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Titel
Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen


Autor(en)
Brumlik, Micha
Erschienen
Berlin 2005: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Beer, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Micha Brumlik greift mit seinem Buch, das er als Essay einstuft (S. 8), in die aktuelle erinnerungspolitische Debatte über ‚Flucht und Vertreibung’ ein.1 Der Aufbau-Verlag kündigte die Publikation als „Streitschrift“ an. Zu ihr sah sich Brumlik durch das maßgeblich vom Bund der Vertriebenen (BdV) angestrebte „Zentrum gegen Vertreibungen“ herausgefordert, in dem die jüngste Phase der Auseinandersetzung mit ‚Flucht und Vertreibung’ in der Bundesrepublik ihren Kristallisationspunkt gefunden hat. Gegen dessen Konzeption – einer, wie Brumlik meint, „auf nationalistischem Ressentiment aufbauenden Gedenkstätte“ (S. 160) – und die Mittel, mit denen der BdV sein Vorhaben verfolgt, erhebt Brumlik ebenso entschiedenen Einspruch wie gegen die Unterstützung, die CDU und CSU im Unterschied zu SPD und Grünen dem Projekt zugesichert haben. Ein weiterer offensichtlicher Grund ist die von Brumlik beklagte Unterstützung, die die Initiatoren des „Zentrums gegen Vertreibungen“ von einer Reihe namhafter „jüdischer Wissenschaftler und Publizisten“ erfahren (S. 12, S. 125). Letztendlich ist das Buch die veröffentlichte Begründung dafür, weshalb Brumlik seine ursprüngliche Zusage, dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung beizutreten, zurückgezogen hat (S. 135).

Der Essay nimmt „den Umstand ernst, daß Millionen von Deutschen […] am Ende des Krieges entwurzelt, beraubt, traumatisiert, vergewaltigt oder auch ermordet wurden“ (S. 9). Von dieser Grundlage ausgehend fragt Brumlik „nach der generationenübergreifenden Rolle der Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs“ und überprüft „die Grenzen der Legitimität dieses Diskurses“. Sein Ziel ist „eine staatsbürgerliche Selbstverständigung“ (S. 9) über den Stellenwert von ‚Flucht und Vertreibung’ im Rahmen der deutschen Erinnerungskultur. Er wählt dabei die „zentralen, nach wie vor irritierenden Themen der Vertreibungsdebatte“ zum Ausgangspunkt seines lehrreichen Plädoyers: die Ursachen der Vertreibung der Deutschen; die „eventuell entschuldbaren oder rechtfertigbaren“ [sic!] Gründe für die Vertreibung; die moralische Legitimität der politischen Ziele der Vertriebenen; und schließlich das das gesamte Buch wie ein Generalbass bestimmende „Verhältnis von Holocaust und Vertreibung im kollektiven Gedächtnis der gegenwärtigen deutschen Nation“ (S. 15).

Diesen Fragen geht das manchmal detailbesessene, dann wiederum an der Oberfläche bleibende Buch in sechs Kapiteln nach. Das erste thematisiert knapp die „realgeschichtlichen Ereignisse der Vertreibung der Deutschen“. Dabei ist der Blick auf die mit der Westverschiebung Polens verbundenen Vertreibungen und jene aus der Tschechoslowakei eingeschränkt – Südosteuropa sucht man vergeblich. Im zweiten Kapitel bewertet Brumlik die aktuelle politische Kontroverse um das „Zentrum gegen Vertreibungen“. Vor allem aber spürt er der Art und Weise nach, wie ein Interessenverband mit geschickter geschichtspolitischer Medienarbeit darauf hinarbeitet, sein Anliegen durchzusetzen. Das dritte Kapitel ist ein Exkurs in die deutsche Belletristik unter dem Gesichtspunkt „Verantwortung und Verdrängung“. Am Beispiel insbesondere des Völkermords an den Armeniern und des 1923 mit der Konvention von Lausanne international sanktionierten griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs wird im vierten Kapitel die Politik der Vertreibungen im 20. Jahrhundert in Europa und in der Welt skizziert. Im fünften Kapitel bemüht sich Brumlik um eine Differenzierung zwischen kollektiver Schuld, Verantwortung, Sühne und Versöhnung sowie den sich daraus ergebenden politischen Folgen. Das letzte Kapitel fragt ausgehend von der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes von seinen Anfängen bis in die Gegenwart nach den politischen Konsequenzen, die aus der Geschichte der Vertreibungen für das 21. Jahrhundert zu ziehen sind.

Einer Streitschrift entsprechend schreibt Brumlik mit spitzer Feder, urteilt hart und macht keinen Hehl aus seinem Standpunkt: Ohne Holocaust keine ‚Flucht und Vertreibung’. Zwar betont er immer wieder die „vielfältigen Ursachen der Vertreibung“ (S. 29). Aber letztendlich läuft seine Argumentation doch auf die schon im Titel des Buches unmissverständlich zum Ausdruck kommende Ansicht „Wer Sturm sät…“ hinaus – oder, wie er es an anderer Stelle formuliert, „moralische Strafe gegen ein moralisch schuldig gewordenes Volk“ (S. 208). Dass es zur Vertreibung der Deutschen kam, hatte nach Brumlik „zwei eindeutig benennbare Ursachen“: die Illoyalität der Deutschen gegenüber den Staaten, in denen sie beheimatet waren, und den Krieg, mit dem das nationalsozialistische Deutschland seine Nachbarn und die Welt überzogen hat. Daraus zieht er den für ihn zwingenden Schluss, dass das „Zentrum gegen Vertreibungen“ nicht als „nationales Erinnerungs- und Trauerprojekt“ (S. 9) in Berlin umzusetzen sei, sondern als „transnationales Projekt“, wie es die gegenwärtige Bundesregierung befürwortet. Aber mit noch größerem Nachdruck wirbt Brumlik für ein „neutrales“ und zugleich international ausgerichtetes „Zentrum gegen Vertreibungen“, das „menschenrechtsorientiert“ in Lausanne seinen Sitz haben, einschlägige Forschungen durchführen und die Politik beraten solle.

