Titel
Becoming Historical. Cultural Reformation and Public Memory in Early Nineteenth-Century Berlin


Autor(en)
Toews, John Edward
Erschienen
Anzahl Seiten
466 S.
Preis
$85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Tausch, Institut für Neuere deutsche Literatur, Justus-Liebig-Universität Giessen

Fünfundzwanzig Jahre nach seinem Buch über die Wege der Hegelschen Schule von 1805 bis 1840 hat John Edward Toews (University of Washington) ein Buch über die Antipoden der Hegelschen Schule vorgelegt: eine vergleichende und ebenso philosophisch wie historisch fundierte Ideen- und Kulturgeschichte, die in umfangreichen, sich auf der Höhe der aktuellen Forschung bewegenden Einzelkapiteln Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Christian Bunsen, Karl Friedrich Schinkel, Felix Mendelssohn, Friedrich Karl von Savigny, Jacob Grimm und Leopold von Ranke thematisiert. In der Tat handelt es sich nicht nur um einen eminent wichtigen Forschungsbeitrag zur Durchsetzungsphase des Historismus im 19. Jahrhundert, sondern auch zur Debatte um Identitätsbildungsprozesse im öffentlichen Raum sowie zur Stellung der Künste im werdenden Nationalstaat. Toews untersucht zum einen die diskursiven Felder der Historiografie, der historischen Rechtsschule und der sich formierenden und etablierenden Germanistik darauf hin, wie sich in ihnen ein Primat historischen Denkens durchsetzt, zum anderen bezieht er sich insbesondere auch auf die Architektur Schinkels und die Musik Mendelssohns als jene Bereiche der Kultur des Vormärz, in denen durch ein als solches erst zu entfaltendes historistisches Denken die nationale ‚deutsche’ Identität konstruiert worden sei: und zwar in den Köpfen der einzelnen, die sich selbst als historisch geworden zu empfinden, kollektiv über dem evangelikal erneuerten Gesangbuch zu erinnern und gemeinsam im neu gestalteten Stadtraum Berlins wahrzunehmen begannen. Ein Buch, das eine solche Perspektiven- und Themenvielfalt sowohl mit derartiger Genauigkeit in der ideenhistorischen Rekonstruktion von Diskurszusammenhängen als auch mit analytischer Schärfe in der Durchdringung von Theorien, sicht- und betretbaren Kunstwerken und musikalischen Kompositionen im Einzelnen verbinden würde, ist ein seltenes Ereignis. Es kann freilich gar nicht anders sein, als dass ein derartig weitgespannt interessiertes Buch zugleich ein Wagnis ist, das viele Fragen aufwirft.

Es gelingt Toews nicht nur in außergewöhnlich hohem Maß, Ideen, Theorien, Bauten und musikalische Kompositionen im Rahmen ihrer Zeit zu kontextualisieren; er bewältigt darüber hinaus die weitaus diffizilere Herausforderung, Struktur und Wandel innerhalb jeder einzelnen der genannten Disziplinen zu verknüpfen und in ihrer Interdependenz mit anderen Disziplinen aufzuzeigen. Als ein Beispiel mag hier das Kapitel über Jacob Grimm dienen, dessen frühe, einerseits in Auseinandersetzung mit Savignys Rechtsphilosophie, andererseits im Gespräch mit den Romantikern gewonnene dichte Ideenskizzen der Jahre nach 1807 mindestens so ausführliche Würdigung erfahren wie die späteren, in Methode und Ziel mehrfach revidierten, doch stets aus den frühen skizzenhaften Entwürfen resultierenden Großprojekte von der Deutschen Grammatik des Jahres 1819 über die Deutschen Rechtsaltertümer zum Deutschen Wörterbuch und Deutschen Mythologie bis hin zur 1847 begonnenen Geschichte der deutschen Sprache. Toews zeigt so nicht nur auf, wie Grimms Theoriebildungen in unmittelbarer Abhängigkeit zu seiner eigenen Gegenwart zu sehen sind, sondern vor allem, wie sich der Denkraum seiner Theorien im Kraftfeld der sich wandelnden politischen und Ideengeschichte verschiebt und wie sich just in diesen Verschiebungen Parallelen