K. Neidhart: Nationalsozialistisches Gedankengut in der Schweiz

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Titel
Nationalsozialistisches Gedankengut in der Schweiz. Eine vergleichende Studie schweizerischer und deutscher Schulbücher zwischen 1900 und 1945


Autor(en)
Neidhart, Karin
Reihe
Menschen und Strukturen 13
Erschienen
Anzahl Seiten
434
Preis
€ 68,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Hieber, Gymnasium Muristalden Bern

Ausgangspunkt für Karin Neidharts Studie ist die Feststellung, dass trotz zahlreichen Untersuchungen zu nationalen und rechtskonservativen Bewegungen und Strömungen in der Schweiz der Zwischenkriegszeit, die „damals vorherrschende Geisteshaltung in der schweizerischen Bevölkerung“ noch weitgehend „unbekannt“ sei (S. 12). Diese Lücke zu schliessen macht Neidhart zum Vorhaben ihrer Dissertation.

Karin Neidhart erörtert ihr Thema mittels einer komparativ angelegten Schulbuchanalyse. Deutsche und schweizerische Schul- und Lesebücher vornehmlich der Mittel- und Oberstufe aus verschiedenen einschlägigen Fachgebieten – namentlich Geografie, Geschichte und Biologie – werden einer systematischen Lektüre unterzogen und nach vier Themengebieten hin befragt: I. Das Verhältnis der Menschen zur Umwelt (S. 31-104), II. Fremde Rassen und das eigene Volk (S. 105-198), III. Politik, Heldentum und Krieg (S. 199-286) sowie IV. Das Selbstbild in Geschichte und Gegenwart (S. 287-404). Referenzpunkt für die Frage, inwiefern die nationalsozialistische Ideologie in der Schweiz verbreitet war, wären demnach die Parallelen beziehungsweise die Unterschiede zwischen den schweizerischen und den nationalsozialistischen Lehrmitteln in Bezug auf die Werthaltung, welche hinter der Behandlung der Themen liegt.

Um eine bessere Trennschärfe zu erhalten und überdies der mittelfristigen mentalitätsgeschichtlichen Entwicklung besser gerecht zu werden, untersucht Neidhart nicht nur Schulbücher der 1930er und 1940er-Jahre, sondern greift mit ihrer Auswahl sowohl für Deutschland als auch für die Schweiz bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, so dass der Zeitraum von 1900 bis 1945 für beide Vergleichsländer abgedeckt ist. Für Deutschland wird dieser Ausdehnung des Untersuchungszeitraums insofern auch in der Darstellung entsprochen, als die Schulbücher vor 1933 und nach 1933 separat thematisiert werden. Die vier erwähnten Themen werden also nach einander für das nationalsozialistische Deutschland, für Deutschland vor 1933 und für die Schweiz abgehandelt. Zwar achtet Neidhart bei der Auswahl der Schul- und Lesebücher auch auf deren regionale Herkunft, verzichtet jedoch in der Auswertung auf eine entsprechende Differenzierung. Für die Schweiz werden leider ausschliesslich deutschsprachige Quellen miteinbezogen, womit auch allfällige Unterschiede der Perzeption und Rezeption zwischen der Deutschschweiz und der Westschweiz nicht festgestellt werden können.

Neidhart verzichtet bewusst darauf, die überaus umfangreiche Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Ideologie zu konsultieren. Sie argumentiert, dass sie ihren Ideologiebegriff aus den Primärquellen gewinnen wolle, um nicht mit „vorgefassten Kategorien an die Analyse“ (S. 16) heranzutreten.

