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Titel
Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland


Autor(en)
Gass-Bolm, Torsten
Reihe
Moderne Zeit 7
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Hoffmann-Ocon, Pädagogisches Seminar, Georg-August-Universität Göttingen

Das deutsche Gymnasium als Institution, von der historischen Bildungsforschung traditionell keineswegs vernachlässigt, erscheint aus europäischer Perspektive mit seiner Entwicklung seit 1945 als eine Kuriosität, ausgestattet mit erstaunlichen Beharrungskräften. Torsten Gass-Bolm verfolgt mit seiner Arbeit zwei Ziele: Er möchte erstens eine Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik am Beispiel des Gymnasiums bieten und zweitens diese in einen längeren zeitlichen Kontext stellen. Der Wandel des Gymnasiums wird auf den vier Feldern des Deutschunterrichts, der Schülermitverwaltung, des Gymnasiums als Ort der Elitenreproduktion und des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern panoramatisch und analytisch beleuchtet.

Die Eckdaten der Gesamtdarstellung werden auf die Jahre 1945 und 1980 gelegt. Zur genaueren Charakterisierung und Einbettung der verschiedenen Wandlungsformen des Gymnasiums greift Gass-Bolm in den ersten beiden Kapiteln jedoch auf die Entwicklung des Gymnasiums seit seiner Gründung Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Auch wenn er dabei an einigen Stellen auf eine zu einfache Beschreibung der Institution setzt, sind die aus der einschlägigen Literatur herauspräparierten Schlaglichter der Geschichte der Gelehrtenschule einigermaßen repräsentativ. So verweist Gass-Bolm zum Beispiel richtigerweise auf den Gesamtschulcharakter des Gymnasiums in den Anfangszeiten (mit Bezug auf die horizontal gegliederten Schulkonzeptionen Wilhelm von Humboldts), macht aber nicht deutlich, dass spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Professoren- und der Krämersohn kaum mehr eine Chance hatten, sich auf dem Gymnasium zu treffen (S. 32). Wenige Seiten später beschreibt Gass-Bolm dann auch selbst zutreffend, dass Realschulen und höhere Bürgerschulen (als soziale Filterinstanzen aus der Perspektive des Gymnasiums) bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sind (S. 40). Solche kritischen Anmerkungen sind aber nachrangig, weil das 19. Jahrhundert nicht der eigentliche Untersuchungszeitraum der Studie ist. Hier handelt es sich lediglich um eine hinführende Kompilierung. Dabei zeigt Gass-Bolm, dass er sich auf der Höhe des Forschungsstandes bewegt, etwa indem er das höhere Mädchenschulwesen einbezieht, welches sich zur Zeit der Weimarer Republik dem höheren Knabenschulwesen annäherte.

Zwischen 1945 und 1980 macht Gass-Bolm vier Epochen der Gymnasialentwicklung mit unterscheidbaren Diskursen aus, denen er jeweils ein Kapitel widmet. Das erste handelt vom Gymnasium in Zeiten konservativer Kulturkritik und geht unter anderem der Frage nach, warum die Schulreformpläne der Alliierten, die die Implementierung eines horizontal gegliederten Schulsystems vorsahen, in den Westzonen weitgehend scheiterten. Bei den deutschen Gymnasialvertretern habe die Meinung vorgeherrscht, dass man nach der NS-Zeit unter dem zentralen Paradigma des „christlichen Humanismus“ wieder an die bewährte abendländische Trias von Antike, Christentum und deutscher Kultur anknüpfen müsse. Obgleich Mitte der 1950er-Jahre bereits Zweifel an der Durchsetzbarkeit idealistischer Bildungskonzepte aufgekommen seien, habe weiterhin der traditionelle Anspruch gegolten, auf dem Gymnasium die gesellschaftliche Elite heranzubilden. Als organisatorischer Lordsiegelbewahrer sei insbesondere der Deutsche Philologenverband auf den Plan getreten. Ganz im Fahrwasser dieses Anspruchs hätten sich die in den 1950er-Jahren dominierenden biologistischen Begabungskonzepte bewegt, nach denen die Gymnasiasten eine „naturgegebene Übereinstimmung von Schulsiebung und Sozialsiebung“ widerspiegelten, wie es ein prominenter Bildungstheoretiker des Philologenverbandes formulierte (S. 133f.). Gass-Bolm unterschlägt nicht die Reformversuche zu dieser Zeit, rahmt diese bildungshistorische Epoche aber zu Recht mit dem kategorialen Begriff der „gebremsten Modernisierung“.

