D. Dahlmann (Hg.): Hundert Jahre osteuropäische Geschichte

Titel
Hundert Jahre osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft


Herausgeber
Dahlmann, Dittmar
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europas, Band 68
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
297 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

1892 wurde mit dem Extraordinariat für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität die erste Professur zur historischen Teildisziplin Osteuropäische Geschichte im deutschen Sprachraum eingerichtet. Entsprechend feierten Humboldt-Universität und Freie Universität 1992 gemeinsam “100 Jahre Osteuropäischer Geschichte in Berlin” mit einem Symposium.1 Wenn nun 2002 die Humboldt-Universität und der “Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker Deutschlands” ebenfalls in Berlin (und ohne Bezug auf das Symposium zehn Jahre zuvor) eine Konferenz “Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte” durchführten 2, dann hat dies weniger mit unterentwickelten Chronologiekenntnisse oder gar Geschichtsvergessenheit von Historikern zu tun, sondern vor allem mit der spezifischen Berliner Fach- und Organisationsgeschichte. Denn der 1892 ernannte Extraordinarius, der deutschbaltische Archivar und regierungsnahe politische Publizist Theodor Schiemann, wurde 1902 zum ordentlichen Professor berufen und zugleich zum Direktor des zeitgleich gegründeten Seminars für Osteuropäische Geschichte bestellt – daher die Möglichkeit beide Daten zu begehen.

Dem die Berliner Tagung von 2002 abbildenden Band kommt eine über den konkreten Anlass hinaus gehende Bedeutung zu, und dies gleich in doppelter Weise: Zum einen stellt er mittelbar die Fortschreibung einer 1992 vorgelegten Bestandsaufnahme des Faches Osteuropäische Geschichte in Bundesrepublik, DDR, Schweiz und Österreich dar 3, zum anderen zieht er eine Zwischenbilanz der 1998/99 intensiv geführten und seitdem mehrfach wieder aufgeflackerten fachinternen Selbstvergewisserungsdebatte darüber, ob mit dem Ende von Ost-West-Konflikt und Bipolarität nicht auch die regionenbezogene historische Teildisziplin ihre raison d’être verloren habe.4

Die partiell bizarren Umstände der Berliner Berufung des Außenseiterhistorikers Schiemann in ihrem politischen wie universitären Kontext behandelt Roger Chickering anschaulich in seiner Skizze “Nachklänge: Der Ort der Osteuropäischen Geschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft um 1900” (S. 11-19). Eigentlich erst mit der Berufung von Schiemanns Nachfolge Otto Hoetzsch 1913 kann das Fach sowohl als wissenschaftlich begründet wie universitär etabliert gelten. Dittmar Dahlmann beschreibt in einem konzisen wissenschaftsorganisatorischen Überblick “Die deutsche Osteuropahistoriografie in der Zwischenkriegszeit” (S. 21-35) diese Ära Hoetzsch, wobei er sich auf die Weimarer Republik konzentriert. Aus gegenwärtiger Sicht bemerkenswert nimmt sich der Umstand aus, dass es damals in Berlin neben dem genannten Seminar mit zwei Lehrstühlen sowohl ein außeruniversitäres Russisches Wissenschaftliches Institut als auch ein Ukrainisches Wissenschaftliches Institut gab, beide getragen von der jeweiligen politischen Emigration. Ingo Haars Beitrag “Osteuropaforschung und ‚Ostforschung‘ im Paradigmenstreit: Otto Hoetzsch, Albert Brackmann und die deutsche Geschichtswissenschaft” (S. 37-54) enthält eine Ehrenrettung Hoetzsch, der zugleich als Publizist, Reichstagsabgeordneter und Protagonist einer deutsch-sowjetischen Wissenschaftskooperation tätig war. Haar porträtiert ihn als Begründer der historischen Osteuropaforschung in Deutschland, der er die deutschtumsbezogene und mit Konzepten wie “Volks- und Kulturboden” operierende Ostforschung gegenüber stellt, wie sie der deutschnationale Mediävist und Archivar Albert Brackmann vertrat.

Den explosionsartigen Ausbau des Faches Osteuropäische Geschichte an Universitäten der alten Bundesrepublik von einer Professur 1946 (Mainz) auf 24 im Jahr 1990 stellt Hans Lemberg in Wort und Grafik in seinem Beitrag “Forschung und Lehre zur russischen und sowjetischen Geschichte in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg” übersichtlich dar (S. 55-69). Dabei wird deutlich, dass im universitären Bereich “Osteuropa” häufig für “Russland/UdSSR” stand, die Geschichte Südosteuropas, Ostmitteleuropas, gar Nordosteuropas hingegen nur schwach verankert war. Dem standen indes eine ganze Reihe außeruniversitärer Forschungsinstitute mit eben diesen Regionalschwerpunkten gegenüber, die nach 1990 von Sinnkrise und Sparzwängen wesentlich weniger erfasst wurden, ja deren Zahl sich seitdem durch Neugründungen erhöht hat.

