R. Hohls u.a. (Hgg.): Europa und die Europäer

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Titel
Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte


Herausgeber
Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Schmale, Institut für Geschichte, Universität Wien

Die Festschrift für Hartmut Kaelble spiegelt nicht nur die Arbeitsgebiete des Geehrten wider, sondern wird als originelle und sehr lesenswerte Publikation zu Themen der europäischen Geschichte Bestand haben. Im Allgemeinen haben Festschriften etwas von der Art eines bunten Blumenstraußes an sich, was durchaus seinen Reiz hat, und sind das, was man gerne eine „wissenschaftliche Fundgrube“ nennt. Die vorliegende Festschrift unterscheidet sich von anderen Sammelwerken dieser Gattung durch ein systematisches Gesamtkonzept, in das sich die AutorInnen gut eingefügt haben und das dank der editorischen Tätigkeit, die sich hier nicht auf das Sammeln beschränkte, auf ansprechend konsequente Weise umgesetzt wurde.1

Das besondere Charakteristikum der Festschrift liegt in dem Umstand, dass insgesamt 66 Beiträge mit einem gleichförmigen Aufbau versammelt wurden. Die Beiträge bestehen jeweils aus zwei Teilen: einem kurzen Essay von wenigen Seiten und einer Quelle, die durch den Essay eingeleitet wird. Bei den ausgewählten Quellen handelt es sich zumeist um Texte, aber zum Teil auch um bildliche Darstellungen. In einem Fall geht es um einen Film, der sich im Medium Buch selbstverständlich nur mit Fotodokumenten niederschlagen kann. Die Quellen reichen von autobiografischen Texten bis hin zu offiziellen politischen Erklärungen. Alle aus Essay plus Quelle bestehenden Beiträge haben einen Europabezug, der in sieben Felder aufgefächert wurde: 1. Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft; 2. Religion und Wertewandel; 3. Selbst- und Fremdbilder zwischen Nation und Europa; 4. Europa und die Welt; 5. Autokratie, Diktatur und Demokratie; 6. Krieg und Frieden; 7. Organisation und Institutionalisierung Europas. Die Themenfelder spiegeln die Arbeitsgebiete von Hartmut Kaelble wider; dennoch bilden sie keine künstliche Klammer heterogener Beiträge, sondern entsprechen den tatsächlichen Inhalten der Essays und Quellen.

Die Festschrift ermöglicht ein ausgesprochenes Lesevergnügen, denn alle Essays führen auf knappem Raum in einem Bogen vom jeweiligen thematischen Makrokosmos in den „Mikrokosmos“ der konkreten Quelle, die wiederum mit konkreten historischen Persönlichkeiten verbunden ist. Dieses einheitliche Bauprinzip funktioniert ausgezeichnet; es ist ein Buch, das man sich griffbereit ins Regal stellt, weil man weiß, dass man sich zu einer Vielzahl aktueller Forschungsthemen mit einer Lektürezeit von 20 bis 30 Minuten Anregungen, Auffrischungen, intelligente Argumente usw. beschaffen kann.

Die Essays und Quellen bieten im Einzelnen etwa Reiseberichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert von Reisenden außerhalb Europas nach Europa. Diese Perspektive der diskursiven Konstruktion Europas außerhalb Europas ist der Forschung nicht mehr fremd, aber im Vergleich zu innereuropäischen Perspektiven noch unterrepräsentiert – umso willkommener sind diese Beiträge. Andere setzen sich mit dem deutsch-französischen Verhältnis auseinander, das bekanntermaßen eine der wichtigsten Größen in der europäischen Geschichte der letzten 500 Jahre darstellte; wieder andere befassen sich mit US-amerikanisch-europäischen Begegnungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Mehrere Essays und Quellen zeichnen die historiografische und allgemeinere sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Europa seit dem späteren 18. Jahrhundert nach (Gibbon, Vaughan, Simmel, Lamprecht, Weber, Fourastié etc., oder auch in Geografie und Kartografie etc.). Eine Reihe von Beiträgen bringt ostmitteleuropäische und osteuropäische Auseinandersetzungen mit Europa in den Blick.

Quer zur Bandgliederung lassen sich mehrere Beiträge auch einer Rubrik wie „europäische Gedächtnisorte“ zuordnen. Damit ist nicht nur der diesbezügliche Artikel von Etienne François gemeint, sondern auch weitere, die auf so unterschiedliche Themen wie Dreißigjähriger Krieg, Judenverfolgung, Antisemitismus, Mahatma Gandhi, Kreisauer Kreis etc. eingehen – alles Themen, die trotz eines nationalgeschichtlichen Hintergrundes feste Orte im europäischen historischen Gedächtnis auch außerhalb eines engen nationalen Zusammenhanges darstellen.

66 Beiträge sind schlecht in einer Rezension zu resümieren, und sie lassen sich nicht in wenige Inhaltssätze kondensieren. Das würde auch der Intention der Festschrift zuwiderlaufen; sie ist im besten Wortsinn ein Lesebuch. Hätte ich es nicht zur Rezension erhalten, hätte ich es gekauft.

Anmerkung:
1 Die Festschrift soll zugleich als Grundstock eines „Themenportals Europäische Geschichte“ im Internet dienen, geplant unter URL: <http://www.europa.clio-online.de>.