Bedarf es für einen solch eindeutigen, schon zu Beginn des Buches deutlich geäußerten Standpunkt weiterer fast 300 Seiten? Mit jedem der sechs eher lose verbundenen Kapitel nähert sich Brumlik der zentralen Frage des Essays von einer anderen Seite. Dabei holt er weit aus – zuweilen, wie bei den breit erörterten rechts- und moraltheoretischen Detailfragen, so weit, dass er sich selbst ermahnen muss, das eigentliche Thema nicht aus dem Blick zu verlieren (S. 208). Mit seinen vielfältigen und bedenkenswerten Argumenten befruchtet Brumlik die notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung über den Ort von ‚Flucht und Vertreibung’ im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass er dabei auch immer wieder an Grenzen stößt. Die äußerst selektiv herangezogene wissenschaftliche Literatur ist in ihren Ergebnissen deutlich differenzierter als die Argumente, die Brumlik daraus schöpft. Zudem hat sich eine Reihe von unzutreffenden Fakten in das Buch eingeschlichen. Die „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ wurde nicht von Theodor Oberländer in Auftrag gegeben (S. 26), sondern schon 1951 von seinem Vorgänger im Amt des Bundesvertriebenenministers, Hans Lukaschek. Oberländer folgte ihm nicht „bereits 1957 [als] Vertriebenenminister im Kabinett Adenauer“, sondern bekleidete dieses Amt seit 1953. Und der 1923 geschlossene Vertrag von Lausanne war keineswegs einer „jener Pariser Vorortverträge, die das Ende des Ersten Weltkriegs regelten“ (S. 187).

Ein weitaus größeres Gewicht als diesen und weiteren „Kleinigkeiten“ kommt der Zweiteilung zu, die Brumlik zwischen dem Mord an den europäischen Juden und der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa vornimmt. Er steht damit nicht nur im Widerspruch zu den von ihm ausgiebig herangezogenen Autoren Götz Aly und Norman Naimark. Er setzt sich auch in Widerspruch zur eigenen Gewichtung, die er bei vielen der von ihm vorgestellten Beispielen von Vertreibungen auf die dem Nationalstaat innewohnende Idee des ethnisch homogenen Nationalstaats zurückführt. Holocaust sowie ‚Flucht und Vertreibung’, das zeigt die neuere Forschung deutlich, hängen in einer Art und Weise zusammen, die weit über 1939 und 1933 hinausreicht und mit einem „Tun-Ergehenszusammenhang“ (S. 66) nur unzureichend beschrieben wird. Beide Ereigniskomplexe sind das Ergebnis des ins 19. Jahrhundert zurückreichenden nationalstaatlich begründeten Programms der Völkerverschiebungen, das, rassistisch aufgeladen, in den nationalsozialistischen Mord an den europäischen Juden mündete. Dieser, die nationalsozialistische Eroberungs- und Besatzungspolitik sowie die neue machtpolitische Konstellation am Ende des Zweiten Weltkriegs wirkten katalytisch auf den nationalstaatlich begründeten Wunsch einzelner ost-mitteleuropäischer Staaten und die Entscheidung der Alliierten, mit den Deutschen nach 1945 „reinen Tisch“ zu machen, wie Winston Churchill es formulierte.

Brumlik zeigt pointiert Gründe auf, die dagegen sprechen können, dass der BdV ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ als regierungsamtliches Projekt verwirklicht. Allerdings zielt eine solche Argumentation auf einen Nebenschauplatz, denn sie sagt noch nichts zum viel weiterreichenden und grundsätzlichen Problem über den Ort von ‚Flucht und Vertreibung’ im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Dieses Problem besteht nämlich auch unabhängig vom Anliegen eines Interessenverbandes. Es kurzer Hand nach Lausanne abschieben zu wollen ist sicher keine Lösung. Die von Karl Schlögel gestellte, hier leicht abgeänderte Frage bleibt daher auf der Tagesordnung: „Wie spricht man über Verbrechen im Schatten eines anderen Verbrechens und wie erinnert man daran?“2

Anmerkungen:
1 Als Überblick vgl. den Themenschwerpunkt „Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Materialien zur Debatte um das ‚Zentrum gegen Vertreibungen’“: <http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Vertreibung-Inhalt>.
2 Schlögel, Karl, Nach der Rechthaberei. Umsiedlung und Vertreibung als europäisches Problem, in: Bingen, Dieter; Borodziej, W&#322;odzimierz; Troebst, Stefan (Hgg.), Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen, Wiesbaden 2003, S. 11-33, hier S. 12.

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