U. Gleixner: Pietismus und Bürgertum

: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Göttingen 2005 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 3-525-36841-0 464 S. € 54,00

Lächele, Rainer (Hrsg.): Pietistische Öffentlichkeit und religiöse Kommunikation. Die "Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes" (1730-1761). Ein Repertorium. Epfendorf 2004 : bibliotheca academica Verlag, ISBN 3-928471-47-3 531 S. € 78,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Friedrich, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Als „historische Anthropologie der Frömmigkeit“ angekündigt, weckt das vorliegende Buch von Ulrike Gleixner große Erwartungen. Thematisiert werden sollen die „kulturelle[n] Dimension[en]“ von Religion. Der Gegenstand, an Hand dessen dies geschehen soll, ist der „innerkirchliche, bürgerliche Pietismus“ in Württemberg (S. 1). Nicht zuletzt rücken dabei die kommunikativen Praktiken der Vergesellschaftung dieser religiösen Gruppe ins Zentrum der Betrachtung (v.a. S. 76-118). Ferner geht es um die Selbstentwürfe der gesamten Gruppe sowie der beteiligten Individuen, schließlich immer wieder um den Zusammenhang von individuellem Lebensentwurf und Gruppenidentität. Hauptsächliches Quellenmaterial, das Gleixner heranzieht, ist autobiographisches, biographisches und das daraus oftmals generierte genealogisch-historische Schrifttum, das von VertreterInnen des untersuchten „Pietismus“ verfasst wurde (S. 119-208, 349-374). Die Kapitel D bis G der Arbeit (S. 209-391) widmen sich ausführlich der Ehe, wie sie sich in den Selbstzeugnissen darstellt, sowie den damit verbundenen männlichen und weiblichen Formen der pietistischen Selbstdeutung. Besonderes Augenmerk legt Gleixner durchgehend auf den spezifisch weiblichen Anteil an der pietistischen Frömmigkeit, auf die weibliche Quellenproduktion und ganz allgemein auf die Situation von Frauen im württembergischen Pietismus.

Methodisch gesehen soll das biographische Schrifttum nicht nur zur Rekonstruktion des pietistischen Alltags und als Gradmesser frühneuzeitlicher Individualität und Subjektivität benutzt werden. Gleixner geht es vielmehr auch um ein Verständnis von (Auto-)Biographie, das das Schreiben derartiger Texte als Möglichkeiten sieht, ein religiöses Selbstbild zu entwerfen und das individuelle Erleben als Teil eines typischen pietistischen Lebens zu verstehen. (Auto-)Biographie wird damit zum Mittel und zum Ort der individuellen Sinngenerierung. Gerade weil die Texte einem starren Typus verpflichtet und hochgradig repetitiv sind, finden sie hier Interesse: als Mittel der Zeitgenossen zur Lebensdeutung sowie als Quelle einer spezifisch „pietistischen“ Mentalität und Frömmigkeit. Damit schließt die Autorin an Arbeiten an, die derartige Herangehensweisen insbesondere für westeuropäische Texte mittlerweile mehrfach erprobt haben (S. 25-28, 118-123 und passim).

Dieser Untersuchungsansatz bewährt sich in Gleixners Arbeit an verschiedenen Stellen. Vor allem wird die Kenntnis des pietistischen Alltags erweitert. Bemerkenswert ist etwa die erstaunlich große Rolle der Ehefrauen an der theologisch-literarischen Produktion ihrer schreibenden Ehegatten – eine wesentliche Einsicht in die Entstehungsbedingungen frühneuzeitlicher Theologie (S. 274f.). Ebenso kann Gleixner durch ihre Analyse der Rede von der Ehefrau als „Gehülfin“ wichtige Hinweise zum Geschlechterverhältnis im 18. Jahrhundert und seinem Wandel im 19. Jahrhundert geben. Verschiedene Quellenkorpora – etwa die pietistische Zirkularkorrespondenz oder die Elternbriefe an Söhne, die zum Studium in entfernte Städte gezogen waren – werden bekannt gemacht. Auch die Einsichten in die psychologische Verarbeitung der Praxiserfahrung durch junge, angehende Pfarrer, die sich aus den Tagebüchern ergeben, sind eine wesentliche Ergänzung unseres Wissens.

