G. Eakin-Thimme: Geschichte im Exil

Cover
Titel
Geschichte im Exil. Deutschsprachige Historiker nach 1933


Autor(en)
Eakin-Thimme, Gabriela A.
Reihe
Forum Deutsche Geschichte 8
Erschienen
München 2005: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Department of History, Yeshiva University New York

Die über das Meer fahren, schrieb der Dichter Horaz, wechseln den Himmel, nicht aber die seelische Einstellung. Gabriela Eakin-Thimme, die diese Zeilen an den Beginn ihrer lesenswerten Studie stellt, weißt mir Recht darauf hin, dass dies im Falle des Exils nur die halbe Wahrheit ist. Denn, so schreibt sie, die aus Deutschland ab 1933 vertriebenen Historiker „wechselten nicht nur den Himmel, sondern auch ihre Arbeitswelt“ (S. 10). Deshalb legt die Autorin den Schwerpunkt ihrer Abhandlung nicht auf den spezifischen Beitrag einzelner exilierter Historiker zur Entwicklung der Fachdisziplin ihrer neuen Heimatländer. Vielmehr untersucht sie vorrangig die Abhängigkeit des wissenschaftlichen Wirkens einer großen Gruppe von Gelehrten, nämlich der Exilhistoriker, „von den spezifischen Konstellationen des aufnehmenden sozialen Umfeldes“ (S. 9).

Eakin-Thimme wendet sich der Integration (oder Nicht-Integration) deutschsprachiger Historiker in den drei wichtigsten Exilländern zu: den USA (die fraglos das wichtigste Aufnahmeland waren), Großbritannien und Palästina/Israel. Lediglich erwähnt werden deutsche Historiker in den Niederlanden, Frankreich, Schweden und der Türkei. Die oft mit tragischen Schicksalen unter dem Stalinismus verbundenen Lebenswege deutscher und österreichischer Historiker in der Sowjetunion bleiben ausgespart. Der Untersuchungsraum – die angelsächsische Welt, zu der in gewisser Weise auch das britische Mandatsgebiet Palästina gehörte – offenbart jedoch wichtige Unterschiede: Zunächst konnten deutsche Historiker nur in den USA, erst seit den 1960er-Jahren in Israel und nur in Einzelfällen in Großbritannien fest Fuß fassen. Nur in diesen drei Ländern ergab sich ein institutionell abgesicherter Austausch von Ideen mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft des Aufnahmelandes. In England, dies sei zur Ergänzung mitgeteilt, beeinflussten Emigranten aus Ostmitteleuropa – von Lewis Namier bis Isaac Deutscher – weit stärker die öffentlichen Debatten über historische und vor allem zeithistorische Probleme, als es deutsche oder österreichische Historiker taten.

Die Autorin listet 98 Historiker und Historikerinnen auf, die, nach abgeschlossenem Studium oder inmitten ihrer wissenschaftlichen Laufbahn stehend, durch den Nazismus vertrieben wurden. Sie merkt selbst an, dass diese Namensliste keineswegs vollständig ist. Quantitativ lässt sich feststellen, dass – allerdings oft nach langer Ungewissheit – etwa ein Drittel aller Historiker dauerhaft an Universitäten oder in anderen Forschungseinrichtungen unterkam, ein weiteres Drittel an kleineren Liberal Arts Colleges und wiederum ein Drittel bestenfalls am Rande des Berufs blieb, etwa im Bibliotheksdienst, oder den Beruf wechseln musste.

Überall trafen die Exilhistoriker zunächst auf einen Arbeitsmarkt, der sich ihnen nur zögerlich öffnete. Die schwere Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen, das seit dem Ersten Weltkrieg spürbare Ressentiment gegen Deutsche und antisemitische Vorbehalte trafen bisweilen zusammen. Palästina hatte damals überhaupt nur eine Universität und war seit 1936 durch den (zweiten) arabisch-jüdischen Bürgerkrieg zerrissen. So erstaunt es nicht, dass sich Großbritannien und Palästina für eine Reihe von Historikern nur als Transitländer auf ihrem Weg in die USA erweisen sollten.

Inhaltlich geht Eakin-Thimme vor allem zwei Fragen nach: Zum einen sucht sie nach allgemeinen Schlussfolgerungen, die sich für die Exilanten durch den drastischen Wechsel ihres Lebensbezugs ergaben, zum anderen geht sie einem spezifischen Beitrag nach, den die Historiker, über ihr individuelles Wirken hinaus, zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft leisteten.

Detailliert zeigt die Verfasserin, wie die meisten Exilhistoriker, deren politische Überzeugungen sehr voneinander abwichen, den Gedanken an eine wertfreie Wissenschaft fallenließen, schon deshalb, weil sie sich mit dem nazistischen Ungeist auch im Bereich ihrer Wissenschaft auseinandersetzen mussten. Auch Althistoriker und Mediävisten bezogen unter dem Zwang der Ereignisse zeitgeschichtlich relevante Fragestellungen in ihre Arbeit ein, ohne dabei ihre bisherigen Forschungsthemen aufzugeben. Der Aufstieg der Diktatoren und das Zurückweichen der westlichen Demokratien vor ihnen, wie es sich im Spanienkrieg und im Münchner Abkommen zeigte, konnte an den Exilhistorikern nicht vorübergehen. So wandte sich Hans Rosenberg unter dem Eindruck der aktuellen Weltwirtschaftskrise und ihrer Folgen einer ihrer Vorläufer zu, der Wirtschaftskrise von 1857/58, sein Namensvetter Arthur Rosenberg suchte Faschismus, Demokratie und Sozialismus über Epochengrenzen hinweg zu analysieren, Helene Wieruszowski oder Hans Baron suchten die mittelalterliche Universitätsidee und den italienischen Bürgerhumanismus der Renaissance als Ausgangspunkte eines kritisch-rationalen Denkens zu begreifen, das sie den faschistischen Geschichtskonstruktionen entgegenstellten. Sogar Hans Rothfels, vor 1933 dem völkischen Denken zugetan, schrieb die erste Studie über die deutsche Opposition gegen Hitler. Der zunächst ähnlich gesonnene Gerhard Masur wurde zum Biografen Simon Bolivars, des Befreiers von Südamerika.

