D. Hüser: Französische Zeitgeschichte populärer Musik

Titel
RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur


Autor(en)
Hüser, Dietmar
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
489 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Fickers, Institute of Media and Re/Presentation, Utrecht University

Eine Musik, die "polarisiert, Verrohungsdebatten und Indizierungen inklusive" - so lautete kürzlich die überspitzte Charakterisierung der Berliner "bösen Rap-Szene" durch ZEIT-Redakteur Thomas Gross in seinem Artikel "Avantgarde der Härte".1 Das "Drohpotential", welche "diese Kultur von unten für die Majorität entfalte", so Gross, sei angesichts zunehmender sozialer Härte kritisch auf seine Indikatorfunktion zukünftigen Werteverfalls unter Jugendlichen zu hinterfragen. Dass es ausgerechnet jene Minderheit radikaler Rapper sogar bis zum heute-journalistischen Ritterschlag geschafft hat, bestätigt auf verblüffende Weise die Interpretation von Dietmar Hüser, dass verbale Gewalt zwar durchaus zum Repertoire des angriffslustigen Sprachgesangs gehöre - genau so wie Jugendkriminalität und Bandenkrawalle Bestandteil der Vorstadt-Realität seien -, es sich hierbei aber keineswegs um die "ganze Realität" handele, sondern lediglich um die "ganze Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit". (S. 305) Mit Bourdieu argumentierend weist Hüser darauf hin, dass nicht das Normale, sondern nur das Besondere Nachrichten- und Verkaufswert habe, da es sich so wunderbar für "pathetische Empörung" und "moralisierende Betrachtungen" eigne.2

Mag man zu diesen unterschiedlichen Einschätzungen der medialen Repräsentation populärer Musikkultur stehen wie man will, so bestätigt die mediale Aufmerksamkeit vor allem eines: dass es sich beim Rap nicht "nur" um eine spezifische Form jugendkultureller und populärmusikalischer Praxis handelt, sondern - und so lautet eine der Kernthesen des Buches von Hüser - um eine implizit politische Form gesellschaftlicher Partizipation. Um genau jene Ambivalenz, die jugend- und subkulturellen Äußerungsformen eigen ist, nämlich die politische Dimension der kulturellen Aktion und die kulturelle Dimension des politischen Engagements, geht es Hüser in seiner Habilitationsschrift zur französischen Hip-Hop-Kultur der letzten zwanzig Jahre. Ausgehend von einem Kulturverständnis, welches Kultur als "verzwackt, verzettelt und verschachtelt, als heterogen und mehrdeutig, als erlernbar, sozial vermittelt und dynamisch" (S. 17) begreift, umkreist der in Kassel lehrende Historiker seinen Untersuchungsgegenstand in mehreren Schleifen, in denen er sich - der Komplexität seines Gegenstandes gerecht werdend - mit variierendem methodischen Arsenal und wechselnder Beobachterperspektive an die Darstellung, Analyse und Interpretation der mannigfachigen Bedeutungen des kulturellen Produktes Rap macht. Dem selbst gesetzten Ziel, durch dieses Potpourri an Fragestellungen und Erkenntsinteressen das "eminente Potential zeithistorischer Forschung" aufzuzeigen, ist Hüser nach Meinung des Rezensenten durchaus gerecht geworden.

Doch zunächst zum Aufbau und zur Gliederung des Buches. Ausgehend von der Überlegung, dass sich mittels multipler Kontextualisierung von Rap-Musik grundlegende Aussagen über die französische Politik und Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts erstellen lassen, entwirft Hüser in seinem Buch vier thematische Felder, die er mit jeweils unterschiedlichen disziplinären und methodischen Instrumentarien bestellt. Überschrieben mit "Verortungen - Zentrum und Peripherie", "Ausdrucksformen - Jugend und Musik", "Tragweiten - Republik und Nation" sowie "Zeitgeschichten - Kultur und Politik" bietet der Autor dem Leser einen deutlich strukturierten und thematisch differenzierten Einstieg in die Materie. Je nach Nutzungsziel oder Erkenntnisinteresse des Lesers ist es als Vor- oder Nachteil zu werten, dass sich die vier Hauptkapitel als relativ geschlossene Darstellungen präsentieren und demnach durchaus isoliert voneinander lesen lassen. Ist den ersten zwei Hauptkapiteln die Tendenz gemein, die "Themen aus den Texten heraus(zu)lesen", was eine dementsprechend induktiv ausgelegte Argumentationsweise nach sich zieht, vollzieht der Autor mit den beiden letzten Hauptkapiteln einen Perspektivwechsel, in dem er stärker historisch-deduktiv argumentierend nach den staatlichen und gesellschaftlichen Kontexten Ausschau hält, die sich im Rap-Diskurs implizit äußern. Abgerundet wird die Studie durch ein thematisch aufgegliedertes Literaturverzeichnis, das der breiten disziplinären Einbettung Rechnung trägt, sowie ein Quellenverzeichnis inklusive Discografie.