Im ersten Themengebiet legt Neidhart den Fokus auf drei Aspekte: Naturverständnis, Bewertung von Stadt und Land und Beurteilung von Technik, Wissenschaft und Industrie. Es kann hier nicht im Einzelnen auf die Ergebnisse eingegangen werden. Interessant ist jedoch die Feststellung, dass es in der Schweiz und in Deutschland bereits im Verlaufe der 1920er-Jahre zunehmend zu einer Akzentuierung des Tonfalls in Richtung Romantisierung der Natur bei gleichzeitigem Stolz über die Bewältigung derselben kommt. Auch kommt es in beiden Ländern zu einer einseitig positiven Beurteilung und Bevorzugung des Landes gegenüber der Stadt, während Industrie, Technik und Wissenschaft mit Stolz und Leistungsbewusstsein thematisiert werden. Insofern wirkt die nochmals verstärkte Ideologisierung unter dem Nationalsozialismus – die freilich in den schweizerischen Schulbüchern nicht mehr mitgemacht wird – wie eine drastische Fortsetzung von bereits in der Zwischenkriegszeit vorgespurten ideologischen Verschiebungen.

Im zweiten Themenfeld – die fremden Rassen und das eigene Volk – geht Neidhart dem Rassediskurs, dem Verhältnis zum Judentum sowie dem Kulturverständnis in den Schulbüchern nach. Hier stellt sie in Bezug auf die Juden markantere Unterschiede zwischen den nationalsozialistischen Büchern und denjenigen aus der Schweiz beziehungsweise aus Deutschland vor 1933 fest. In der nationalsozialistischen Schulbuchliteratur ist das Thema Judentum sehr dominant; für die anderen Kategorien hat es praktisch keine Bedeutung. Kaum nachvollziehbar ist Neidharts Urteil hinsichtlich des Rassediskurses. Während in den vorgängigen Kapiteln deutliche Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland hervortreten, gelangt sie im Fazitkapitel zum Schluss, dass sich in „allen drei Buchkategorien durchaus analoge Gedankengänge“ (S. 194) finden liessen. Im dritten Themenfeld geht Neidhart den politischen Vorstellungen, der Bedeutung des Heldentums und der Darstellung des Krieges nach. Sie stellt fest, dass in den schweizerischen Lehrmitteln, im Gegensatz zu den nationalsozialistischen, ein positives Verhältnis zu Aufklärung und Französischer Revolution abgebildet wird, während sich die Haltungen der Schulbücher bezüglich Heldentum und Krieg stärker gleichen. Deutlicher als in den anderen Teilen werden hier die Grenzen des komparatistischen Ansatzes sichtbar. Unterschiedliche historische Ereignisse und Persönlichkeiten sowie gänzlich verschiedene politische Kulturen stellen die Grundlage dar, auf der Neidhart ihre Vergleichsuntersuchung aufbaut. In dieser Lesart wird die negative Beurteilung der Helvetik in schweizerischen Schulbüchern ab 1920 zur antirevolutionären Stellungnahme erklärt; Wilhelm Tell und Zwingli auf der einen Seite, Friedrich der Grosse auf der anderen Seite als Prüfsteine für den Umgang mit Heldentum verwendet.

Im vierten Themenfeld – Selbstbild in Geschichte und Gegenwart – nimmt Neidhart die Geschichtsschreibung, so wie sie sich in den Schul- und Lesebücher präsentiert, in den Fokus. Sie stellt fest, dass es in der Schweiz wie in Deutschland ab 1930 zu einer zunehmenden Verengung des Wahrnehmungshorizontes kommt. Die Schulbücher beschäftigen sich immer stärker ausschliesslich mit dem eigenen Land und wehren äussere Einflüsse, ja generell Fremdes immer stärker ab. Während jedoch in Deutschland das völkische Element zur zentralen Erklärung des „Deutschen“ schlechthin entwickelt wird, rekurrieren die schweizerischen Schulbücher auf den gemeinsamen schweizerischen Willen zu Demokratie und politischer Unabhängigkeit; zuweilen kommt es sogar zur Zelebrierung der Verschiedenartigkeit der ethnischen Zusammensetzung der Schweiz.

In einem Schlussvergleich ordnet Karin Neidhart ihre Ergebnisse in den Kontext der „Geistigen Landesverteidigung“ ein. Hier verlässt sie nun den textimmanenten Deutungsansatz und zieht weitere Materialien bei. Das Kapitel ist anregend und aufschlussreich und macht zudem klar, dass Neidharts Ansatz durchaus vielversprechend wäre, wenn eine zusätzliche Einbettung erfolgen würde.