Doch trotz dieser vielen neuen Einsichten, die Gleixners Arbeit durch ihre genaue Analyse der pietistischen (auto)biographischen Texte bietet, leidet die Arbeit unter verschiedenen Mängeln. Letztlich bleibt das Werk an vielen Stellen bei einer zu textimmanenten Vorgehensweise stehen. Vorgänge werden beschrieben, aber häufig unterbleibt die Suche nach den Gründen oder eine tiefer gehende Einordnung. Insbesondere der „Schluss“ (S. 392-409) wirft noch einmal eine Reihe von großen Fragen auf, die die Quellenanalyse in einen umfassenden historischen Horizont einbetten, die allerdings im Text der Arbeit nicht oder nur en passant behandelt werden: beispielsweise erscheint die These, die pietistische Frömmigkeit leiste einer gewissen Distanzierung vom eigenen Körper Vorschub (S. 401), interessant genug, um ausführlich für eine Geschichte des Körpers fruchtbar gemacht zu werden. Ähnliches gilt für das gelegentlich angesprochene Verhältnis der Pietisten zur Obrigkeit. Auch hier werden Passagen aus den Quellen vermerkt, doch eine umfassendere Beschäftigung damit unterbleibt. Wie diese beiden Beispiele illustrieren, bleibt die Arbeit, die von einem sehr bedenkenswerten Ansatz ausgeht und eine Fülle von Quellen erarbeitet, letztlich zu oft auf der Ebene der Quellenbeschreibung stehen.

Damit verbunden ist ein weiterer Kritikpunkt: die vollständige Theologieferne der Arbeit. Sicherlich ist von einem Buch über Frömmigkeitskultur keine ausführliche Dogmengeschichte zu erwarten. Dennoch sollte die Frage nach der Begründung für die von Gleixner herausgearbeiteten Verhaltensformen nicht einfach ausgeblendet werden. Weshalb galt es denn als verwerflich und ‚undemütig’, den Tod eines Menschen zu beklagen? Wie genau sah der Chiliasmus aus, der das pietistische Verhalten so sehr prägte? Wie dachten sich Pietisten das göttliche Eingreifen in die Weltläufte, dem sie sich so dezidiert überlassen wollten? Welche anthropologischen Vorstellungen prägten das tägliche Handeln? Wie verhält sich etwa die von Gleixner stark betonte Verifizierung des Auserwählten-Status im Alltag zur Rechtfertigungslehre? Was erklärt das Schwinden des Bußkampfes im Pietismus (S. 198), welche Signifikanz hat dieser Befund? Gibt es hier theologische Differenzen zu anderen Gruppen des Luthertums oder handelt es sich tatsächlich um verschiedene kulturelle Konsequenzen aus einem gemeinsamen Lehrbestand? Es müsste thematisiert werden, wie es zu den beobachteten Verhaltensweisen kam, weshalb sie sinnvoll waren und wie die verschiedenen Einzelbeobachten sich zu einem ‚Gesamt’ an Weltdeutung zusammenfügten.

Diese Fragen scheinen gerade unter historisch-anthropologischer Perspektive nicht randständig, sondern erkenntnisleitend zu sein. Ohne nach der Verbindung von Handlungstypen und Weltbildern zu fragen, dürfte das angestrebte Erkenntnisziel nicht zu erreichen sein. Das Eingehen auf die Selbstdeutungen der (Auto)biographik und deren typisierende Beschreibung ist dabei ein zentraler Schritt – aber nur ein erster. Ohne die Frage nach dem ideellen Hintergrund hängt die Beschreibung pietistischer Deutungstopoi letztlich in der Luft. Nur durch solche Fragen ließe sich die kulturelle Prägung einer bestimmten Gruppe nicht nur beschreiben, sondern im historisch-anthropologischen Sinne als komplexes Spiel zwischen intellektuellem Deuten und handelnder Umsetzung auch verstehen. Gerade wenn der Pfarrerstand, also eine explizit reflexionsbezogene und Ideen generierende Gruppe behandelt wird, drängt sich diese Frage um so mehr auf.