Eröffnet wird Hüsers Studie durch eine 40 Seiten starke Einleitung, die in vorbildhafter Präzision und Deutlichkeit Aufschluss über theoretische Verankerung, methodische Herangehensweise, Literatur- und Quellenbasis sowie Gliederung und Fragestellung gibt. In ihr entfaltet Hüser dem Leser sein Programm einer politischen Kulturgeschichte populärer Musik, die - so die deutliche Abgrenzung Hüsers gegenüber ähnlich klingenden Projekten - politische Kultur nicht primär vom Politischen, sondern gleichberechtigt vom Kulturellen her begreifen möchte. Sein Anliegen ist es, "politische Handlungen als kulturelle Praktiken und populäre Erscheinungen wie Rap als politikrelevante Akte ernst zu nehmen, jeweils für sich wie in gegenseitiger Verschränkung". (S. 37). Mag dies in den Ohren von Kultursoziologen, Anthropologen oder Medienwissenschaftlern wenig innovativ klingen - schließlich handelt es sich hier um das Glaubenbekenntnis der Cultural Studies, die wie der Rap auf eine mittlerweile dreißigjährige Geschichte zurückblicken können, geht es Hüser um eine konsequente Historisierung der kulturellen Praxis des Rap. Eine Zeitgeschichte politischer Kultur und populärer Musik bedeutet für Hüser, die historischen Befindlichkeiten und Erfahrungen seiner Rap-Protagonisten in einem Netzwerk aus synchronen und diachronen Verbindungslinien zu verorten, um so das Kulturphänomen Rap nicht nur in seiner Buntheit, sondern vor allem in seiner Geschichtlichkeit, in seiner Hybridität und Eingekeiltheit in den "Spannungszonen zwischen Tradition und Wandel" zu analysieren und zu interpretieren. (S. 37.)

Hüser startet seine Untersuchung mit einer informativen und für Rap-Laien notwendigen Verortung dieses modernen Sprechgesangs in musikhistorische und populärkulturelle Kontexte, die gleichermaßen die globalen Verbindungslinien des französischen HipHop mit der stark englischsprachig geprägten RAP-Kultur zeigen als auch die Besonderheiten der französischen Aneignung und Ausprägung dieser Musik- und Tanzkultur beleuchtet. Unter dem Schlagwort "Glokalisierung" schildert Hüser am Beispiel des HipHop die teilweise paradoxen, zumindest aber ambivalenten Wirkungen eines massenmedial vermittelten kulturellen Globalisierungsprozesses, der in Anlehnung an musikwissenschaftliche Studien als "postimperiales Modell" globalen Kulturtransfers beschrieben wird. Im Sinne der Cultural Studies wird Rap in Frankreich als ein "Emanzipationsprozess der Aufnahme, Aneignung und Abwandlung eines transatlantischen Musikimports afro-amerikanischer Herkunft" begriffen (S. 67), womit auch die Konzentration der Studie auf den französischen Raum ihre Legitimation erfährt. Die Tatsache, dass Rap und HipHop in Frankreich innerhalb eines Jahrzehnts (1990er-Jahre) von einer Kuriosität zur Institution geworden sind (Frankreich ist nach den USA zum zweitgrößten Rap-Markt der Welt avanciert), unterstreicht sowohl die kulturelle wie gesellschaftspolitische Bedeutung, die dem Rap im Hexagon zukommt. Sicherlich muss der am 1. Februar 1994 per Gesetz verabschiedete Quotierungskodex für den Rundfunk als Akt staatlicher Subvention französischsprachigen Raps gedeutet werden 3, doch erklärt dieser kulturpolitische Missionsakt des sozialistischen Präsidenten Mitterand den Erfolg des Rap nicht. Auf die "jugendkulturelle[n] und populärmusikalische[n] Gretchenfrage", wie es eigentlich gelingen kann, "trotz politisch unmissverständlicher Aussagen die Zuhörerschaft zu bezaubern und zu verführen", weiß Hüser eine knappe und deutliche Antwort zu geben: Es sei gerade der im Vergleich zu anderen Varianten kommerzieller Musikkultur auffällig hohe Politisierungsgrad des Rap und Hip-Hop, der die Attraktivität des Genre bei französischen Jugendlichen erkläre. Denn: "Rap und Hip-Hop [wollen] gehört, aber auch gelesen werden"! (S. 112).

