D. Diner (Hg.): Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts III

Titel
Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts III.


Herausgeber
Diner, Dan; Simon-Dubnow-Institut
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
493 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Nach den Ost(mittel)europaschwerpunkten der ersten beiden Bände des neuen Leipziger Jahrbuchs ist der dritte thematisch ausgerichtet, nämlich auf “sekundäre Konversionen” sowie auf Wissenschaftsgeschichte. Unter “sekundären Konversionen” versteht Herausgeber Dan Diner in seinem Editorial Wandlungsprozesse unterhalb der Schwelle primärer Konversionen zu Christentum oder Islam, genauer Transformationen jüdischer religiöser Tradition in Richtungen wie Reformjudentum, orthodoxe Rückbesinnung und Konfessionalisierung des Privaten, aber auch Nationalisierung, Ethnifizierung und Säkularisierung (S. 9-13). “Das ‚Jüdische‘”, so sein Fazit, “erweist sich dabei als eine hybride Konstellation der Verschränkung verschiedenster Elemente und Embleme der Zugehörigkeit” (S. 11).

Pars pro toto sei hier auf eine sprachlich-kulturelle “sekundäre Konversion” verwiesen, nämlich auf den Identifikationsentwurf “jüdische Polonität” unter Teilen der Juden im 1918 neugegründeten Polen verwiesen. Als wichtigsten Transmissionsriemen benennt Karin Steffen in ihrem Beitrag “Das Eigene durch das Andere: Zur Konstruktion jüdischer Polonität 1918-1939” (S. 89-111), der eine Quintessenz ihrer unlängst erschienenen Monographie zum Thema darstellt 1, die polnische Sprache, derer sich nun etliche jüdische Zeitungen in Warschau, Krakau und Lemberg statt wie zuvor des Jiddischen bedienten. Neben dieser sprachlich-kulturellen Anverwandlung beinhaltete das Konzept “jüdische Polonität” aber auch die Konsolidierung einer nationalen Minderheit der Juden in der Zweiten Polnischen Republik. Zwar stießen sie damit beim Staatsgründer Józef Pilsudski und seiner “jagiellonischen Idee” eines multiethnischen, pluralkonfessionellen und toleranten Gemeinwesens auf Zustimmung, nicht hingegen bei den polnischen Nationalisten um Roman Dmowski. Ebenfalls stark war die innerjüdische Konkurrenz des polnischen Zionisten, denen Jiddisch als Nationalsprache galt. “Ein Jude, der auf Polnisch schreibt, gilt bei den Juden nicht als richtiger Jude”, zitiert die Autorin das retrospektive Urteil eines Zeitzeugen (S. 111). Nach dem Holocaust bot im neuen Volkspolen lediglich der Kommunismus einen Ausweg aus diesem Dilemma – und auch der war nicht verlässlich.

Die fünf weiteren Beiträge zum “Konversionen”-Schwerpunkt sowie vier thematisch verwandte Abhandlungen zu anderen Rubriken behandeln Deutschland, die USA, die Donaumonarchie und Österreich. Zu den letztgenannten gehört Justin Stagls Überblick “Conceptions Reconsidered: On Conversions and ‘Secondary Conversions‘” (S. 385-407), der das Dinersche Konzept aufgreift und diskutiert. Nach einem Überblick über primäre Muster von „Bekehrung“, Emanzipation, Assimilation u. a. verbreitert Stagl Diners Ansatz mittels vier binärer Oppositionen: Individualismus/Kollektivismus, Religion/Säkularismus, „sekundäre“/“primäre“ Konversionen und universelle/beschränkte Anwendbarkeit. Im Ergebnis hält er das Dinersche Deutungsmuster für „useful as well as new, even if the specific term itself may be an unfortunate choice“ (S. 407). Letzteres deshalb, weil so die Frage offen bliebe, ob „sekundäre Konversionen“ lediglich für das Judentum typisch sind oder ob es sich nicht eher um eine kulturanthropologische Grundkonstante handelt.

Ähnlich weit gefächert ist der aus acht Aufsätzen bestehende Fokus zur Wissenschaftsgeschichte, und dies sowohl geografisch wie disziplinär – von der Atomphysik über Mathematik und Chemie bis zu Psychologie und Rechtswissenschaft. Zwar nicht formal, aber doch inhaltlich diesem Bandschwerpunkt zuzuordnen, ist Peter Stachels konzise Studie “Was ist eine Tatsache? – Ludwik Flecks Beitrag zur Wissenschaftssoziologie und Erkenntnistheorie” (S. 351-382). Dass Thomas S. Kuhns Klassiker zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von 1962 die “Entdeckung” von Ludwik Flecks 1935 in Basel veröffentlichtem Buch “Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache” enthält, ist bekannt. Weitgehend unbekannt ist hingegen Leben und Werk Ludwik Flecks (1896-1961), eines aus Lemberg stammenden polnischen Arztes jüdischer Herkunft. Der polnischsprachig aufgewachsene Fleck studierte im habsburgischen Lemberg Medizin mit einem Schwerpunkt auf Mikrobiologie und war in der Zwischenkriegszeit an polnischen Krankenhäusern und Forschungsinstituten tätig. Nach zahlreichen Publikationen zur Bakteriologie in den 1920er-Jahren wurde in den 1930ern die Wissenschaftstheorie sein zweites Arbeitsfeld. Seiner medizinischen Kenntnisse wegen überlebte er nicht nur das Ghetto von Lemberg, sondern auch Auschwitz und Buchenwald. Zurück in Polen habilitierte er sich 1947 in Wroclaw/Breslau und begann eine zweite Forschungskarriere als Professor, Institutsdirektor und Akademiemitglied in Warschau. 1957 nach Israel ausgewandert, verhinderte Krankheit und Tod die Fertigstellung seines “zweiten Buches”, mit dem er an sein erstes von 1935 anzuknüpfen beabsichtigte. In seiner Vita, wissenschaftliches Umfeld und Werk eingehend analysierenden Untersuchung kommt Stachel gleich Kuhn zu dem Schluss, dass Fleck seiner Zeit voraus war, handelte es sich doch bei ihm um einen Wissenschaftstheoretiker, “der in seinem Werk eine der Grundvoraussetzungen des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses, die Idee einer unabhängig vom Bewußtsein des Betrachters gegebene und daher ,objektiv‘ erkennbaren ,Wirklichkeit‘, radikal verwarf, und mit seiner konstruktivistischen Perspektive einen wichtigen Beitrag zur Selbstreflexion der Wissenschaften leistete” (S. 382).

Zu den traditionellen Jahrbuchrubriken “Historiker”, “Aus der Forschung”, “Diskussion”, “Dubnowiana” und “Literaturbericht” sind die Rubriken “Miszellen” und vor allem “Abstracts” neu hinzugekommen. Zudem ist das bisher deutschsprachige “Autorenverzeichnis” zu einer englischsprachigen “Contributors”-Rubrik geworden. Überdies hat der Verlagswechsel eine leserfreundlichere Polygrafie und ein modernisiertes Umschlagsdesign mit sich gebracht, wohingegen der Ladenpreis annähernd gleich geblieben ist.

Anmerkung:
1 Steffen, Karin, Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918-1939 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 3), Göttingen 2004.

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