M. Maurer: Aufriß der Historischen Wissenschaften - Epochen

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Titel
Aufriß der Historischen Wissenschaften. Band 1: Epochen


Herausgeber
Maurer, Michael
Erschienen
Stuttgart 2005: Reclam
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 11,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission, Bayerische Akademie der Wissenschaften,

Der Begriff „Epoche“ ist ein terminologischer Wolf im Schafspelz. Denn das Denken in Zeitabschnitten ist zunächst etwas Vertrautes („während des 2. Weltkriegs“, „im Mittelalter“). Bei näherer Beschäftigung erweist sich der Begriff allerdings als hoch problematisch. Denn zum einen sind Epochen nichts Gegebenes, sondern werden historisch (re-)konstruiert; zum anderen sind sie keine rein formalen Periodisierungen, sondern zugleich Sinneinheiten. Häufig sind es gerade ihre Anfangs- und Endpunkte, an denen diese Sinnhaftigkeit deutlich wird: Beginnt die Neuzeit mit der Entdeckung Amerikas und ist das Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen, beginnt sie mit dem Buchdruck und ist das Zeitalter der Technisierung und Medialisierung oder beginnt sie mit der Reformation und ist das Zeitalter der konfessionellen Spaltung?

Der vorliegende Band ist jenen Großepochen gewidmet, in die die universitäre Geschichtswissenschaft im Regelfall aufgeteilt ist: Alte Geschichte, Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert und Zeitgeschichte. Die Darstellung dieser Epochen folgt dem Ziel der gesamten „Aufriß“-Reihe, „einen Zugang zur Geschichte, zum historischen Denken und zur Wissenschaft der Historiker“ zu vermitteln. Dementsprechend sind die 70-110 Seiten langen Aufsätze auf die Vermittlung von Grundlagenwissen und leichte Verständlichkeit ausgelegt.

Die Frage, wie sich eine gelungene Kombination aus einer Übersicht über „Kerndaten“, leitende Strukturen und Rezeptionsgeschichte der jeweiligen Epoche herstellen lässt und wie die wissenschaftlichen Kontroversen über die Epochen einzubinden sind, beantworten die Beiträge in unterschiedlicher Weise. Justus Cobet arbeitet bei seiner Darstellung der Antike mit einem rezeptionsgeschichtlichen Zugriff, in dessen Zentrum sein Plädoyer gegen ein lineares „klassizistisch-romantisches Bild von der organischen Entfaltung, insbesondere des griechischen Volksgeistes“ steht, das verkenne, „in welchem Maße kulturelle Differenzen und Kontakte der Ungleichzeitigkeit, Interkulturalität, Austausch und die Weitergabe von Kultur konstitutive Merkmale des Altertums darstellen“ (S. 81). Stattdessen befürwortet Cobet mit Karl Christ eine universalgeschichtliche Betrachtung, die offen sei, altorientalische Traditionen zu erkennen und Alte Geschichte als interdisziplinäres Tätigkeitsfeld aller altertumswissenschaftlichen Disziplinen zu verstehen. So könne man der Bedeutung der Antike gerecht werden, die diese für die Europa als „spezifischem Traditionszusammenhang“ habe (S. 92). Einprägsam thematisiert Cobet die Offenheit des Anfangs und Endes der Antike als Epoche und hinterfragt die ihr zugeschriebene Kohärenz bei der Vorstellung der verschiedenen Deutungsweisen seit dem Renaissancehumanismus. Die Erwähnung zentraler Daten und Fakten sowie Strukturen steht dabei im Hintergrund.

Argumentiert Cobet von der Frage eines epochenkonstituierenden Zugriffs auf die Epoche aus (linear versus universalgeschichtlich), so versucht Klaus van Eickel, das Mittelalter über seine Anfangs- und Endpunkte zu charakterisieren. Er hebt mit der Problematisierung dieses Terminus als Zuschreibungsbegriff an, der sich mit dem Bewusstsein eines Epochenwechsels im Humanismus herausgebildet habe und durch die Mittelalterrezeption der Romantik geprägt worden sei. Dieser Deutung stellt er die Vorstellung einer „translatio imperii“ als zeitlichem Selbstverständnis im Mittelalter gegenüber. Weite Passagen des Aufsatzes sind dem fränkischen Raum und der Völkerwanderungszeit gewidmet, wogegen die übrigen Zeiten und Räume oberflächlichere Behandlung finden. Ebenso wie Cobet wirkt van Eickel einem Verständnis der Epoche als kohärentem Zusammenhang entgegen, indem er auf unterschiedliche nationale Traditionen der Periodisierung hinweist und die Einteilung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter als typisch deutsch klassifiziert. Als einziger Autor des Bandes stellt er auch die Deutungsweise des marxistischen Geschichtsmodells dar.