Es sind jene gesellschaftspolitisch aufgeladenen Botschaften des Rap, denen sich Hüser im zweiten Hauptkapitel seiner Studie widmet. Mit spürbarer Empathie für das Genre und seine Rituale führt Hüser den Leser in die musikalisch hochgradig differenzierten und lokal gefärbten Ausprägungen einer Jugendkultur ein, dem der Autor zu Recht das Etikett "Subkultur" verweigert. Von einer prinzipiell abweichenden Grundhaltung gegenüber dem gesamtgesellschaftlichen Gefüge kann laut Hüser nur sehr bedingt und segmentiert die Rede sein (S. 136). Als "kulturelle Massenbewegung des sozialen Protests" gehe es im Hip-Hop besonders um das Vermitteln konkreter Lebensweisheiten oder kämpferischer aber dem Leben positiv gegenüber eingestellten Grundhaltungen. Als "Zeremonienmeister verbaler Phantasien" zielen die "rappeur" darauf, dem drohenden Sinnverlust eines Lebens in der Banlieue mit Wörterlust zu begegnen, sich mittels streng formalisierter Sprachspiele Respekt und Anerkennung in der "cité", der "famille" oder dem "clan" zu verschaffen.

Als Chronisten und Sprecher ihrer meist vorstädtischen Lebenswelten, die Hüser als "Bann-Orte" umschreibt (so der wortgetreue Übersetzung von "banlieue"), spricht Hüser den Rappern den Status von Banlieue-Botschaftern zu, deren Ansehen und Glaubwürdigkeit stark von der lokalen Verankerung abhängig sei. Überzeugend ist hier Hüsers Vergleich van Rappern mit Provinznotablen oder Provinz-Parlamentariern, die formal als Vertreter der ganzen Nation im Parlament säßen, faktisch jedoch territoriale Zugehörigkeiten verkörperten. So wie der Provinz-Parlamentarier die Interessen seines Wahlkreises in Paris vertrete, fungiere der Rapper als Sprecher seiner "cité". In beiden Fällen veranschauliche dieses Doppelleben den Rechtfertigungsdruck, den das Herkunftsmilieu an der Peripherie ausübe. (S. 172f.) "Rap und Hip-Hop erweisen sich damit als potentielle Agenten politischen und gesellschaftlichen Wandels, deren anerkannte Vertreter als zusätzlicher Idealtyp innerhalb einer 'élite des acteurs sociaux' mit hohem wohnräumlichen und sozialem Herkunftsbewusstsein, mit wortführender, meinungsbildender und sinngebender Funktion auf der Basis geteilter Erfahrungen wie Zukunftsbilder zwischen Musiker und Zuhörer." (S. 177).

Hüsers feinsinnige Lektüre der Textbücher als "Beschwerdehefte und Lebensfibeln" eröffnet dem Leser überraschende und interessante Einblicke in das Selbstverständnis einzelner Rap-Akteure sowie lokal und regional unterschiedlicher Rap-Kulturen. Man kann sich des Eindruckes kaum erwehren, dass Hüsers Lust am Formulieren und sein Sprachwitz als bewusste wissenschaftliche Antwort auf die von Rap-Textern inszenierten "lyrischen Wirbelstürme" gedacht sind.

Nach dieser detaillierten Beschreibung der Eigenheiten und Komplexität der hexagonalen Rap und Hip-Hop Landschaft wendet sich Hüser im dritten Hauptkapitel den politischen Tragweiten dieses Genres in der République Française zu und vollzieht mit diesem Perspektivwechsel auch eine darstellerische Wende in seinem Buch. Getragen von dem Anliegen, Rap und Hip-Hop als populäre Praxen der kritischen Republikaneignung und kulturellen Nationsbildung zu begreifen, verortet Hüser seine Protagonisten in der Tradition republikanischer Ideale und Praktiken, wie sie seit der Französischen Revolution in unterschiedlichsten Ausprägungen immer wieder zu Tage getreten sind. Zwar seien Rapper nicht wirklich als würdige Nachfolger eines Emile Zola zu begreifen (S. 146), dennoch begriffen sie sich selbst durchaus als "citoyen critique", die in der Tradition der Menschen- und Bürgerrechte politisch agierten. So beschreibt NTM-Sänger Kool Shen seine Texte und Musik als " un devoir de citoyen" (S. 255), Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Bürgerrechte werden in Anspruch und als Beweis angeführt, dass es sich beim Rap nicht nur um eine republikanische, sondern zudem "eindeutig französische" Aktivität handelt. Dass sich die vorwiegend aus Nachfahren nordafrikanischer Einwanderfamilien zusammensetzende Rap-Szene derart deutlich und unmissverständlich der Werte und Symbole der Französischen Revolution bedient, deutet Hüser überzeugend als "Ausdruck eines profunden kulturellen Integriert-Seins wie eines prinzipiellen gesellschaftlichen Integriert-Sein-Wollens bei Kultivierung eines gewissen Andersseins auf der Basis gemeinsamer Grundüberzeugungen" (S. 274). Gerade dieses "Französischsein trotz Eigensinn" (S. 277) ist für den Autor Zeichen einer gelungenen Überwindung der klassischen Antinomien Republik und Nation, Immigration und Intergration, die den öffentlichen politischen Diskurs seit den 1980er-Jahren geprägt hätten.