Aufstieg und Niedergang der (West-)Berliner historischen Osteuropaforschung beschreibt Holm Sundhaussen in seinem Beitrag “Osteuropäische Geschichte und Regionalstudien am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin: Eine unendliche Geschichte” (S. 195-204): Von 6,5 einschlägigen Professuren in den 1980er-Jahren strebt der Personalbestand mittlerweile gegen 1,0. Die divergierenden Empfehlungen zahlreicher Kommissionen, die seit 1992 das Institut evaluiert haben, sagen dabei mehr über Paradigmenwechsel und Rivalitäten in den Geisteswissenschaften im wiedervereinigten Deutschland insgesamt als über die Arbeit des Instituts aus.

Die ostdeutschen Gegenstücke zu Lembergs und Sundhaussens westlichen Fach- und Institutsgeschichten bilden Beiträge von Wolfgang Küttler zur politischen Funktion der Osteuropahistorie in der DDR, von Ludmila Thomas zu Humboldt-Universität und Akademie der Wissenschaften in (Ost-)Berlin und von Lutz-Dieter Behrendt zu Leipzig. Dessen Aufsatz “Die Osteuropahistoriographie in der DDR. Das Beispiel Leipzig” (S. 184-194) belegt, dass nach dem Scheitern dreier Ansätze zur Etablierung des Faches hier - 1919, 1933 und 1943 - der Staatssozialismus ebenfalls etliche Peripetien mit sich brachte. Denn auch ein vierter, 1946 in der SBZ unternommener Anlauf zur Einrichtung eines Lehrstuhls sowie zur Gründung eines angegliederten Instituts für Geschichte der Völker der UdSSR drohte zu scheitern, da der aus Slowenien gebürtige Lehrstuhlinhaber Walter Markov 1951 als “Titoist” aus der SED ausgeschlossen wurde und sich in der Folgezeit vom Osten nach Westen (Frankreich) und Süden (Afrika) umorientierte.

Die Umwandlung und regionale Erweiterung der besagten Institutsneugründung in ein Institut für Geschichte der europäischen Volksdemokratien 1955 brachte dann nur mittelfristig Kontinuität, denn im Vorfeld des Prager Frühlings warf die Partei der Leitung und den Mitarbeitern des Instituts Revisionismus vor und löste es 1968 auf. 1974 kam es zu einem neuerlichen Anlauf, diesmal in Form eines Wissenschaftsbereichs Geschichte der KPdSU, der UdSSR und des sozialistischen Weltsystems an der Karl-Marx-Universität, der von ideologischen Kontrollinstanzen an der kurzen Leine geführt wurde. So präzise Behrendt die Leipziger Fachgeschichte dieser Jahrzehnte in ihrer politischen Umklammerung beschreibt, so diffus wird sein Urteil zur Wende- und Nach-Wende-Zeit, als der genannte Wissenschaftsbereich in Institut für Geschichte Ost- und Südosteuropa umbenannt wurde.

Dies trifft insbesondere auf den von 1974 bis 1990 amtierenden Leiter Ernstgert Kalbe zu, einen eifernden Parteihistoriker, der bereits als Student 1954 den politisch angeschlagenen Markov und dessen Schüler bei der Universitätsparteileitung als korrupt denunziert hatte.5 Gar nichts berichtet Behrendt schließlich über die “Operative Personenkontrolle ‚Geschichte‘”, eine mit gewaltigem Personalaufwand betriebene lückenlose (Selbst-)Überwachung der Sektion Geschichte durch das Ministerium für Staatssicherheit in den 1980er-Jahren, die zu Parteiausschlüssen und Berufsverboten gerade auch von Osteuropahistorikern führte.

Bezüglich der Forschungs- und Literaturberichte, so von Klaus Zernack zur osteuropabezogenen Mittelalterforschung, von Manfred Hildermeiner zur Sozialgeschichte Russlands und der frühen Sowjetunion, von Edgar Hösch zur historischen Südosteuropaforschung in der alten Bundesrepublik und von Günther Schödl zur neueren Habsburghistoriografie, fällt auf, dass bezüglich der frühen Neuzeit eine Lücke klafft. Die thematische Spannweite hingegen ist beachtlich: Von der Imperialgeschichte (Christoph Witzenrath) über die Kulturgeschichte (Rainer Lindner) zur Geschlechtergeschichte (Carmen Scheide).