Von Maurer selbst stammt der längste Beitrag des Bandes über die Frühe Neuzeit, die er als Gründungszeit der modernen Welt sieht. Maurers Darstellungsansatz ist auf Meistererzählungen über diese Epoche gerichtet. Als „Leitparadigma zur Erforschung der Frühen Neuzeit“ bezeichnet der Autor die von Ernst Walter Zeeden, Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling vertretene Deutung der Frühen Neuzeit als Zeitalter der Konfessionalisierung bzw. der Konfessionsbildung, da fast alle anderen Forschungszugänge „in irgendeiner Weise auf die Konfessionalisierung bezogen werden können“ (S. 226). Als zweite Meistererzählung skizziert er Gerhard Oestreichs auf den Staat gerichtetes Modell der Frühen Neuzeit als Epoche der Sozialdisziplinierung und stellt in diesem Zusammenhang unterschiedliche Auffassungen über den Staatsbildungsprozess dar (Heinz Schilling, Heinrich Richard Schmidt). Als drittes Grand Narrative wird Norbert Elias These vom „Prozeß der Zivilisation“ und die daran geäußerte Kritik porträtiert; als viertes folgt das vor allem auf Jacob Burckhardt zurückgehende Verständnis der Frühen Neuzeit als Herausbildung modernen Individualitätsdenkens. Darüber hinaus widmet sich Maurer noch sechs weiteren „Forschungskonzepten“: Alphabetisierung und Literarisierung, Medienrevolution, Krise(n) des 17. Jahrhunderts und Wandel der Religiosität, Erfahrung des Kriegs, Problem des Absolutismus sowie Staatlichkeit des Alten Reichs. Diese Ergänzungen führen dazu, dass der Beitrag hinsichtlich der Darstellung historischer Ereignisse und Strukturen an Dichte gewinnt; ein Nachteil liegt darin, dass unbedarftere Leser möglicherweise den großen qualitativen Unterschied nicht bemerken, der zwischen den ersten vier „Forschungskonzepten“ und den übrigen sechs in Bezug auf eine Gesamterklärung der Epoche besteht. Unverständlich bleibt, warum Maurer die für die Diskussion um den Epochenbeginn unverzichtbare Entdeckung Amerikas und die Entstehung eines neuen Weltverständnisses nicht zur Sprache bringt.