Rap und Hip-Hop verkörpern daher für Hüser den Versuch einer neuen republikanischen Synthese, einer "RAPubliksynthese, die persönlichen Wertehaltungen und Schlüsselkonzepten, Alltagserfahrungen und Verhaltensbotschaften angemessen Rechnung trägt, daneben Jugendlichen als Akteuren eigener Integration den gebotenen Respekt zollt und entsprechende Zukunftschancen eröffnet" (S. 265). Rap und Hip-Hop, so die eindeutige Botschaft des Autors, sind Ausdruck des permanenten Unterfangens namens "kulturelle Nationsbildung", und die ungewöhnliche Dynamik der französischen Szene deutet Hüser als Zeichen gelungener kultureller Integration und republikanischer Zugehörigkeit.

Überzeugen die ersten drei Hauptkapitel von Hüsers Untersuchung durch ihre detailreichen Einsichten, ihre Freude an unkonventionellen Interpretationen und teilweise provokanten Thesen, steht man ein wenig ratlos vor dem letzten Teil des Buches, in dem der Autor in drei Unterkapiteln in die französische Vergangenheitspolitik, das französische Parteiensystem sowie in die Debatte um Nationsbildung und den spezifisch französischen Weg in die Moderne einführt. Zwar geschieht dies zu allen drei Themen in durchaus prägnanter und den Forschungsstand kritisch reflektierender Art und Weise, jedoch bleibt die inhaltliche Rückkopplung mit dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand marginal. Eine Integration dieses Kontextwissens in Form knapper Einleitungen in den jeweils relevanten Unterkapiteln der ersten drei Hauptkapitel hätte zur Historisierung der populärkulturellen und politischen Hintergründe des Rap und Hip-Hop an passender Stelle beigetragen. Gerne hätte man an dieser Stelle mehr über den Alltag einiger Rap-Protagonisten erfahren, und eine Einbettung des Rap in die breite Palette populärer und teils alternativer Musikkulturen hätte eine präzisere Einschätzung des politischen und kulturellen Gewichtes des Hip-Hop und Rap als Praxen politischer Partizipation der französischen Gesellschaft erlaubt. Gelingt Hüser in den ersten drei Hauptkapiteln eine in weiten Teilen nicht nur informative sondern kurzweilige und spannende Darstellung der französischen Rap und Hip-Hop Kultur, bleibt die im engeren Sinne zeithistorische Kontextualisierung, das heißt die sozial- und kulturgeschichtliche Einbettung dieses spezifischen populären Musikgenres in die breite Palette der französischen Jugend- und Alltagskultur ein wenig unterbelichtet. Dieser Einschränkung zum Trotz hat Dietmar Hüser mit seiner "RAPublikanischen Synthese" ein Werk vorgelegt, welches theoretische wie methodische Maßstäbe für zukünftige Zeitgeschichten populärer Kulturen im deutschsprachigen Raum setzen dürfte und dem aus diesem Grunde viele Leser zu wünschen sind.

