R. Weiershausen: Wissenschaft und Weiblichkeit

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Titel
Wissenschaft und Weiblichkeit. Die Studentin in der Literatur der Jahrhundertwende


Autor(en)
Weiershausen, Romana
Reihe
Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung an der FU Berlin 5
Erschienen
Göttingen 2004: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Dowe, Karlsruhe

„Es fehlt dem weiblichen Geschlecht nach göttlicher und natürlicher Anordnung die Befähigung zur Pflege und Ausübung der Wissenschaften und vor allem der Naturwissenschaften und der Medicin,“ erklärte 1872 der Münchener Anatomie-Professor Theodor von Bischoff 1 und schaltete sich damit in die Debatten um die Zulassung von Frauen zum Studium an deutschen Universitäten ein. Argumente wie diese fanden auch in den folgenden Jahrzehnten in Deutschland starken Widerhall und wurden von den zahlreichen Gegnern des Frauenstudiums begierig aufgenommen. Infolge ihres lang anhaltenden Widerstandes fielen die letzten Hürden für die volle Immatrikulation von Frauen in Deutschland erst zwischen 1900 und 1908, im internationalen Vergleich sehr spät. Diese Auseinandersetzungen schlugen sich auch in der zeitgenössischen Literatur nieder, wie Romana Weiershausen in ihrer 2003 von der Universität Göttingen angenommenen literaturwissenschaftlichen Dissertation zeigt.

Weiershausen interessiert die um 1900 in der deutschsprachigen Literatur neue Figur der Studentin bzw. der studierten Frau, die neben die bestehenden Muster von Weiblichkeit, die Femme fatale, die Kindfrau und die Mutter trat (S. 11). In der neuen Figur bündelten sich, dies arbeitet Weiershausen überzeugend heraus, zwei zentrale Debatten der Jahrhundertwende: die um Weiblichkeit und die um Wissenschaft.

Die neue Figur der Studentin bzw. Akademikerin kann Weiershausen in einer großen Anzahl literarischer Texte von bekannten und unbekannten AutorInnen nachweisen, die sie im Anhang der Arbeit zusammenstellt. Weiershausen konzentriert sich auf den Zeitraum von 1867, der ersten Einführung des allgemeinen Immatrikulationsrechtes für Frauen an einer deutschsprachigen Universität (Zürich), bis zum Ersten Weltkrieg, vor dessen Ausbruch entsprechende Texte fast völlig verschwinden. Erst in der Zwischenkriegszeit erschienen wieder Werke dieses Sujets. Sie unterschieden sich aber fundamental von denen der Vorkriegszeit, wie Weiershausen in Einleitung und Zusammenfassung kurz skizziert (S. 14, 270f.). Insofern erscheinen diese Eckdaten sehr plausibel.

Weiershausen geht es in ihrer Arbeit nicht darum, die literarische Figur der Studentin zu typisieren, sondern sie will den Funktionen der Figur in den jeweiligen Texten nachspüren (S. 12). Dazu analysiert und interpretierte sie ausgewählte Texte verschiedener Gattungen: Erzählprosa, die einen literarischen Beitrag zur Debatte um das Frauenstudium darstellt, Erzähltexte, in denen die Studentin nur Mittel zur Entfaltung anderer Inhalte ist, und Dramen naturalistischer Prägung (S. 16). Dafür, dass die Autorin auf die Berücksichtigung von Jugendliteratur und “Alltagskultur” verzichtet und Lustspiele separat zu behandeln beabsichtigt, hätte sich der Rezensent eine ausführlichere Begründung gewünscht (S. 15). Doch dieser Wunsch ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass der Rezensent kein Germanist, sondern Historiker ist, der das Buch aus der Perspektive einer benachbarten Geisteswissenschaft gelesen hat.

Weiershausen rückt die Ergebnisse ihrer subtilen Textinterpretationen in größere Zusammenhänge, indem sie mit Foucault Literatur nicht als einen abgeschlossenen, eigenständigen Bereich auffasst, sondern als eingebunden in übergreifende historische Diskursformationen ansieht (S. 23), wie sie in einem einleitenden Kapitel erläutert. Mit Blick auf Diskurse, verstanden als Systeme des Denkens und Argumentierens, betont sie deren historische Wandelbarkeit (S. 24). In den Debatten um das Frauenstudium sieht Weiershausen um 1900 grundlegende gesellschaftliche (Macht-)Fragen der Zeit verhandelt. Besonders sind hier die positivistisch aktualisierten Geschlechterdichothomie, die Verbindung der geistigen Tätigkeit von Frauen mit Körper- und Krankheitsdiskursen und Sittlichkeit zu nennen, Debatten, die Weiershausen in ihrer Einleitung knapp skizziert. Vor diesem Hintergrund interpretiert Weiershausen ihre Texte und fragt, Ansätze von Stephen Greenblatt aufnehmend, nach deren möglichen Subversionspotential.