Die Angemessenheit des methodischen Verfahrens muss angesichts der ehrgeizigen Zielsetzung – immerhin beschäftigt sich die Arbeit mit nichts Geringerem als der vorherrschenden Geisteshaltung in der Schweiz – in mehrerer Hinsicht in Frage gestellt werden. Die methodische Prämisse, wonach die schweizerischen Schulbücher – im Gegensatz zu ihren Pendants aus Deutschland – Aufschluss gäben über verbreitete Ideologien, dürfte kaum in dem Masse zutreffen, wie dies Neidhart darzulegen versucht. Zwar unterstehen Lehrmittelauswahl und -produktion in der Schweiz durchaus einer formellen (wenn auch sehr indirekten) demokratischen Kontrolle, was Neidhart in einem gesonderten Kapitel thematisiert. Aus diesem Umstand den Umkehrschluss zu ziehen und davon auszugehen, dass die Schulbücher deswegen auch die allgemein verbreitete Geisteshaltung der Bevölkerung wiedergeben, ist zumindest gewagt. Lehrmittel entstehen in einem komplexen Spannungsfeld von neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, didaktischen Trends, inhaltlichen Vorgaben der Lehrpläne, politischen Interessen und persönlichen Präferenzen der Autoren und Herausgeber und anderem mehr. Zudem entfalten diese Einflüsse aufgrund der langen Produktionsdauer ihre Wirkung in der Regel mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung. Natürlich bergen Schul- und Lesebücher auch Hinweise auf vorherrschende oder im Aufschwung befindliche ideologische Positionen. Dies ist aber nicht ihr einziger Entstehungsgrund. Inhalt und ideologische Ausrichtung von Lehrmitteln dürften vermutlich viel eher Rückschlüsse auf die Geisteshaltungen der gesellschaftlichen Eliten als auf diejenige der Bevölkerung zulassen.

Ein zweites Fragezeichen muss hinter den der Arbeit zugrunde liegendem Ideologiebegriff gesetzt werden. Neidhart verzichtet bei der theoretischen Fundierung bewusst auf den Rückgriff auf die einschlägige Literatur zur NS-Ideologie. Dies um sich einen unverstellten Blick auf ihr Quellenmaterial zu bewahren. Ein solches Verfahren ist durchaus legitim und fruchtbar, sofern dann versucht wird, aus den Quellen einen klar umrissenen Ideologiebegriff zu gewinnen. Dies geschieht jedoch viel zu wenig. Die NS-Ideologie bleibt bei Neidhart letztlich intuitiv und unscharf und kann daher auch nur sehr bedingt als hermeneutischer Zugang zu den Schulbüchern operationalisiert werden. Hier vergibt sich Neidhart viel: Ein aus den Quellen gewonnener Ideologiebegriff hätte nicht nur eine konsistentere Bewertung des Materials ermöglicht, sondern seinerseits wiederum als Folie und prüfendes Gegenüber für die zahlreichen Forschungen zur NS-Ideologie dienen können.
Sieht man von den methodisch-konzeptionellen Defiziten ab, bietet die Arbeit eine Vielzahl von aufschlussreichen und interessanten Befunden. In einem ersten Schritt macht Neidhart für alle drei Kategorien (NS-Deutschland, Deutschland vor 1933, Schweiz) jeweils eine grosszügige Auslegeordnung mit einer sorgfältigen jedoch praktisch durchgehend textimmanenten Quelleninterpretation. Erst in den kurzen, abschliessenden Fazitkapiteln vergleicht sie die Ergebnisse und macht allgemeine Aussagen zur Einordnung. Zumindest in diesen bilanzierenden Kapiteln wäre eine Kontextualisierung in den übrigen Diskurs unter Einbezug weiterer Quellen oder Darstellungen unbedingt notwendig gewesen. Mit Ausnahme eines Exkurses zum Antisemitismus in der Schweiz und dem erwähnten ansprechenden Schlusskapitel, in dem Karin Neidhart die Ergebnisse der Schulbuchanalyse in den Kontext der „Geistigen Landesverteidigung“ stellt, überlässt sie den Leser in diesem Prozess jedoch weitgehend sich selbst.

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