Anmerkungen:
1 Gross, Thomas, Avantgarde der Härte. Berliner Rapper schocken mit obszönen und blutigen Texten. Wie gefährlich sind sie?, in: Die Zeit, Nr. 34 (18. August 2005), S. 35.
2 Bourdieu, Pierre, Über das Fernsehen, Frankfurt am Main 1999, S.
72f.; Hüser, S. 305-312.
3 Der Quotierungskodex schreibt vor, dass 40% des Unterhaltungsprogrammes im französischen Rundfunk (d.h. zwischen 6:30 und 22:30) aus französischer und frankophoner Musik bestehen muss, davon sollen wiederum 50% neue Produktionen bzw. neuen Talenten gewidmet sein.
Siehe Hüser S. 117. Eine Musik, die "polarisiert, Verrohungsdebatten und Indizierungen inklusive" - so lautete kürzlich die überspitzte Charakterisierung der Berliner "bösen Rap-Szene" durch ZEIT-Redakteur Thomas Gross in seinem Artikel "Avantgarde der Härte".1 Das "Drohpotential", welche "diese Kultur von unten für die Majorität entfalte", so Gross, sei angesichts zunehmender sozialer Härte kritisch auf seine Indikatorfunktion zukünftigen Werteverfalls unter Jugendlichen zu hinterfragen. Dass es ausgerechnet jene Minderheit radikaler Rapper sogar bis zum heute-journalistischen Ritterschlag geschafft hat, bestätigt auf verblüffende Weise die Interpretation von Dietmar Hüser, dass verbale Gewalt zwar durchaus zum Repertoire des angriffslustigen Sprachgesangs gehöre - genau so wie Jugendkriminalität und Bandenkrawalle Bestandteil der Vorstadt-Realität seien -, es sich hierbei aber keineswegs um die "ganze Realität" handele, sondern lediglich um die "ganze Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit". (S. 305) Mit Bourdieu argumentierend weist Hüser darauf hin, dass nicht das Normale, sondern nur das Besondere Nachrichten- und Verkaufswert habe, da es sich so wunderbar für "pathetische Empörung" und "moralisierende Betrachtungen" eigne.2

Mag man zu diesen unterschiedlichen Einschätzungen der medialen Repräsentation populärer Musikkultur stehen wie man will, so bestätigt die mediale Aufmerksamkeit vor allem eines: dass es sich beim Rap nicht "nur" um eine spezifische Form jugendkultureller und populärmusikalischer Praxis handelt, sondern - und so lautet eine der Kernthesen des Buches von Hüser - um eine implizit politische Form gesellschaftlicher Partizipation. Um genau jene Ambivalenz, die jugend- und subkulturellen Äußerungsformen eigen ist, nämlich die politische Dimension der kulturellen Aktion und die kulturelle Dimension des politischen Engagements, geht es Hüser in seiner Habilitationsschrift zur französischen HipHop-Kultur der letzten zwanzig Jahre. Ausgehend von einem Kulturverständnis, welches Kultur als "verzwackt, verzettelt und verschachtelt, als heterogen und mehrdeutig, als erlernbar, sozial vermittelt und dynamisch" (S. 17) begreift, umkreist der in Kassel lehrende Historiker seinen Untersuchungsgegenstand in mehreren Schleifen, in denen er sich - der Komplexität seines Gegenstandes gerecht werdend - mit variierendem methodischen Arsenal und wechselnder Beobachterperspektive an die Darstellung, Analyse und Interpretation der mannigfachigen Bedeutungen des kulturellen Produktes Rap macht. Dem selbst gesetzten Ziel, durch dieses Potpourri an Fragestellungen und Erkenntsinteressen das "eminente Potential zeithistorischer Forschung" aufzuzeigen, ist Hüser nach Meinung des Rezensenten durchaus gerecht geworden.

Doch zunächst zum Aufbau und zur Gliederung des Buches. Ausgehend von der Überlegung, dass sich mittels multipler Kontextualisierung von Rap-Musik grundlegende Aussagen über die französische Politik und Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts erstellen lassen, entwirft Hüser in seinem Buch vier thematische Felder, die er mit jeweils unterschiedlichen disziplinären und methodischen Instrumentarien bestellt. Überschrieben mit "Verortungen - Zentrum und Peripherie", "Ausdrucksformen - Jugend und Musik", "Tragweiten - Republik und Nation" sowie "Zeitgeschichten - Kultur und Politik" bietet der Autor dem Leser einen deutlich strukturierten und thematisch differenzierten Einstieg in die Materie. Je nach Nutzungsziel oder Erkenntnisinteresse des Lesers ist es als Vor- oder Nachteil zu werten, dass sich die vier Hauptkapitel als relativ geschlossene Darstellungen präsentieren und demnach durchaus isoliert voneinander lesen lassen. Ist den ersten zwei Hauptkapiteln die Tendenz gemein, die "Themen aus den Texten heraus(zu)lesen", was eine dementsprechend induktiv ausgelegte Argumentationsweise nach sich zieht, vollzieht der Autor mit den beiden letzten Hauptkapiteln einen Perspektivwechsel, in dem er stärker historisch-deduktiv argumentierend nach den staatlichen und gesellschaftlichen Kontexten Ausschau hält, die sich im Rap-Diskurs implizit äußern. Abgerundet wird die Studie durch ein thematisch aufgegliedertes Literaturverzeichnis, das der breiten disziplinären Einbettung Rechnung trägt, sowie ein Quellenverzeichnis inklusive Discografie.