Als Beispiel für Erzählprosa von Studentinnen der ersten Generation dienen Weiershausen die Werke “Die Libertad” (1891) von Käthe Schirmacher, “Wir Frauen haben kein Vaterland” (1899) und “Arbeiter” (1903) von Ilse Frapan sowie “Auf Vorposten” (1903) von Ella Mensch. In der subtilen Analyse der zentralen Figuren kann Weiershausen zeigen, dass in allen Texten - auch bei der konservativen Ella Mensch - die Frau als Hoffnungsträgerin aufgebaut wird. Anders als der zeitgenössische Studentenroman, den die Autorin als relativ eindimensionales Unterhaltungsgenre charakterisiert, kann der Studentinnenroman mehr, wie Weiershausen herausarbeitet. “Im Gegensatz zum studierenden männlichen Helden, bei dem die Studienzeit oft genug eine Rückzug von der Welt gleichkommt, der dazu dient, die Persönlichkeit des Protagonisten zur Entfaltung zu bringen, steht bei den vorgestellten studierenden Frauen gerade die Auseinandersetzung mit der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit im Zentrum” (S. 96), vor der die rein persönliche Entwicklung in den Hintergrund tritt. Indem das Frauenstudium zum Anlass und Ausgangspunkt wird, andere Diskurse zu hinterfragen, tragen diese Texte auch zur Dynamisierung des diskursiven Feldes bei. Welches kritische Potential in Studentinnenromanen stecken konnte, zeigt Weiershausen an Frapans “Arbeit”. In Zürich - wo die Handlung spielt - reagierten die Professoren und Studenten der dortigen medizinischen Fakultät mit einem Protestmarsch und einer Protestresolution, die in mehreren Zeitungen veröffentlicht wurde (S. 119-124).

Für die zweite untersuchte Gattung, Erzähltexte über Studentinnen, arbeitet Weiershausen die zugrunde liegenden lebensphilosophischen Ansätze der einzelnen Werke heraus. Mit Blick auf Lou Andreas-Salomés „Fenitschka“ (1898) verweist Weiershausen auf die vitalistisch-individualistische Perspektive Andreas-Salomés und stellte viele Beziehungen zu Andreas-Salomés “Theorien zur Weiblichkeit” her, einem Aufsatz, aufgrund dessen Andreas-Salomé bisweilen als reaktionär eingestuft wurde. Auch im Falle von Erwin Guido Kolbenheyers „Montsalvasch“ (1912) macht Weiershausen auf Zusammenhänge mit dessen später erschienen theoretischen Schriften (Bauhütten-Philosophie) aufmerksam, die bislang kaum beachtet wurden. Dabei betont Weiershausen die biologistisch-antiindividualistische Perspektive Kolbenheyers in „Montsalvasch“.

Als dritte Gattung untersucht Weierhausen das naturalistische Drama am Beispiel von Gerhard Hauptmanns “Einsame Menschen” (1891) und Elsa Bernsteins “Dämmerung” (1893). Hauptmann legt in seinem Werk die Studentin Anna Mahr als Projektionsfläche an, auf die die handelnden Personen ihre eigenen Konflikte projizieren. Mit Hilfe der Figur der Studentin macht Hauptmann also vorhandene Probleme sichtbar und zielt damit letztlich, wie Weiershausen betont, nicht auf die emanzipierte Frau, sondern auch ihre Wirkung auf das gesamte System, in das sie hineinbricht (S. 256). Bernstein setzt sich in ihrem Stück hingegen über naturalistische Vorgaben hinweg, was ihr die zeitgenössische Kritik als Unvermögen vorgeworfen hat. Aber gerade dadurch, so Weiershausen, entfalte Bernstein ein innovatives Bildungsideal für Frauen, das geistige, akademische Bildung und Bildung des Herzens vereine (S. 247f.).

In einem abschließenden Kapitel fasst Weiershausen das eindrucksvoll von ihr entfaltetes Panorama luzider Textinterpretationen zusammen und betont mit Recht, dass trotz aller Unterschiede die literarische Auseinandersetzung mit dem Frauenstudium nicht nur zeitgenössische Diskurse aktivierte, sondern auch vielfach innovative Entwürfe hervorbrachte, die auch den Rahmen des in publizistischen Debatten üblichen überschritten.

Den rezensierenden Historiker haben die subtilen und differenzierten Interpretationen der einzelnen Texte überzeugt, insbesondere die umsichtige Berücksichtigung von Gattungscharakteristika und Intertextualität. Durch die Einbettung in die zeitgenössischen Diskussionen haben die Interpretationen viel gewonnen, auch wenn sich der Historiker bei einer Arbeit seines eigenen Faches einen stärkeren Akzent auf mögliche zeitliche Veränderungen innerhalb des Untersuchungszeitraums gewünscht hätte. Besonders hervorzuheben ist die angenehme, gut verständliche Sprache auch der theoretischen Teile, was leider nicht selbstverständlich ist. So hat Weiershausen in überzeugender Weise einen Aspekt der deutschen Literatur der Jahrhundertwende aufgearbeitet und dabei Ergebnisse vorgelegt, die ihr Buch nicht nur für Germanisten, sondern für alle an Gender-Fragen Interessierte und für HistorikerInnen des Kaiserreichs interessant machen.

Anmerkungen:
1 Bischoff, Theodor L. W. von, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch die Frauen, München 1872, zitiert nach Edith Glaser, S. 69.

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