evgenija Kalinova) und die portugiesische Nelkenrevolution (Rumen Donkov) bis zur Solidarnosc-Zeit in Polen (Iskra Baeva) oder zum israelisch-palästinensischen Dialog in den 1990er-Jahren (Christina Mirceva). Während die mediävistischen Beiträge zur Gedenkschrift mangels Kompetenz unberücksichtigt bleiben müssen, sei aus denen zur Frühen Neuzeit auf Ivan Purvevs Aufsatz “Jugoiztocna Evropa v politiceskata publicistika na Svestenata Rimska imperija (1700-1789)” [Südosteuropa in der politischen Publizistik des Heiligen Römischen Reiches (1700-1789)] (S. 291-302) hingewiesen. Basierend auf umfangreichen Recherchen in den Bibliotheken von Wolfenbüttel, Göttingen, Mainz und Frankfurt am Main setzt Purvev das negative deutsche Osmanen- und Türken-Bild in Bezug zum zeitgenössischen Europadiskurs, der um die Frage kreiste “Müssen die Türken aus Europa vertrieben werden?” (S. 301).

Der Band enthält außerdem drei Beiträge über Lalkovs Werk und Wirken, darunter Elka Drosnevas detaillierte Studie “Edna kniga i nejnijat avtor” [Ein Buch und sein Autor] (S. 15-38), in der sie den ungewöhnlichen Publikumserfolg des Lalkovschen Auftragswerks “Aprilskoto vustanie 1876 – revoljucionna agitacija i propaganda” [Der April-Aufstand 1876 – revolutionäre Agitation und Propaganda] aus dem Jahr 1976 nachzeichnet. Hilfreich ist überdies die umfassende Bibliografie von Lalkovs Publikationen von Jordanka Spasova (S. 445-463) sowie ein tabellarischer Werdegang (S. 7f.).

Resümierend ist festzustellen, dass die “beschwerliche Übergangsphase”, in der Thomas Meininger die bulgarische Geschichtswissenschaft vor einem Jahrzehnt verortet hat 4, ganz offensichtlich weiter anhält. Das Festhalten an den verkrusteten Vor-Wende-Strukturen der monopolartigen Bulgarischen Akademie der Wissenschaften hat die aus den Universitäten kommenden Innovationsimpulse partiell neutralisiert und der brain drain vor allem junger Historiker in lukrativere Berufe und/oder ins Ausland wirkt in dieselbe Richtung. Allerdings steht dieser negativen Kontinuität das positive Kontinuum der beträchtlichen Wirkung gegenüber, die Außenseiter wie der genannte Nikolaj Poppetrov seit Jahren entfalten. Wie prägend dessen Rolle in der Anfang der 1980er-Jahre einsetzenden Debatte darüber war, ob es in Bulgarien einen genuinen Faschismus gegeben habe oder nicht, haben unlängst Daniela Koleva und Ivan Elenkov betont und belegt.5 Gleichfalls auf der Haben-Seite zu buchen sind die von Fachvertretern wie Lalkov, Pantev, Ilcev, Purvev u. a. frühzeitig initiierte Internationalisierung der bulgarischen Geschichtswissenschaft, das unvermindert hohe Niveau der historischen Mittelalter- und Frühneuzeitforschung sowie das (sich im anzuzeigenden Sammelband nicht manifestierende) Aufkommen einer historischen Anthropologie in Bulgarien.6 Und schließlich ist auf die Herausgeberin Iskra Baeva hinzuweisen, der das Verdienst zukommt, die Zeitgeschichte Bulgariens endlich in den Kontext von sowjetischer Hegemonie und RGW zu gestellt zu haben.7

