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Titel
Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie


Autor(en)
Reinhard, Wolfgang
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
718 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Jede Zeit hat ihre eigene Geschichtsschreibung. Die historische Sozialwissenschaft war Wolfgang Reinhard zufolge eine „Legitimationswissenschaft der optimistischen Technokratengesellschaft des großen Aufschwungs“. Demgegenüber sei die Historische Anthropologie „eine Legitimationswissenschaft der Single-Gesellschaft“, die nicht mehr glaube, dass man etwas machen könne „außer das eigene kleine Glück durch richtige Aneignung der anonymen Vorgaben“ (S. 31). Über solche funktionalistischen Zuschreibungen mag man diskutieren.

Unstrittig aber ist, dass sich die Historische Anthropologie seit geraumer Zeit auf dem Vormarsch befindet. Wenige Jahre nach der Veröffentlichung seiner monumentalen Geschichte der Staatsgewalt 1 legt Wolfgang Reinhard nun ein Werk vor, das die Ergebnisse dieses Forschungsansatzes dokumentiert: eine historische Kulturanthropologie, die sämtliche Bereiche menschlichen Verhaltens vorstellt.

Eine Scheu vor einer systematischen Herangehensweise, wie sie sich bei manchem Vertreter Historischer Anthropologie beobachten lässt, hat Reinhard dankenswerterweise nicht. Gegliedert hat er sein Werk in drei Teile, die wiederum mehrere Kapitel von jeweils meist gleich großem Umfang (rund 20 Seiten) enthalten. Der erste Teil („Körper“, S. 43-197) widmet sich den Grundbefindlichkeiten menschlicher Körperlichkeit; der zweite Teil („Mitmenschen“, S. 199-394) behandelt den Menschen in seiner Abhängigkeit von anderen Menschen; der dritte Teil („Umwelt“, S. 395-601) konzentriert sich auf die Entwicklung der Sitten mit Bezug auf die Lebenswelt. Zweifellos hätte man auch eine andere, ebenso plausible Unterteilung des Stoffes vornehmen können. Schließlich gehören die Themen der meisten Unterkapitel durchweg allen drei Dimensionen an. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen den Bereichen Körper, Mitmenschen, Umwelt wäre sicherlich zum Scheitern verurteilt.

Nichtsdestoweniger gelingt es Reinhard, die unvermeidlichen Überschneidungen auf ein Minimum zu reduzieren. Von Redundanzen kann in dem 600 Seiten starken Textteil keine Rede sein. Nach einer luziden Einführung in die Historische Anthropologie, deren Entwicklung, deren Schulen und deren ‚Konkurrenzdisziplinen‘ (wie die Biologische Anthropologie), behandelt Reinhard im ersten Teil die Themenfelder Körper und Geschlecht, Sinne und Emotionen, Kleidung und Hygiene, Ernährung und Hunger, Gesundheit, Krankheit und Heilkunst, schließlich Lebensalter und Tod. Im zweiten Teil geht es um Partnerschaft, Ehe und Familie, Kindheit und Jugend, Sozialisation, Erziehung und Bildung, Individuen und Gruppen, Politik und Recht, Schichtung und Mobilität, Randgruppen, Devianz und Strafe, Gewalt und Krieg sowie Kulturkontakte. Der dritte Teil handelt von Raum und Natur, Wirtschaft und Disziplin, Lebensqualität, Bauen und Wohnen, Kommunikationswelten, Transzendenz und Rationalität, Zeit und Geschichte.

Mithin sind sämtliche Bereiche der Historischen Anthropologie hier abgedeckt. Das ist nicht nur ein gewaltiges Unterfangen, sondern auch eine bahnbrechende Leistung. Denn eine solche wissenschaftliche Totalgeschichte menschlichen Verhaltens suchte man für den deutschsprachigen Raum bislang vergebens. Das hängt nicht zuletzt mit der verspäteten Rezeption benachbarter Disziplinen wie der Ethnologie durch die deutsche Geschichtswissenschaft zusammen. Auch wenn es hierzulande mittlerweile zahlreiche Einzeluntersuchungen, einige einschlägige Einführungen, Sammelbände und Zeitschriften sowie verschiedene Zentren historisch-anthropologischer Forschung gibt: viele Aspekte insbesondere der Neueren und Neuesten Geschichte harren noch immer einer Bearbeitung aus historisch-anthropologischer Perspektive. Dementsprechend disparat ist der Forschungsertrag, auf den Reinhard für seine Überblicksdarstellung zurückgreifen kann. Themen, die wie Kindheit, Alter und Tod, längst zum Kanon historisch-anthropologischer Forschung gehörend, sind gut dokumentiert. Anders verhält es sich mit solchen Themen, die erst seit kurzem von der Geschichtswissenschaft entdeckt worden sind.