Hinzu kommen rezeptionshistorische Beiträge aus russischer (Sergej G. Allenov) und polnischer Sicht (Henryk Olszewski), Andreas Kappelers Bericht über einen Selbstversuch “Osteuropa und Osteuropäische Geschichte aus Zürcher, Kölner und Wiener Sicht” (S. 149-157) sowie eine das Fach mit einer Nachbardisziplin in Beziehungen setzende Kontribution. Dabei handelt es sich um Dittmar Schorkowitz‘ perspektivenreiche Übersicht “Osteuropäische Geschichte und Ethnologie. Panorama und Horizonte” (S. 237-256), die nahe liegender weise noch immer deutlich mehr weiße Flecken als kartiertes Terrain aufweist.6 Allerdings wirkt sich hier die Nach-Wende-Etablierung des Faches Europäische Ethnologie in Berlin und Frankfurt an der Oder sowie vor allem die 1999 erfolgte Gründung des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle an der Saale mit seinem Eurasien-Schwerpunkt zunehmend positiv aus.

Die Redaktion des sowohl aus überarbeiteten Konferenzreferaten als auch aus regelrechten Aufsätzen bestehenden Bandes ist dort verbesserungsfähig, wo im Text ein “Meine Damen und Herren” (S. 213) oder URL-Unterstreichungen stehen geblieben sind (S. 137, 139, 142 u. ö.), und ein Namensregister hätte die Funktion des Buches als Hilfsmittel zur Fachgeschichte beträchtlich erhöht.

Die Bilanz von hundert Jahren Osteuropäischer Geschichte im deutschen Sprachraum, dies macht der Band deutlich, fällt eindrücklich aus. Zugleich wird klar, dass die Teildisziplin auf Wendeschock und Sparzwang weder eine schlüssige konzeptionelle Antwort noch zu organisatorisch-strategischem Umdenken gefunden hat. Während die Südost-, Ostmittel- und Nordosteuropahistorie ein dichtes außeruniversitäres Institutionennetz erhalten, gar ausbauen konnte, ist die Russlandgeschichtsschreibung in Deutschland, Österreich und der Schweiz noch immer eine rein universitäre Angelegenheit – und damit verwundbarer. Umso näher läge es, an die Tradition der Berliner Russland- und Ukraine-Institute in der Weimarer Republik anzuknüpfen.

Anmerkungen:
1 100 Jahre Osteuropäische Geschichte in Berlin. Bilanz, Probleme, Perspektiven. Symposium der Abteilung Geschichte des Osteuropa-Instituts der Freien Universität und des Seminars für Osteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität am 18./19. Dezember 1992, Osteuropa-Institut der Freien Universität. Die Symposiumsvorträge von Conrad Grau, Günther Rosenfeld, Michael Schippan und Hans-Joachim Torke sind veröffentlicht in Thomas, Ludmila (Hg.), Deutsch-russische Beziehungen, (Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1 (1995)), Berlin 1995; siehe auch Borck, Karin; Schulze Wessel, Martin, Betrachtungen zur hundertjährigen Geschichte der Osteuropa-Historie in Berlin, in: Tych, Feliks (Hg.), Rußland im 20. Jahrhundert (Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1 (1994)) Berlin 1994.
2 Siehe dazu den Tagungsbericht von Anke Hilbrenner in H-Soz-u-Kult vom 07.08.2002 (URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=67).
3 Oberländer, Erwin (Hg.), Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945-1990, Stuttgart 1992.
4 Diese in der Zeitschrift “Osteuropa” geführte Diskussion ist wiedergegeben bei Creuzberger, Stefan, u.a. (Hgg.), Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion. Köln 2000, S. 25-133; siehe zuletzt auch Veser, Reinhard, Der Panik-Faktor ist weg. Die Osteuropawissenschaften in Deutschland sind in Gefahr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 174 vom 29. Juli 2005, S. 10.
5 Middell, Matthias, Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte – Institutionalisierungsprozesse und methodologische Problemlagen in der deutschen Geschichtswissenschaft 1890-1990. MS., Habilitatonsschrift, Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig 2002, S. 969.
6 Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags findet sich mittlerweile in der “Virtuellen Fachbibliothek Osteuropa” (URL http://www.vifaost.de/w/pdf/schorkowitz-ethnologie.pdf).

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