und Differenzen zu Umakzentuierungen im Denken anderer Wissenschaftler der Historischen Schule in anderen disziplinären Feldern ergeben. Die Genese der Ideen Grimms und anderer Wissenschaftler wird folgerichtig, doch stets von einem sehr konkreten biografischen und ideengeschichtlichen Herkunftsort aus nachgezeichnet. Allerdings leitet Toews auf diese Weise sehr unterschiedlicher Formen von ‚Historismus’ her, deren Differenzen er zwar sichtbar werden lässt, deren Geltung er aber schon deswegen untereinander nicht mehr abgleichen kann, weil keine Form je in einer gültigen Gestalt zur Ruhe käme. Auf der einen Seite entstehen vor den Augen des Lesers beispielsweise kurzzeitig derartig identitätsstabilisierend-staatsnahe Formen teleologischer Geschichtsphilosophien, wie Toews sie für Christian Bunsen wie folgt beschreibt: „To become a German was to internalize as a personal memory the public narrative of German culture from the moment of its birth to the cusp of its fulfillment in the present.“ (S. 75) Auf der anderen Seite zeichnet Toews den Historismus eines Jacob Grimm einfühlsam als eine synthetisch verfahrende Archäologie, die demgegenüber auf die Destabilisierung der defizitären Gegenwart im Namen einer radikal anderen, aus kontingenten Spuren und Überresten nur zu imaginierenden Vorvergangenheit zielt: „To come ‚home’ was thus to live in an exotic and foreign world, to plant one’s feet in native reality was to live imaginatively in a world that had to be recreated from historical ruins and traces. Moreover, to come home in this sense was also to rebel against the world of the fathers of the present and recent past, to displace the present fathers with the recreated fathers from the ancient past.“ (S. 322) Toews entscheidet sich hier wie andernorts, eher das Gemeinsame an diesen beiden beispielhaft herausgegriffenen Denkfiguren als das Unterscheidende herauszuarbeiten. Er versteht mit guten Gründen diese sowie alle anderen Denkfiguren als Formen des Historismus – im Sinne einer radikalen Verzeitlichung nicht nur alles menschlichen Wissens, sondern vor allem auch des Gegenwartsverständnisses in Bezug zu dem, was jeweils als Vergangenheit konstruiert wird – um ihren gemeinsamen Beitrag zur Formung des neuen Modells nationaler Identität betonen zu können. Nun arbeitet Toews durchaus die Spannungen heraus, die sich zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen dieser zentralen Denkform des 19. Jahrhunderts ergeben haben. Da er jedoch keine eigenen Begriffe für diese unterschiedlichen Formen einführt, fällt es ihm schwer, sich der Frage nach Zusammenhang und Bruch der angeblich neuen Denkfiguren mit dem historischen Denken des frühen 18. Jahrhunderts sowie demjenigen der Zeit vor und unmittelbar nach der französischen Revolution zu stellen. Toews selbst erklärt im Vorwort seines Buches im Anschluss an Foucaults Analyse der Endlichkeiten in „Les mots et les choses“, dass ihn einzig die spätere Geschichte des Historismus nach 1815, nicht also etwaige Ursprünge bei Herder und in der Romantik interessiert. Trotz seiner Sensibilität für Phänomene des Wandels geht er mithin stillschweigend von einem Bruch des 19. Jahrhunderts mit dem Jahrhundert der Aufklärung aus. So plausibel diese Entscheidung auch ist, verschenkt sie für das begriffliche Fassen der Unterschiede unterhalb des größten gemeinsamen Nenners namens „Historismus“ jedoch einiges, zumal man mit Blick auf die Ursprünge des imaginativ-kritischen Potentials mancher Ansätze der Zeit der Romantik eher in der früheren als der späteren Aufklärung fündig werden dürfte, wie sich wiederum mit Foucault, allerdings eher von „Il faut défendre la société“ ausgehend, argumentieren ließe.