Ein letztes Problem, das nicht unerwähnt bleiben darf, ist die Verwendung bzw. das Verständnis ideen- oder kulturgeschichtlicher Kategorien, hier v.a. von „Pietismus“. Zwar wird an verschiedenen Stellen der Arbeit das Verhältnis des (innerkirchlichen) Pietismus zur (Reform-)Orthodoxie angesprochen (S. 29-63 u.ö.). Doch bleibt die fundamentale Einsicht grundsätzlich ausgespart, dass derartige Gruppenidentitäten gerade keine festen Klasssifikationen sind, in die einzelne Personen lediglich einsortiert werden müssten (und könnten). Gleixner thematisiert zwar die inhaltlichen Schwierigkeiten, die Kategorien ‚Pietismus’ und ‚Orthodoxie’ voneinander abzugrenzen. Doch dabei bleibt sie einem Verständnis verhaftet, das derartige Kategorien als gegebene Größen ansieht, bei denen ‚nur’ entschieden werden müsse, ob eine Person oder eine Praktik nun in die eine oder die andere Kategorie zu fallen habe. Dagegen ist aber festzuhalten, dass es in den Texten der als ‚pietistisch’ bezeichneten SchreiberInnen keineswegs nur darum geht, dass sich einzelne Menschen ihres pietistischen Selbsts versichern, sondern es geht immer zugleich auch darum, die Identität der kollektiven Gruppe Pietisten kontinuierlich zu erschaffen bzw. zu verfestigen. Die Spezifität ‚des Pietistischen’, dessen individuelle Anverwandlung Gleixner nachzeichnet, ist nirgendwo abstrakt definiert, sondern selbst einer dauerhaft notwendigen Definitionsarbeit unterworfen. Diese geschieht nicht zuletzt durch Aus- und Abgrenzung. Insofern ist es höchst bedauerlich, dass eine Analyse der pietistischen Kritik an Separatisten, Aufklärern und Orthodoxen fehlt. Mit den Bemühungen der SchreiberInnen, „das pietistische ‚Ich’ zu erschaffen“ (S. 124-146), ist unauflösbar auch die Absicht verbunden, das Pietistische zu definieren. Spezifische kulturelle Formen des Pietismus – Hofkritik, Tanzkritik – samt ihren theologisch-religiösen Begründungen dienen den Zeitgenossen dazu, eine eigene auch kulturell sichtbare Gruppenidentität zu konstruieren und zu vertiefen. Selbst-Konstruktion bedeutet keineswegs einfach die Subsumtion individueller Erfahrungen unter allgemeine, fixierte und ‚ontologisierte’ Kategorien wie ‚das Pietistische’, sondern immer zugleich auch die Verständigung darüber, was eigentlich als ‚das Pietistische’ zu gelten habe. Diese Konstruktionsbemühungen einer spezifischen pietistischen Gruppenidentität müssten ergänzend zu Gleixners Fixierung auf die Entwürfe des Selbst unbedingt hinzu kommen.

Ganz zurecht weist Gleixner auf die intensive innerpietistische Kommunikation als wesentliches Mittel der Vergesellschaftung dieser Gruppe hin. Neben dem Briefverkehr sind hierbei besonders die pietistischen Zeitschriften von großer Bedeutung gewesen. Rainer Lächeles Repertorium zur „Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reiches Gottes“, einer führenden pietistischen Zeitschrift des 18. Jahrhunderts, bietet ein zukünftig unentbehrliches Hilfsmittel für die weitere Erforschung dieses zentralen Quellentyps. Versehen mit einer knappen, aber prägnanten Einleitung, in der die behandelte Zeitschrift, ihre Herausgeber und der zugehörige Kontext vorgestellt werden, erschließt das Repertorium in griffiger Weise den gesamten Inhalt dieses Organs. Alle erschienenen Artikel werden zusammengefasst und als Regesten wiedergegeben. Ein Orts- und Personenregister sowie die Klassifikation der erschienenen Artikel in acht Kategorien – die Kategorie Varia ist erfreulicherweise äußerst klein – ermöglichen es ohne weitere Schwierigkeiten, nach Inhalten, Personen oder Autoren zu suchen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses famose Hilfsmittel demnächst zu einer umfassenderen Analyse dieses Kommunikationsmediums weiter verwendet wird.

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