Eröffnet wird Hüsers Studie durch eine 40 Seiten starke Einleitung, die in vorbildhafter Präzision und Deutlichkeit Aufschluss über theoretische Verankerung, methodische Herangehensweise, Literatur- und Quellenbasis sowie Gliederung und Fragestellung gibt. In ihr entfaltet Hüser dem Leser sein Programm einer politischen Kulturgeschichte populärer Musik, die - so die deutliche Abgrenzung Hüsers gegenüber ähnlich klingenden Projekten - politische Kultur nicht primär vom Politischen, sondern gleichberechtigt vom Kulturellen her begreifen möchte. Sein Anliegen ist es, "politische Handlungen als kulturelle Praktiken und populäre Erscheinungen wie Rap als politikrelevante Akte ernst zu nehmen, jeweils für sich wie in gegenseitiger Verschränkung". (S. 37). Mag dies in den Ohren von Kultursoziologen, Anthropologen oder Medienwissenschaftlern wenig innovativ klingen - schließlich handelt es sich hier um das Glaubenbekenntnis der Cultural Studies, die wie der Rap auf eine mittlerweile dreißigjährige Geschichte zurückblicken können, geht es Hüser um eine konsequente Historisierung der kulturellen Praxis des Rap. Eine Zeitgeschichte politischer Kultur und populärer Musik bedeutet für Hüser, die historischen Befindlichkeiten und Erfahrungen seiner Rap-Protagonisten in einem Netzwerk aus synchronen und diachronen Verbindungslinien zu verorten, um so das Kulturphänomen Rap nicht nur in seiner Buntheit, sondern vor allem in seiner Geschichtlichkeit, in seiner Hybridität und Eingekeiltheit in den "Spannungszonen zwischen Tradition und Wandel" zu analysieren und zu interpretieren (S. 37).

Hüser startet seine Untersuchung mit einer informativen und für Rap-Laien notwendigen Verortung dieses modernen Sprechgesangs in musikhistorische und populärkulturelle Kontexte, die gleichermaßen die globalen Verbindungslinien des französischen Hip-Hop mit der stark englischsprachig geprägten Rap-Kultur zeigen als auch die Besonderheiten der französischen Aneignung und Ausprägung dieser Musik- und Tanzkultur beleuchtet. Unter dem Schlagwort "Glokalisierung" schildert Hüser am Beispiel des Hip-Hop die teilweise paradoxen, zumindest aber ambivalenten Wirkungen eines massenmedial vermittelten kulturellen Globalisierungsprozesses, der in Anlehnung an musikwissenschaftliche Studien als "postimperiales Modell" globalen Kulturtransfers beschrieben wird. Im Sinne der Cultural Studies wird Rap in Frankreich als ein "Emanzipationsprozess der Aufnahme, Aneignung und Abwandlung eines transatlantischen Musikimports afro-amerikanischer Herkunft" begriffen (S. 67), womit auch die Konzentration der Studie auf den französischen Raum ihre Legitimation erfährt. Die Tatsache, dass Rap und HipHop in Frankreich innerhalb eines Jahrzehnts (1990er-Jahre) von einer Kuriosität zur Institution geworden sind (Frankreich ist nach den USA zum zweitgrößten Markt der Welt für Rap-Musik avanciert), unterstreicht sowohl die kulturelle wie gesellschaftspolitische Bedeutung, die dem Rap im Hexagon zukommt. Sicherlich muss der am 1. Februar 1994 per Gesetz verabschiedete Quotierungskodex für den Rundfunk als Akt staatlicher Subvention französischsprachigen Raps gedeutet werden 3, doch erklärt dieser kulturpolitische Missionsakt des sozialistischen Präsidenten Mitterand den Erfolg des Rap nicht. Auf die "jugendkulturelle[n] und populärmusikalische[n] Gretchenfrage", wie es eigentlich gelingen kann, "trotz politisch unmissverständlicher Aussagen die Zuhörerschaft zu bezaubern und zu verführen", weiß Hüser eine knappe und deutliche Antwort zu geben: Es sei gerade der im Vergleich zu anderen Varianten kommerzieller Musikkultur auffällig hohe Politisierungsgrad des Rap und Hip-Hop, der die Attraktivität des Genre bei französischen Jugendlichen erkläre. Denn: "Rap und Hip-Hop [wollen] gehört, aber auch gelesen werden"! (S. 112)