Bleibt zum Schluss lediglich noch die Frage nach dem kryptischen Gedenkschrift-Obertitel “Die Ironie des Historikers”. Diesen erklärt die Herausgeberin in ihrem Vorwort damit, dass Lalkov nicht nur sich selbst und seiner Umgebung, sondern auch “den uns teuersten nationalen Helden und epochalen Ereignissen” mit “einem Körnchen Ironie” begegnet sei (S. 4). Wie ungewöhnlich dies in einer am nationalen Pathos fast erstickenden Geschichtswissenschaft wie der bulgarischen vor 1989 war, es offenkundig aber auch danach blieb, ist wohl nur in der Binnenperspektive höchstens ausnahmsweise in der Außensicht zu erfassen: Als der Rezensent im Wintersemester 1976/77 als bundesdeutscher Austauschstudent an der Kliment-Ochridski-Universität Sofija erstmals das Büro des damaligen Oberassistenten Lalkov betrat, befremdete ihn das überdimensionierte Modell eines sowjetischen T 54-Panzers auf dessen Schreibtisch. Erst später dämmerte, dass dies ein ebenso unkonventionelles wie wirksames Mittel zur Abschreckung von Ansinnen universitärer Partei-, Komsomol- und Gewerkschaftsorganisationen war. Möge ihm die Erde leicht sein.

Anmerkungen:
1 Lalkov, Milco, Balkanskata politika na Avstro-Ungarija 1914-1917. Avstro-ungarskata diplomacija v borba za sujuznici prez Purvata svetovna vojna [Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns. Die österreichisch-ungarische Diplomatie im Kampf um Verbündete im Ersten Weltkrieg], Sofija 1983; Ders., Bulgarija v balkanskata politika na Avstro-Ungarija 1878-1903 [Bulgarien in der Balkanpolitik Österreich-Ungarns 1879-1903], Sofija 1993.
2 Siehe dazu Friedrich, Wolfgang-Uwe, Die bulgarische Geschichtswissenschaft im Spannungsfeld zwischen ideologischem Anspruch und historischer Realität. Die Geschichtsschreibung der Befreiungsbewegung und die Anfänge des Nationalstaats, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 29 (1981), S. 412-435; Hoppe, Hans-Joachim, Politik und Geschichtswissenschaft in Bulgarien 1968-1978, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 28 (1980), S. 243-286.
3 Vgl. etwa sein Buch Bulgaro-jugoslavski politiceski otnosenija 1944-1945 [Bulgarisch-jugoslawischen politische Beziehungen 1944-1945], Sofija 1989.
4 Meininger, Thomas A., A Troubled Transition. Bulgarian Historiography, 1989-94, in: Contemporary European History 5 (1996), S. 103-188; siehe zur Nach-Wende-Entwicklung auch: Todorova, Maria, Historiography of the Countries of Eastern Europe. Bulgaria, in: American Historical Review 97 (1992), S. 1105-1117; Preshlenova, Roumiana, Freiheit als Verwantwortung. Die Historiographie in Bulgarien nach dem Umbruch, in: Ivanisevic, Alojz u.a. (Hgg.): Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, Wien 2002, S. 473-486; Höpken, Wolfgang, "Kontinuität im Wandel". Historiographie in Bulgarien seit der Wende, Wien 2002, S. 487-498.
5 Koleva, Daniela, Ivan Elenkov, Did "the Change" Happen? Post-socialist Historiography in Bulgaria, in: Brunnbauer, Ulf (Hgg.): (Re)Writing History. Historiography in Southeast Europe after Socialism, Münster 2004, S. 94-127, bes. S. 113-120, siehe dazu auch meine Besprechung in H-Soz-u-Kult, 11.10.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-023>.
6 Siehe dazu Brunnbauer, Ulf, Historische Anthropologie in Bulgarien. Die schwierige Geburt einer neuen Konzeption, in: Historische Anthropologie 7,1 (1999), S. 129-145.
7 Siehe Baeva, Iskra, Iztocna Evropa sled Stalin 1953-1956. Polsa, Ungarija, Bulgarija i Cechoslovakija [Osteuropa nach Stalin 1953-1956. Polen, Ungarn, Bulgarien und die Tschechoslovakei], Sofija 1995; Dies., Bulgarija i Iztocna Evropa [Bulgarien und Osteuropa], Sofija 2001; Dies.; Kalinova, Evgenija, Bulgarskite prechodi 1939-2002 [Bulgarische Übergänge 1939-2002], Sofija 2002; vgl. auch Kalinova, Evguenia, Iskra Baeva. La Bulgarie contemporaine entre l‘est et l‘ouest, Paris 2001.

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