Im Gegensatz zu allen übrigen Beiträgen tritt in Franz J. Bauers Darstellung des „langen“ 19. Jahrhunderts (1789-1917), die bereits als eigenständige Monografie erschien 1, das Bemühen um eine ausgewogene Darstellung unterschiedlicher Forschungsauffassungen hinter den Ausweis einer eigenen These zurück. Bauer macht sich Eric J. Hobsbawms Vorstellung einer politisch-industriellen Doppelrevolution als Argument zu eigen. Zentral für seine Epochendeutung ist aber ein Verständnis vom 19. Jahrhundert als Zeitalter von „Säkularisierung und Rationalisierung“ sowie von „Emanzipation, Partizipation und Demokratisierung“ als „säkularer Tendenzen“. Die Prozesse der Nationsbildung und Formung einer bürgerlichen Gesellschaft erscheinen so als Antwort auf die Erfahrung „sozialer und politischer Differenzierung und Desintegration“ (S. 354f.). Bauer adaptiert damit explizit eine These Hans Freyers, der neben Lothar Gall als Hauptgewährsmann seiner Argumentation fungiert. Freyer hatte seine These vom Wechsel ins 19. Jahrhundert als herausragender weltgeschichtlicher Zäsur unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg entwickelt 2 - also noch vor einer eingehenden sozialgeschichtlichen Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert, vor einer näheren Analyse der politischen Ausrichtung und Wirkung der Reformbewegungen und vor detaillierten Untersuchungen zur Entwicklung von Kirchlichkeit und Religiosität am Jahrhundertende. Und so verbindet Bauer in der Nachfolge Freyers Elemente der Diskussionen um das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Historismus (verstanden als Werterelativismus), der entstehenden (anonymen) Massengesellschaft und eines Metaphysikverlusts („Entzauberung der Welt“), grenzt aber die soziale Frage sowie den Komplex einer „Zweiten Konfessionalisierung“ aus seinen Betrachtungen aus und zeichnet ein Bild der Jugendbewegung als konventionsverneinenden Eskapismus: In der Jugendbewegung ging es „um ein Auf- und Ausbrechen aus der engen, beklemmenden, spießigen Welt der Väter in ein Reich der Ungebundenheit, der Freiheit von autoritärem Zwang und bürgerlicher Konvention, der Befreiung des Körpers aus dem Korsett einer verklemmten, lebens- und lustfeindlichen Bürgermoral; zum anderen war die Jugendbewegung ein Teil der Zurück-zur-Natur-Bewegung, die hoffte, „sich ‘aus grauer Städte Mauern’ in die deutschen Mittelgebirge retten zu können, um dort, eine Wanderstunde vom nächsten Bahnhof entfernt, ein Leben voll Freiheit und (nicht zuletzt erotischem) Abenteuer zu finden“ (S. 388). Diese Einschätzung möchte man nicht teilen: Sie negiert den mitunter moralisch äußerst rigiden Kodex der Jugendbewegungen, lässt deren quasi- oder profanareligiösen Charakter völlig außer Acht und missversteht ihren Utopismus als Ausdruck eines hedonistischen Romantizismus. Bauer muss folgerichtig zu seinem Urteil gelangen, da er die Entwicklung von in der Aufklärungszeit des 18. Jahrhundert entstandenen Ideen (Rationalisierung, Emanzipation etc.) durch die Brille des Freyerschen Konservatismus als Verlustgeschichten betrachtet, denen der Gedanke des vom Bürgertum getragenen Nationalen entgegengestellt wurde.

Den Abschluss des Bandes bildet ein prägnanter Beitrag über die Zeitgeschichte von Wilfried Loth, der die klassische Rothfelssche Definition der Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden“ vorstellt, die Dreiteiligkeit zeithistorischer Arbeitsfelder (Zeitalter der Weltkriege, Ära des Kalten Kriegs, Zeitgeschichte nach dem Ende des Sowjetimperiums) skizziert und zentrale Medien und Institutionen im disziplingeschichtlichen Zugriff vorstellt. Im Gegensatz zu den anderen Beiträgen definiert Loth seine Epoche vor allem über (vorwiegend politische) Ereignisse und Strukturen, die er als zehn große „Themen der Zeitgeschichte“ vorstellt: „Der Große Krieg“ (1. Weltkrieg), „Die Krise des liberalen Systems“, „Faschismus und Nationalsozialismus“, „Kommunismus und Totalitarismus“, „Der Zweite Weltkrieg“, „Der Kalte Krieg“, „Die Dekolonisierung“, „Der Triumph des Sozialstaats“, „Die Einigung Europas“ und „Die Auflösung des sowjetischen Imperiums“.

Der numerische erste Band „Epochen“ bildet den Abschluss von Michael Maurers „Aufriß der Historischen Wissenschaften“, von dem sechs Bände bereits vorliegen.3 Der Herausgeber hat es geschafft, für die insgesamt 49 Aufsätze der Reihe 44 ausgewiesene Fachleute zu engagieren, deren Gros sich aus der „jungen Generation“ der Habilitierten oder frisch Berufenen rekrutiert. Die Beiträge des ersten Bands wie auch aller anderen zeichnen sich bis auf wenige Ausnahmen durch leichte Verständlichkeit und ihr Bemühen um eine repräsentative Übersicht über den jeweiligen Gegenstandsbereich aus; die Bibliografien, die den Aufsätzen angehängt sind, eignen sich bestens als Einstieg in die einzelnen Themen. Die Anlage der gesamten Reihe in epochale, räumliche und sektorale Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft, in Materialen, Produkte und Institutionen geschichtswissenschaftlicher Arbeit und in Paradigmen der Forschung ist wenig originell, prinzipiell aber gut geeignet, um Formen und Inhalte historischer Forschung weitgehend abzudecken.