Gerade solche Spannungen und Verwerfungen, die sich beispielsweise auch zwischen Friedrich Wilhelms IV. historisch gebenden, doch letztlich normativ gemeinten Ideen für die Ausstattung der Basilika als Idealform eines evangelikal erneuerten Christentums und den im ästhetischen Sinne ‚historistischen’, weil die liturgische Tradition in sich aufnehmenden, doch im Sinne der Kunstautonomie brechenden Kompositionen Mendelssohns ergeben, werden durch die Intensität von Toews Lektüren und Analysen jedoch vielfach erstmals überhaupt sichtbar. Toews zielt methodisch auf eine kulturhistorisch erweiterte politische Ideengeschichte, in die gerade auch die Künste integrierbar sind. Dass bei solcher Perspektivenvielfalt manches noch erweiterbar gewesen wäre, versteht sich von selbst. Am schmerzlichsten vermisst man ein Kapitel über die Gartenkunst, das neben Berlin auch Potsdam stärker hätte ins Blickfeld rücken lassen; die Architekten und Gärtner neben und nach Schinkel wären möglicherweise gerade im Sinne von Toews These ein dankbarer Untersuchungsgegenstand gewesen, zumal der Garten dem Experiment, die reflexiv erarbeiteten neuen Geschichtskonstrukte in sinnlich erfahrbare Rauminstallationen umzusetzen, weniger Widerstände entgegensetzte als der tradierte, immer schon sehr heterogen besetzte, zudem gerade nach 1840 tendenziell unberechenbar wuchernde Stadtraum. Auch das Fehlen eines eigenen Kapitels über die Literatur im engeren Sinne, vor allem über die erzählende, ist auffällig: ob sich neben Schinkel auch E.T.A. Hoffmann, der in seinen spätesten Erzählungen mit ‚historistischen’ Formen immerhin experimentierte, oder Achim von Arnim, der sich den Problemen des Historismus in seinen Erzählungen mehrfach zentral stellte, in das Bild fügen würden, ist allerdings fraglich, so dass Toews Entscheidung, gemeinsam mit der Literatur Autoren wie Hermann von Pückler-Muskau oder Karl August Varnhagen von Ense weitgehend auszuklammern, gut begründet erscheint. Zu bedauern ist in diesem Punkt nur, dass Toews wenige Seitenbemerkungen zu Friedrich de la Motte-Fouque, dem späten Ludwig Tieck und Bettina von Arnim notwendig ein entsprechend verkürztes Bild von der Rolle „der Romantik“ zeichnen, der Friedrich Wilhelm IV. – wie gerade sein früher „Roman“ „Die Königin von Borneo“ belegen dürfte – einmal mehr zu Unrecht zugerechnet wird.

Die allergrößte Stärke von Toews methodischem Zugriff besteht nun aber darin, dass er das dynamisierende Moment, das aus den mit Blick aufeinander sich voneinander absetzenden Theorien resultiert, gleichsam in statu nascendi einfängt. Er kann damit aus ideengeschichtlicher Sicht aufzeigen, dass es die divergierenden Erwartungen der zwar unterschiedlichste Werke produzierenden, doch insgeheim historistisch verfahrenden Kulturschaffenden an das Projekt ‚nationale Identität’ sind, die auf synergetische Weise die Basis dafür herstellen, dass Preußen innerhalb des deutschsprachigen Raumes in politischer Sicht das werden konnte, was es dann wurde. Man mag Toews eigenen ‚Historismus’ in der Rekonstruktion der Genese des Historismus darin erblicken, dass er sich tatsächlich in den individuellen Erwartungshorizont der unterschiedlichsten Theoretiker hineinzuversetzen sucht, um das Entstehen eines kollektiven Erwartungsvakuums nicht etwa als vage ‚Stimmung’, sondern aus den untersuchten epistemischen Strukturen heraus aufzuweisen.

Gleichwohl bleibt ein Moment des Unbehagens, das vor allem darin besteht, dass Toews These einer sich in historischer Langzeitperspektive insgesamt durchsetzenden Politik der Herstellung von Identität durch Formen historischer Selbstvergewisserung quer dazu dennoch von einem räumlichen Kraftzentrum her gedacht ist bzw. dieses konkurrenzlos als ein solches setzt: Berlin. Der schiere Umstand, dass die unterschiedlichsten Ideen der unterschiedlichsten politischen und ideengeschichtlichen Akteure und Hoffnungsträger in Berlin und nur hier konvergieren, wo sich ihre Wege empirisch in der Tat, wenn auch oft nur kurz, gekreuzt haben, suggeriert durch die willkürliche Beschränkung des Untersuchungsraumes auf Berlin und Preußen im Ergebnis eine Zwangsläufigkeit der doch ideengeschichtlichen Entwicklung, die schon deswegen fragwürdig ist, weil sie die Ereignisgeschichte des späteren 19. Jahrhunderts schon für dessen Anfänge insgeheim voraussetzt. Damit aber trägt Toews gerade aufgrund seines eminenten kritischen Ansatzes gleichsam wider Willen dazu bei, eine sehr konservative Sicht auf die Rolle Preußens nach 1806 und 1815 zu befestigen. Indem er zwar die dynamisierende Wirkung des Erwartungsvakuums um 1840 beschreibt, nicht aber jene aus ihm resultierenden Möglichkeiten in Rechnung stellt, die dann tatsächlich nicht unmittelbar in die Ereignisse nach 1849 Eingang gefunden haben, gehen in Toews Bestandsaufnahme der identitätsstabilisierenden Seiten des öffentlichen Vormärzdiskurses die eben nicht zur Stabilisierung von Identität beitragenden Impulse verloren. Das Erwartungsvakuum erweist sich letztlich als gar keines, denn auf zwar ungreifbare Weise, doch im Ergebnis sehr erfolgreich setzt sich in diesem vermeintlichen Vakuum von einem organisierenden Zentrum her die erneute Legitimierung des patriarchal gedachten monarchischen Prinzips im öffentlichen Raum in der Fassung durch, die Toews zufolge zwar maßgeblich auf den vergleichsweise liberalen Ideengeber Bunsen, zugleich mit ihm jedoch auf die Person Friedrich Wilhelm IV. zurückgeht. Sowohl die frühesten Ideen und Skizzen der Zeit nach 1815, auf die Toews in seinen Kapiteln über den früh verstorbenen Schinkel und über Jacob Grimm eingeht, als auch die divergierenden Hoffnungen im Vorfeld von 1848 konstituieren dieses Ergebnis, trotz der von Toews immer wieder betonten Distanznahmen einzelner Wissenschaftler, letztlich einfach mit. „Memory“ wird von Toews in einer fast an Droysen gemahnenden Weise als Akt der stabilisierenden Rückversicherung eines jungen, sich letztlich als traditionslos wissenden Staatswesens und seines Monarchen in einer borussisch-evangelikal neu zu erfindenden Vergangenheit verstanden. Der vielstimmigen Erinnerung an die Zukunft, die selbst in einigen der von Toews im Einzelnen doch so feinfühlig analysierten Werke verborgen liegt, wird die Möglichkeit, als counter-memory an das Unabgegoltene in der Geschichte zu erinnern, letztlich abgesprochen. Für Toews liegt die Macht der Kunst über weite Strecken seines Buches darin, die Kunst der Macht zu ermöglichen. In welchem Umfang dies kritisch gemeint ist, geht zwar mit aller Deutlichkeit aus dem knappen Epilog des Buches hervor, der die Ideen von Marx und Kierkegaard zum Problem insbesondere personaler Identität gleichursprünglich aus den Diskussionen der 1840er-Jahren hervorgehen lässt und als eine untergründig verwandte philosophische Alternative zur machtstaatlich unterstützten Konzeptualisierung des Identitätsmodells darstellt. Kierkegaards und Marxens Alternativen zur machtstaatlichen Installation eines Identitätsmodells der Gewordenheit, das just die Gemachtheit dieses Gewordensein dauernd verdeckt und damit die eigene Historizität versteckt, wiewohl das Historische sein einziger Inhalt zu sein scheint, konvergieren für Toews darin, die Künstlichkeit und Revidierbarkeit dieses Identitätsmodelles reflexiv präsent zu halten. Toews setzt mithin, wie einer der vermutlich wichtigsten Sätze des Buches anzeigt, auf die Möglichkeit einer die Grenzen von Identität überschreitenden Selbsterkenntnis: „Such self-recognition, however, could not come from outside history; its conditions would have to emerge from the practices of the reflective ego itself.“ (S. 425) Wenn die Möglichkeit zu einer solchen Selbsterkenntnis jedoch, wie Toews hier sagt, nicht in einem außerhalb der Geschichte liegenden Punkt liegen kann, dann müsste es konsequenterweise die Aufgabe des Geschichtsschreibers sein, schon in den Übergangsstellen, Brüchen und Diskontinuitäten der analysierten Diskurse Ansatzpunkte für möglichen Widerstand ausfindig zu machen, die nicht auf indirekte Weise immer nur systemstabilisierend wirken.