Das zeigt sich beispielsweise in dem Kapitel, das den Kommunikationswelten gewidmet ist (S. 510-550). Einzelaspekte wie der Wandel der Anredeformen oder das Duell werden ausführlich behandelt; auch die verschiedenen Formen symbolischer Kommunikation sowie der Komplex von Oralität und Literalität werden der mittlerweile guten Forschungslage entsprechend vorgestellt. Über verbale nichtsymbolische Face-to-face-Kommunikation hingegen erfährt man kaum etwas: eigentlich ein Kuriosum, schließlich besteht soziales Handeln zu weiten Teilen aus solcher Kommunikation. Aber auch andere Bereiche menschlichen Verhaltens, etwa der politische, bleiben seltsam unterbelichtet, so dass Reinhard regelrecht gezwungen wird, hier auf die harten Fakten der Sozial- und Politikgeschichte auszuweichen.

Solche Leerstellen der Forschung sind dem Buch natürlich nicht anzulasten: eine Überblicksdarstellung kann höchstens das Niveau des jeweiligen Forschungsstandes erreichen. Nur hätte man die Desiderata vielleicht etwas deutlicher beim Namen nennen sollen. So, wie es Reinhard schon einleitend für die räumliche Schwerpunktsetzung tut. Freimütig räumt er hier eine Konzentration auf Mittel-, Süd- und Westeuropa ein: nicht zuletzt „weil an der Geschichte dieser Länder die wichtigsten Fortschritte historisch-anthropologischer Forschung erzielt“ worden seien (S. 40). Problematischer ist dagegen die ungleichgewichtige Behandlung der Epochen. Zwar bezieht Reinhard stets die Antike und die Zeitgeschichte, ja sogar unsere Gegenwart mit ein; der Schwerpunkt aber liegt deutlich auf dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Reinhard ist sich dessen natürlich bewusst, unterschätzt aber dieses Manko, weil er vielleicht beim gebildeten Leser die Kenntnis über die Abgründe der menschlichen Natur, wie sie sich vor allem im Katastrophenzeitalter des 20. Jahrhunderts offenbaren, voraussetzt. Angesichts der Neigung vieler Zeitgeschichtler, historisch-anthropologische Perspektiven zu vernachlässigen, wäre allerdings auch hier ein Verweis auf die Forschungslücken sinnvoll gewesen.

All diese Einwände können und sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem vorliegenden Band um eine Pionierleistung handelt. Reinhard hat einen aktuellen und instruktiven Überblick über alle Bereiche menschlichen Verhaltens geliefert, der wohl noch lange seinesgleichen suchen wird. Dabei verzichtet der Erzähler trotz aller Gelehrtheit bewusst darauf, den Eindruck von Allwissenheit zu verbreiten. Auch Dogmatismus ist Reinhard fremd: obwohl er als Historiker den Akzent auf den Wandel menschlichen Verhaltens legt, scheut er sich nicht, bestimmte Thesen der Ethologie zu würdigen und die Existenz anthropologischer Konstanten anzunehmen. Überhaupt schreckt Reinhard vor dezidierten Urteilen (namentlich gegen die Vertreter eines radikalen Dekonstruktivismus) nicht zurück.

Zu würdigen ist auch die sprachliche Virtuosität. Offensichtlich hat es dem Verfasser Freude gemacht, dieses Buch zu schreiben. Und er lässt den Leser an dieser Freude teilhaben: nicht nur durch seinen Witz, sondern auch durch seine Meinungsfreudigkeit, die vor allem die Passagen zu unserer Gegenwart kennzeichnen. Kurzum: Mit den Lebensformen Europas hat Wolfgang Reinhard ein Standardwerk verfasst, mehr noch, ein gelehrtes Buch, dessen Lektüre Vergnügen bereitet.

Anmerkung:
1 Reinhard, Wolfgang, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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