Dass allen Bänden ein eigenes Register und der Reihe ein Gesamtregister fehlt, ist ein Manko; da die Länge der Aufsätze mitunter beträchtlich ist, wären auch Inhaltsverzeichnisse angeraten gewesen. Gravierender sind indes konzeptionelle Bedenken: Alle Aufsätze mit Ausnahme jener aus dem Band „Quellen“ haben einen Umfang von durchschnittlich 80-100 Seiten und sind damit für den Einsatz im Seminarbetrieb eindeutig zu lang. Andere Überblickswerke wie etwa „Geschichte. Ein Grundkurs“ 4 oder „Kompass der Geschichtswissenschaft“ 5 liefern besser handhabbare Formate. Zudem fehlt Maurers Bänden ein theoretisches Kapitel. Zwar erschließen sich viele theoretische Aspekte aus den einzelnen Beiträgen - so bietet etwa Franz J. Bauer in vorliegendem Band einen längeren Vorspann, in dem er die Leistungsfähigkeit von Epochenbegriffen anspricht -, eine explizite und für interessierte Laien und Studienanfänger wünschenswerte Übersicht über das jeweilige Generalthema der einzelnen Bände fehlt jedoch. Wer einen Einstieg in das Thema „Epochen“ sucht, sollte vorab informiert werden, was darunter eigentlich zu verstehen ist, welche Probleme mit dem Thema verbunden sind und mit welchen Epochentheorien Historiker allgemein arbeiten.

Das schwerwiegendste Defizit des „Aufrisses“ ist allerdings, dass er dadurch überrascht, dass er rein gar nichts Überraschendes zu bieten hat. Während sich alle theoretischen Veröffentlichungen um Nähe zur aktuellen Forschungslandschaft bemühen, scheint der „Aufriß“ vor langen Jahren stehen geblieben zu sein. Am deutlichsten fällt dies an den Bänden über „Sektoren“ und „Neue Themen und Methoden“ auf: Als Sektoren werden genannt „Politische Geschichte“, „Sozialgeschichte“, „Wirtschaftsgeschichte“, Kirchen- und Religionsgeschichte“, Kulturgeschichte“. Neue Themen und Methoden sind „Alltagsgeschichte“, „Oral History“, Historische Demographie und quantitative Methoden“, „Frauen- und Geschlechtergeschichte“, „Historische Anthropologie“. Keine marxistische Geschichtsauffassung, keine Rechtsgeschichte, keine Verfassungsgeschichte, keine Mikrogeschichte, keine Geistesgeschichte, keine Begriffsgeschichte - das ist nicht repräsentativ! Keine Diskursanalyse, keine Neue Kulturgeschichte, keine Erinnerungs- und Gedächtnistheorie, keine Bild- und Mediengeschichte - das ist bestenfalls auf dem Stand der Geschichtswissenschaft der 1980er-Jahre! Die Bereitschaft eines renommierten Verlags, ein neues umfangreiches geschichtswissenschaftliches Grundlagenwerk mit leserfreundlichen Verkaufspreisen zu produzieren, war eine große Chance, auf die Bedürfnisse einer veränderten Studienlandschaft von aktueller Warte aus einzugehen; „der Aufriß“ hat diese Chance nicht genutzt.

Anmerkungen:
1 Bauer, Franz J., Das „lange“ 19. Jahrhundert (1789-1917). Profil einer Epoche, Stuttgart 2004.
2 Freyer, Hans, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955.
3 Bd. 2: Räume, 2001, 419 S.; Bd. 3: Sektoren, 2004, 422 S.; Bd. 4: Quellen, 2002; Bd. 5: Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung, 2003, 503 S.; Bd. 6: Institutionen, 2002; Bd. 7: Neue Themen und Methoden, 391 S., ISBN.
4 Goertz, Hans-Jürgen (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998.
5 Eibach, Joachim; Lottes, Günther (Hgg.), Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002.

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