Es sind jene gesellschaftspolitisch aufgeladenen Botschaften des Rap, denen sich Hüser im zweiten Hauptkapitel seiner Studie widmet. Mit spürbarer Empathie für das Genre und seine Rituale führt Hüser den Leser in die musikalisch hochgradig differenzierten und lokal gefärbten Ausprägungen einer Jugendkultur ein, dem der Autor zu Recht das Etikett "Subkultur" verweigert. Von einer prinzipiell abweichenden Grundhaltung gegenüber dem gesamtgesellschaftlichen Gefüge kann laut Hüser nur sehr bedingt und segmentiert die Rede sein (S. 136). Als "kulturelle Massenbewegung des sozialen Protests" gehe es im Hip-Hop besonders um das Vermitteln konkreter Lebensweisheiten oder kämpferischer aber dem Leben positiv gegenüber eingestellten Grundhaltungen. Als "Zeremonienmeister verbaler Phantasien" zielen die "rappeur" darauf, dem drohenden Sinnverlust eines Lebens in der Banlieue mit Wörterlust zu begegnen, sich mittels streng formalisierter Sprachspiele Respekt und Anerkennung in der "cité", der "famille" oder dem "clan" zu verschaffen.

Als Chronisten und Sprecher ihrer meist vorstädtischen Lebenswelten, die Hüser als "Bann-Orte" umschreibt (so der wortgetreue Übersetzung von "banlieue"), spricht Hüser den Rappern den Status von Banlieue-Botschaftern zu, deren Ansehen und Glaubwürdigkeit stark von der lokalen Verankerung abhängig sei. Überzeugend ist hier Hüsers Vergleich von Rappern mit Provinznotablen oder Provinz-Parlamentariern, die formal als Vertreter der ganzen Nation im Parlament säßen, faktisch jedoch territoriale Zugehörigkeiten verkörperten. So wie der Provinz-Parlamentarier die Interessen seines Wahlkreises in Paris vertrete, fungiere der Rapper als Sprecher seiner "cité". In beiden Fällen veranschauliche dieses Doppelleben den Rechtfertigungsdruck, den das Herkunftsmilieu an der Peripherie ausübe. (S. 172f.) "Rap und Hip-Hop erweisen sich damit als potentielle Agenten politischen und gesellschaftlichen Wandels, deren anerkannte Vertreter als zusätzlicher Idealtyp innerhalb einer 'élite des acteurs sociaux' mit hohem wohnräumlichen und sozialem Herkunftsbewusstsein, mit wortführender, meinungsbildender und sinngebender Funktion auf der Basis geteilter Erfahrungen wie Zukunftsbilder zwischen Musiker und Zuhörer." (S. 177)

Hüsers feinsinnige Lektüre der Textbücher als "Beschwerdehefte und Lebensfibeln" eröffnet dem Leser überraschende und interessante Einblicke in das Selbstverständnis einzelner Rap-Akteure sowie lokal und regional unterschiedlicher Rap-Kulturen. Man kann sich des Eindruckes kaum erwehren, dass Hüsers Lust am Formulieren und sein Sprachwitz als bewusste wissenschaftliche Antwort auf die von Rap-Textern inszenierten "lyrischen Wirbelstürme" gedacht sind.

Nach dieser detaillierten Beschreibung der Eigenheiten und Komplexität der hexagonalen Rap- und Hip-Hop-Landschaft wendet sich Hüser im dritten Hauptkapitel den politischen Tragweiten dieses Genres in der République Française zu und vollzieht mit diesem Perspektivwechsel auch eine darstellerische Wende in seinem Buch. Getragen von dem Anliegen, Rap und Hip-Hop als populäre Praxen der kritischen Republikaneignung und kulturellen Nationsbildung zu begreifen, verortet Hüser seine Protagonisten in der Tradition republikanischer Ideale und Praktiken, wie sie seit der Französischen Revolution in unterschiedlichsten Ausprägungen immer wieder zu Tage getreten sind. Zwar seien Rapper nicht wirklich als würdige Nachfolger eines Emile Zola zu begreifen (S. 146), dennoch begriffen sie sich selbst durchaus als "citoyen critique", die in der Tradition der Menschen- und Bürgerrechte politisch agierten. So beschreibt NTM-Sänger Kool Shen seine Texte und Musik als "un devoir de citoyen" (S. 255), Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Bürgerrechte werden in Anspruch und als Beweis angeführt, dass es sich beim Rap nicht nur um eine republikanische, sondern zudem "eindeutig französische" Aktivität handelt. Dass sich die vorwiegend aus Nachfahren nordafrikanischer Einwandererfamilien zusammensetzende Rap-Szene derart deutlich und unmissverständlich der Werte und Symbole der Französischen Revolution bedient, deutet Hüser überzeugend als "Ausdruck eines profunden kulturellen Integriert-Seins wie eines prinzipiellen gesellschaftlichen Integriert-Sein-Wollens bei Kultivierung eines gewissen Andersseins auf der Basis gemeinsamer Grundüberzeugungen" (S. 274). Gerade dieses "Französischsein trotz Eigensinn" (S. 277) ist für den Autor Zeichen einer gelungenen Überwindung der klassischen Antinomien Republik und Nation, Immigration und Intergration, die den öffentlichen politischen Diskurs seit den 1980er-Jahren geprägt hätten.