Die exilierten Wissenschaftler waren trotz der Unterstützung, die britische oder amerikanische Kollegen ihnen anboten, zuerst weitgehend auf sich gestellt. Zwar bildeten deutsche und angelsächsische Gelehrte Hilfsorganisationen, wie die “Society for the Protection of Science and Learning” in London oder das “Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars” in New York. Doch konnten diese Organisationen bestenfalls kurzfristig angelegte und niedrig dotierte Universitätslektorate anbieten.

Paradoxerweise wurde der Zweite Weltkrieg und vor allem die absehbare Besetzung Deutschlands durch die Alliierten für viele Exilanten zum Ausweg aus der beruflichen Sackgasse. Nun benötigten die britischen und amerikanischen Geheimdienste und Militärverwaltungen Deutschlandexperten. Die Qualität der von den Exilhistorikern gelieferten Expertisen empfahl ihre Verfasser endlich auch für reguläre Arbeitsverhältnisse an Universitäten. Aus deutschen Gelehrten wurden amerikanische, seltener britische oder israelische Hochschullehrer. Habituell blieben manche Ältere unter ihnen dem Typ des deutschen Professors verhaftet, was z.B. für G. W. F. Hallgarten zu unlösbaren beruflichen Problemen führte. Andere, so Hans Rosenberg oder Hans Kohn, wurden zu beliebten amerikanischen Universitätslehrern, die eine große Zahl von Studenten ausbildeten.

Unter dem Strich nennt Eakin-Thimme als entscheidenden Beitrag der deutschen Exilhistoriker die Entwicklung und Verfeinerung der „social history of ideas“ als eigenständige Forschungsrichtung. Als Bürger mehrerer Welten untersuchten sie die Geschichte verschiedener Länder, wobei Deutschland oft, aber nicht immer, im Zentrum vergleichender Analysen stand. Dabei mussten die Exilhistoriker, gewissermaßen, an zwei Fronten kämpfen: Einerseits suchten sie als Rückkehrer oder bei Gastaufenthalten den Deutschen nach 1945 ein Geschichtsbild zu vermitteln, das die Ideen der Demokratie, zumal des politischen Liberalismus hochhielt, ohne aber die soziale Frage auszuklammern. Andererseits warnten sie ihre angelsächsischen Kollegen vor einer teleologischen Sicht auf die deutsche Geschichte, der zufolge ein gerader Weg von Luther bis zu Hitler und in die Katastrophe geführt habe. Vielmehr gingen die Exilhistoriker den – nur allzu oft gescheiterten – demokratischen Alternativen zu obrigkeitsstaatlichem Denken und Handeln nach. Die Beiträge etwa von Gustav Mayer, Arthur Rosenberg oder Carl Landauer zur Erforschung der Arbeiterbewegung verdienen in diesem Zusammenhang genannt zu werden.

Die insgesamt überzeugende Leistung der Autorin sei hervorgehoben, einige kritische Punkte dennoch angesprochen: Zwar kann die Auswahl der behandelten Exilhistoriker schon aus pragmatischen Gründen nicht auf Vollständigkeit hin angelegt sein, dennoch verwundert das Fehlen bekannter Namen. Unter den Urgeschichtlern und Althistorikern hätten Gerhard Bersu, Margarethe Bieber und Kurt von Fritz genannt werden müssen; der international herausragende Frühneuzeitler Hubert Jedin, Emigrant im Vatikan, bleibt unerwähnt. Hermann Duncker, 1903 in Leipzig von Karl Bücher und Karl Lamprecht promoviert und anschließend in der Arbeiterbildung tätig, fehlt ebenso wie – und das ist besonders gravierend – Jürgen Kuczynski. Zwar war Kuczynski promovierter Wirtschaftswissenschaftler, hatte aber im Nebenfach Geschichte studiert und bereits vor 1933 einige historische Bücher veröffentlicht. Seine Wirkung ist auch im Exil nachweisbar und ging weit über die DDR oder Deutschland hinaus.

Hinzu kommen einige Ungenauigkeiten und Fehler: Die Emigrationsdaten von Ernst Engelberg, der in Berlin, nicht in München promoviert wurde, sind falsch, seine Haft unter Hitler und sein Exil in der Schweiz sind nicht erwähnt. Auch kam er nicht im Rahmen des Förderungsprogramms der türkischen Regierung nach Istanbul, sondern durch die Vermittlung Max Horkheimers. Dies alles hätte die Autorin leicht herausfinden können, zumal Engelberg, inzwischen 96-jährig, für Fragen noch zur Verfügung steht.

Gabriela Eakin-Thimme hat die Debatte über Leben, Werk und Wirkung deutschsprachiger Exilhistoriker ein gutes Stück voran gebracht, aber es bleibt noch einiges zu tun.

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