Das nächste Kapitel untersucht unter dem Titel „Der Aufbruch des Gymnasiums und die Akzeptanz der Moderne 1959 bis 1967“ vor allem den Wandlungsprozess tradierter Vorstellungen über die höhere Schule. Als Impulsgeber einer lang anhaltenden Diskussion über das Gymnasium habe der Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen von 1959 fungiert, der mit seinen Vorschlägen für das höhere Schulwesen, wie etwa eine Förderstufe für die Klassen 5 und 6 und die Neugestaltung der Oberstufe, der Grundannahme gefolgt sei, dass das westdeutsche Schulwesen nicht mehr den Bedingungen der modernen Gesellschaft entspreche. Flankiert von den Schriften Georg Pichts und Ralf Dahrendorfs seien Begriffe und Aussagen wie „Bildungskatastrophe“ und „Bildung ist Bürgerrecht“ ins Zentrum der Argumentation gerückt. Zugleich sei in wissenschaftlichen Untersuchungen die Existenz einer „Begabungsreserve“ festgestellt worden. Gerade Gass-Bolms Arrangement von bedeutsamen Texten der soziologischen, erziehungswissenschaftlichen, allgemein- und fachdidaktischen Disziplinen ist positiv hervorzuheben. Dadurch, dass epochentypische Neuansätze gymnasialer Bildung berücksichtigt werden – etwa der Erneuerungsversuch humanistischer Bildung Hartmut von Hentigs und der didaktische Ansatz „kategorialer Bildung“ Wolfgang Klafkis –, wird deutlich, wie sehr unterschiedliche Vorstellungen seinerzeit auf die Entideologisierung des Gymnasiums drängten. Gass-Bolm gelangt zu dem bemerkenswerten Befund, dass Bildungsdiskussionen über die Stellung des Gymnasiums wenig konflikthaft geführt wurden – in Zeiten, in denen man Konflikte in der eigenen Gesellschaft zu akzeptieren lernte und nachgerade betonte.

Im Kapitel „’Demokratisierung’ der Schule – Das Ende des Gymnasiums?“, das den Zeitraum von 1967 bis 1973 umfasst, geht es dann wesentlich um den bedeutenden Wandel des Gymnasiums, welches sich insbesondere durch die Etablierungsversuche der Gesamtschule mit einer permanenten Infragestellung konfrontiert sah. Die beiden wichtigsten schulpolitischen Konzeptionen in dieser Periode, der Strukturplan des Deutschen Bildungsrates (1970) und der Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission (1973), sahen die Gliederung des Schulwesens nach horizontalen Stufen und nicht nach traditionellen Schularten vor. Gass-Bolm zufolge war der Strukturplan zugleich Höhe- und Endpunkt des Jahrzehnts der großen Pläne. Er habe auf politischem Konsens beruht, im Kern das Konzept der Stufenschule vorgesehen und zwischen den dennoch fortbestehenden Schultypen Hauptschule, Realschule, Gymnasium eine große Durchlässigkeit angestrebt, allerdings in letzter Konsequenz kein eindeutiges Plädoyer für die Gesamtschule abgegeben. Laut Gass-Bolm hatte in der Bundesrepublik ein schulpolitisches Konzept, das mit gewissen Einschränkungen auf ein horizontal gegliedertes Sekundarschulwesen zielte, nun erstmals die Chance, von allen schulpolitischen Lagern befürwortet zu werden. Am Bildungsgesamtplan sei der Konsens dann aber zerbrochen. Das expandierende Gymnasium habe – paradoxerweise – eine Funktion erfüllt, die die oftmals von einer klassenlosen Gesellschaft inspirierten Schulreformer der Gesamtschule zudachten, nämlich mehr Bildung für mehr Kinder zu ermöglichen. Das Schulwahlverhalten der Eltern ersetzte die äußere Schulreform. Aus der historisch bewertenden Retrospektive war, und hier wird man Gass-Bolm zustimmen können, der Wandel des Konservativismus für die Gesamtentwicklung des Gymnasiums von größerer Bedeutung als manche der vieldiskutierten Ansätze der Reformprotagonisten. Auch in größeren historischen Dimensionen denkend, bewertet Gass-Bolm die Zeit zwischen dem Ende der 1950er- und Mitte der 1970er-Jahre zusammenfassend als eine „beschleunigte Modernisierung“.

Die Rahmung des Themas ist aus der Binnensicht einer Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik evident. Den selbst gesteckten Zielen ist Gass-Bolm gerecht geworden. Es bleibt lediglich randständige Kritik: Aus bildungshistorischer Sicht wäre vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Diskurses eine Untersuchung des höheren Schulwesens seit der Nachkriegszeit unter Einbeziehung beider deutscher Staaten wünschenswert gewesen. Insgesamt zeichnet sich Gass-Bolms Studie dadurch aus, dass sie Diskussionen über das Gymnasium auf verschiedenen schulisch relevanten Feldern rekonstruiert und mischt, in fast postmoderner Manier Perspektiven wechselt, dabei Geistes- und Sozialwissenschaftler, Vertreter von Lehrerverbänden, Bildungspolitiker und aus Schülerzeitungen zitiert – ein ambitioniertes Unternehmen, das auch sprachlich ansprechend umgesetzt ist. Diese Studie ist nicht nur für Historiker und Experten der historischen Bildungsforschung ergiebig, sondern auch für Studierende, etwa Lehramtsstudierende aller Disziplinen, die an einem geschichtlich fundierten Zugang zur Institution des Gymnasiums interessiert sind.

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