Rap und Hip-Hop verkörpern daher für Hüser den Versuch einer neuen republikanischen Synthese, einer "RAPubliksynthese, die persönlichen Wertehaltungen und Schlüsselkonzepten, Alltagserfahrungen und Verhaltensbotschaften angemessen Rechnung trägt, daneben Jugendlichen als Akteuren eigener Integration den gebotenen Respekt zollt und entsprechende Zukunftschancen eröffnet" (S. 265). Rap und Hip-Hop, so die eindeutige Botschaft des Autors, sind Ausdruck des permanenten Unterfangens namens "kulturelle Nationsbildung", und die ungewöhnliche Dynamik der französischen Szene deutet Hüser als Zeichen gelungener kultureller Integration und republikanischer Zugehörigkeit.

Überzeugen die ersten drei Hauptkapitel von Hüsers Untersuchung durch ihre detailreichen Einsichten, ihre Freude an unkonventionellen Interpretationen und teilweise provokanten Thesen, steht man ein wenig ratlos vor dem letzten Teil des Buches, in dem der Autor in drei Unterkapiteln in die französische Vergangenheitspolitik, das französische Parteiensystem sowie in die Debatte um Nationsbildung und den spezifisch französischen Weg in die Moderne einführt. Zwar geschieht dies zu allen drei Themen in durchaus prägnanter und den Forschungsstand kritisch reflektierender Art und Weise, jedoch bleibt die inhaltliche Rückkopplung mit dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand marginal. Eine Integration dieses Kontextwissens in Form knapper Einleitungen in den jeweils relevanten Unterkapiteln der ersten drei Hauptkapitel hätte zur Historisierung der populärkulturellen und politischen Hintergründe des Rap und Hip-Hop an passender Stelle beigetragen. Gerne hätte man an dieser Stelle mehr über den Alltag einiger Rap-Protagonisten erfahren, und eine Einbettung des Rap in die breite Palette populärer und teils alternativer Musikkulturen hätte eine präzisere Einschätzung des politischen und kulturellen Gewichtes des Hip-Hop und Rap als Praxen politischer Partizipation der französchen Gesellschaft erlaubt. Gelingt Hüser in den ersten drei Hauptkapiteln eine in weiten Teilen nicht nur informative sondern kurzweilige und spannende Darstellung der französischen Rap und Hip-Hop Kultur, bleibt die im engeren Sinne zeithistorische Kontextualisierung, das heißt die sozial- und kulturgeschichtliche Einbettung dieses spezifischen populären Musikgenres in die breite Palette der französischen Jugend- und Alltagskultur ein wenig unterbelichtet. Dieser Einschränkung zum Trotz hat Dietmar Hüser mit seiner "RAPublikanischen Synthese" ein Werk vorgelegt, welches theoretische wie methodische Maßstäbe für zukünftige Zeitgeschichten populärer Kulturen im deutschsprachigen Raum setzen dürfte und dem aus diesem Grunde viele Leser zu wünschen sind.

Anmerkungen:
1 Gross, Thomas, Avantgarde der Härte. Berliner Rapper schocken mit obszönen und blutigen Texten. Wie gefährlich sind sie?, in: Die Zeit, Nr. 34 (18. August 2005), S. 35.
2 Bourdieu, Pierre, Über das Fernsehen, Frankfurt am Main 1999, S. 72f.; Hüser, S. 305-312.
3 Der Quotierungskodex schreibt vor, dass 40 Prozent des Unterhaltungsprogramms im französischen Rundfunk (d.h. zwischen 6:30 und 22:30) aus französischer und frankophoner Musik bestehen muss, davon sollen wiederum 50 Prozent neue Produktionen bzw. neuen Talenten gewidmet sein; siehe Hüser S. 117.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension