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Titel
Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen


Autor(en)
Anter, Andreas
Erschienen
Tübingen 2005: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XII, 311 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schneider, Instituut voor Geschiedenis, Universiteit Leiden

Die hier zu besprechende, von Andreas Anter 2003 an der Universität Leipzig eingereichte politikwissenschaftliche Habilitationsschrift unternimmt den ambitionierten Versuch einer umfangreichen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ordnung.

Bei diesem Unterfangen geht Anter von der Prämisse aus, dass alle zentralen politischen Begriffe der Moderne – vor allem der Staat, das Recht und die Verfassung – zuvorderst Ordnungsbegriffe sind. Mittels eines an Max Weber angelehnten interdisziplinären und typisierenden Verfahrens ist es erklärtes Ziel des Buches, nach „allgemeinen Strukturprinzipien der Ordnung zu fragen“ (S. 7). Jedoch tut Anter dabei gut daran, sich von der Vorstellung eines substanziellen Ordnungsbegriffes zu verabschieden: „Eine allgemeine Definition ist allein deshalb kaum möglich, weil er in jedem Zusammenhang eine andere Bedeutung annehmen kann. Daher scheint es wenig aussichtsreich, nach dem Wesen der Ordnung, an sich’ zu fragen.“ (S. 6)

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile, denen jeweils drei Kapitel zugeordnet sind, wobei die ersten drei Abschnitte die Grundlagen des Themas behandeln, und letztere sich den, Anter zufolge, drei zentralen Ordnungen der Moderne widmen: Wirtschaft, Recht und Staat.

Im ersten Kapitel wird der Ordnungsbegriff in erster Linie unter epistemologischen und semantischen Gesichtspunkten behandelt. Dabei hält Anter zunächst fest, dass im Prinzip jegliche Art von wissenschaftlicher Betätigung einen Ordnungsprozess darstellt; hier war es nicht zuletzt die Soziologie, die sich seit ihrer Entstehung als Ordnungswissenschaft verstanden hat. Dass es jedoch die Wissenschaft ist, die die Ordnung in die Dinge bringt, ist ein genuin neuzeitliches Phänomen. Während sich im Mittelalter ein Thomas von Aquin noch sicher sein konnte, die Ordnung „vornehmlich in den Dingen selbst“ (S. 11) zu finden, verlagerte sich diese „Ordnung der Dinge“ seit Kant in die Köpfe der Menschen. Zugleich schwand beim Übergang in die Frühmoderne der Glaube an eine gottgewollte, transzendente Ordnung: „Nunmehr setzte sich zunehmend die Vorstellung durch, dass Ordnungen von Menschen gemacht werden, daß sie also das Produkt einer subjektiven Setzung sind.“ (S. 29) In Bezug auf die semantische Dimension des Ordnungsbegriffes bemerkt Anter, dass dieser stets im Gewande binärer Codes auftaucht. Dabei ziehen sich besonders zwei Grundtypen als Leitdifferenzen durch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen: Die Opposition von natürlicher und künstlicher sowie jene von spontaner und hergestellter Ordnung. Immer, so Anter, gehe es dabei um die Grundfrage, ob Ordnung ein naturhaft Gegebenes oder ein herzustellendes Phänomen sei.

Kapitel zwei beschäftigt sich eingehend mit dem Dualismus von Ordnung und Unordnung. Dabei betont Anter zum einen, dass sich jede Ordnung mittels Grenzziehungen konstituiert – insofern lässt sich Ordnung als ein Distinktionsprinzip verstehen, die durch einen Akt der Scheidung entsteht. Abzugrenzen versucht sich die Ordnung währenddessen stets von Formen der Unordnung, wobei zumeist der Begriff des Chaos als Chiffre des Ungeordneten fungiert. Hierbei stellt Anter zum anderen eine grundlegende Paradoxie fest: Jede Ordnung ist für ihre Existenz auf einen bestimmten Grad an Unordnung angewiesen. Denn ist eine Ordnung erst einmal etabliert, läuft sie rasch Gefahr in Lethargie zu verfallen, weshalb „jede politische Gemeinschaft […] ein gewisses Mass an Unordnung tolerieren, vielleicht sogar aktiv provozieren [muss], um ihre Stabilität und Dynamik zu erhalten“ (S. 54). In diesem Kapitel geht Anter weiterhin der interessanten Frage nach, ob es sich beim Begriff der Ordnung um eine spezifisch konservative Erscheinung sowie typisch deutsche Angelegenheit handle. Beides wird vom Autor sogleich verneint. Ersteres geschieht mit dem Hinweis darauf, dass insbesondere im real existierenden Sozialismus die Stunde der Ordnung geschlagen habe, was Anter mit einer Auflistung von Schriften aus der DDR illustriert, die die Reglementierungswut des sozialistischen Regimes dokumentieren, wie etwa die „Ordnung über die Arten und Tragweise der Bekleidungen und Kennzeichen der Gesellschaft für Sport und Technik“ aus dem Jahre 1970. Hinsichtlich letzterem erklärt Anter mit Nachdruck, dass es sich beim Ordnungsdenken um ein transnationales Phänomen handelt: „Jeder Blick in die politische Ideengeschichte der Moderne zeigt, daß die Orientierung am Wert der Ordnung weit über irgendwelche nationalen Grenzen hinausreicht.“ (S. 70)

Das dritte Kapitel thematisiert hauptsächlich den Zusammenhang von Ordnung und Sicherheit. Hierbei vertritt Anter die These, dass Ordnungen vor allem deshalb dauerhaft und stabil sind, weil sie über eine bestimmte Form von Kapital verfügen, nämlich dem der Ordnungssicherheit. Sie zu schaffen ist nicht zuletzt Aufgabe des Rechts, und die Ordnungssicherheit „setzt […] klar fixierte Normen und Regeln voraus: Man muß heute einigermaßen sicher sein können, was einem morgen geboten oder verboten sein wird“ (S. 101). Ordnungssicherheit ist demnach eine Frage der individuellen und kollektiven Erwartungssicherheit; das Verlangen danach, so Anter, vermag auch zu erklären, warum bestehende Systeme nur schwerlich umzustürzen sind – schließlich würde dies die oftmals nur mühsam erworbene Ordnungssicherheit gefährden.

Die Kapitel vier bis sechs beschäftigen sich, wie bereits erwähnt, mit den zentralen Ordnungen der modernen Gesellschaft. Ich verzichte darauf, diese Abschnitte in aller Ausführlichkeit zu referieren, denn sie stellen zuvorderst den Versuch dar, den dezidierten Ordnungscharakter der Ökonomie, des Rechts und des Staates in der Moderne aufzuzeigen. Dies wird dann von Anter zunächst auf kenntnisreiche und konzise Weise anhand der ordnungspolitischen Ideen eines Walter Eucken und Friedrich August von Hayek exemplifiziert. Sodann wird die Verfassung als „ein politisches Ordnungsprogramm“ diskutiert, „in welchem sich die grundlegenden Prinzipien der politischen Gemeinschaft kristallisieren“ (S. 162). Schließlich steht der Staat auf der Agenda, dessen Aufgabe es vor allem ist, angesichts der Pluralität und Heterogenität der Ordnungen in der Moderne die politische Einheitsbildung zu sichern. Dabei kommt insbesondere dem Verfassungsstaat eine doppelte Aufgabe zuteil, „denn er will nicht nur in der Pluralität Ordnung garantieren, sondern auch in der Ordnung Pluralität gewährleisten“ (S. 201). Dem verstärkt in den letzten Jahren verkündeten Abschied vom souveränen Staat mag sich Anter indes nicht anschließen. Vielmehr habe der Staat in den letzten Jahren sukzessive neue Betätigungsfelder usurpiert – etwa in Form von Datenschutz- und Gleichstellungsbeauftragten, Verbraucher- und Umweltministern sowie auf dem Terrain der Sicherheitspolitik bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität. Zugleich will Anter den Staat nicht mehr als substanzielle Einheit betrachten, denn nur eine solche Perspektive erlaube die Diagnose einer tief greifenden Krise des Staatswesens. Genauer müsse er „als eine Chiffre für eine Vielzahl öffentlicher Institutionen und Aufgabenträger“ (S. 247) begriffen werden.

Die hier rezensierte Arbeit stellt eine besonders in ihren Einzelbeoabachtungen kenntnisreiche und gut lesbare Studie dar, die allen am Thema Interessierten einen instruktiven Überblick über die verschiedenen Ordnungsbegriffe- und konzepte der Moderne bietet. Gleichwohl sind einige kritische Anmerkungen angebracht.

Zum einen stellt speziell der zweite Teil des Buches eine zwar äußerst fachkundige, aber doch etwas zusammenhangslose Auseinandersetzung mit den Ordnungskonzepten von Ökonomie, Recht und Staat dar. Zum eigentlichen Erkenntnisinteresse der Arbeit, grundlegende Strukturprinzipien der Ordnung herauszuarbeiten, trägt sie nicht entscheidend bei. Dies ist nicht zuletzt dem Gegenstand von Anters Studie geschuldet; schließlich muss er einräumen, dass sich jedwede Ordnungsbegriffe und -konzepte jeweils auf spezifische Formen beziehen und diesbezüglich kein allgemeiner Ordnungsbegriff herauspräpariert werden kann. Gewinnbringender wäre es vermutlich gewesen, nach den historisch-konkreten Ausformungen von Ordnungsbegriffen zu fragen, anstatt nach idealtypischen Strukturprinzipien zu fahnden. Insofern wird man sich dem Fazit des FAZ-Rezensenten anschließen, der bemerkte, dass es sich bei Anters Buch weniger um „eine streng durchkomponierte Sinfonie“ als um „ein locker zusammengefügtes Melodienpotpourri“ 1 handle.

Andererseits ist, gerade aus dem Blickwinkel des Historikers, die bisweilen entkontextualisierende Perspektive anzumahnen. Allzu oft schweben die Ordnungsbegriffe und -konzepte frei durch die Geschichte, nur selten, etwa wenn bei Hobbes darauf hingewiesen wird, dass sein Ordnungsdenken als Reaktion auf die Bürgerkriegserfahrung seiner Zeit begriffen werden muss, wird dem historischen Kontext Tribut gezollt. Gewiss, Anter ist kein Historiker, und sein Erkenntnisinteresse ist zuvorderst ein politikwissenschaftliches. Insofern täte man ihm unrecht, würde man ihn an den Maßstäben geschichtswissenschaftlicher Praxis messen. Dennoch wird man von einer Studie, die zu weiten Teilen einen ideengeschichtlichen Ansatz wählt, verlangen dürfen, dass sie die den Analysegegenstand stärker in den gesellschaftsgeschichtlichen Kontext einbettet. Eine solche Kontextualisierung hätte beispielsweise zeigen können, dass die zahlreichen und vielgestaltigen intellektuellen Auseinandersetzungen mit dem Problem der Ordnung vor allem im Zeitalter der „Klassischen Moderne“ 2 auch als Reaktionen auf die Dynamik beschleunigter Industrialisierung, Urbanisierung sowie die Durchsetzung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung verstanden werden müssen; zahlreiche Experten aus Sozial- und Humanwissenschaften – zu denen freilich auch Eucken und Hayek zu zählen sind – versuchten in dieser Epoche mit ihren intellektuellen Entwürfen auf die wahrgenommene „Unordnung“ und „Vermassung“ zu reagieren und die Sozialordnung zu stabilisieren.3 Dass dieses „radikale Ordnungsdenken“ schließlich im Nationalsozialismus ungeahnt schreckliche Folgen zeitigte, hat insbesondere Lutz Raphael mehrfach betont.4

Anmerkungen:
1 Pawlik, Michael, Hut ab vor so viel Belesenheit. Aber weniger wäre mehr: Andreas Anters Ordnungsphantasien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.2.2005, S. 36.
2 Dieser aus der Kunstgeschichte entlehnte und nicht zuletzt von Detlev J. K. Peukert in die geschichtswissenschaftliche Diskussion eingebrachte Begriff bezieht sich auf einen Zeitraum, der mit der Jahrhundertwende um 1900 einsetzte, in dem nicht nur Deutschland den soziokulturellen Durchbruch der Moderne erlebte und der bis in die 1960er-Jahre reichte, vgl. dazu v.a. Peukert, Detlev J. K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Republik, Frankfurt am Main 1987, S. 11f, 166.
3 Vgl. hierzu die Überlegungen von Etzemüller, Thomas, Die ‚Rothfelsianer“. Zur Homologie von Wissenschaft und Politik, in: Hürter, Johannes; Woller, Hans (Hgg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005, S. 121-143, hier S. 131f., sowie Ders., Gesellschaftssteuerung durch die Macht von Bildern, in: Ebeling, Smilla; Lange, Dirk (Hgg.), Juniorprofessoren an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Entwicklung, Stand und Perspektiven der Forschung einer neuen Hochschulgeneration, Oldenburg 2005, S. 59-70, hier S. 65f.
4 Raphael, Lutz, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5-40; ders., Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327-346.

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