K. v. Lingen: Kesselrings letzte Schlacht

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Titel
Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung: Der Fall Kesselring


Autor(en)
von Lingen, Kerstin
Reihe
Krieg in der Geschichte 20
Erschienen
Paderborn 2004: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 35,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Naumann, Hamburger Institut für Sozialforschung

Die letzte Schlacht des Generalfeldmarschalls Albert Kesselring endete mit einem Pyrrhus-Sieg. Erstritten wurde der scheinbare Erfolg in jahrelangen Bataillen – vor dem britischen Militärgericht in Venedig (1947), im anschließenden Kampf um die öffentliche Meinung in Deutschland, England und den USA, durch die Begnadigung des zunächst zum Tode, dann zu einer 21-jährigen Haftstrafe Verurteilten (1952), in seiner triumphalen Rückkehr in die deutsche Öffentlichkeit und prominenten Ehrenfunktionen in drei Soldatenverbänden. Doch die moralischen Kosten dieses „Siegs“ waren hoch. Als Kesselring 1960 zu Grabe getragen wurde, war von dem Image des „Gentleman-Generals“ nicht mehr viel übrig. Der Zeitgeist hatte sich längst gedreht, und Kesselring selbst hatte ein Gutteil dazu beigetragen, dass an dem um seine Person gewundenen Lorbeerkranz kaum ein Blatt mehr geblieben war. Die Tübinger Historikerin Kerstin von Lingen hat zum „Fall Kesselring“ eine minutiöse Studie vorgelegt, die die Etappen des verwickelten Prozesses von Anklage, Verurteilung und Reinwaschung in aller Deutlichkeit rekonstruiert.

Die Arbeit profitiert von den Studien Norbert Freis, Alaric Searles und Ulrich Brochhagens1, und sie fügt dem von diesen Historikern entworfenen komplexen Bild des Übergangs in die Nachkriegsdemokratie des Kalten Kriegs wichtige Facetten hinzu. An deutschem, britischem, amerikanischem und italienischem Quellenmaterial wird sichtbar, wie eng verflochten die Prozesse der allmählichen Umorientierung von der Strafverfolgung der ersten beiden Nachkriegsjahre bis zur Haftverschonung und „Ehrenrettung“ der ehemaligen deutschen „Kriegsverurteilten“ (so der Kunstbegriff der frühen 1950er-Jahre) gewesen sind. Zu Recht spricht von Lingen daher von einer regelrechten „Kriegsverbrecher-Lobby“, die sich keinesfalls nur auf die „Internationale der Generale“ beschränkte. Die Mythenmaschine, deren Ergebnis das Wunschbild einer „sauberen Wehrmacht“ auf einem „sauberen“ Kriegschauplatz Italien war, arbeitete durchaus mit internationaler Lizenz.

Kesselring, langjähriger Oberfehlshaber Süd mit Sitz in Rom, wurde 1947 von einem britischen Militärgericht in Venedig zum Tode verurteilt. Das Gericht befand ihn schuldig, verantwortlich an den Geiselerschießungen in der Fosse Ardeatine und an „Bandenbefehlen“ vom Juni und Juli 1944 beteiligt gewesen zu sein. In kritischer Prüfung der historischen wie der rechtlichen Materie macht von Lingen deutlich, dass Kesselring aller Wahrscheinlichkeit an der berüchtigten Geiselerschießung in der Fosse nicht verantwortlich beteiligt war – dafür aber in dem Punkt umso mehr Verantwortung auf sich geladen hatte, den das Militärgericht nachsichtig behandelte: nämlich den „Bandenbefehlen“, die eine schrittweise Radikalisierung begünstigten. Insgesamt stand der Kesselring-Prozess von 1947, der zum Signal einer ganzen Serie von Prozessen hatte werden sollen, von vornherein unter einem ungünstigen Vorzeichen. Ungenauigkeiten des Kriegsvölkerrechts trugen dazu ebenso bei wie britische und italienische Uneinigkeiten. Generell aber hatte man in der Person Kesselrings den nur mäßig überzeugenden Paradefall eines deutschen Befehlshabers gefunden, der für die Entgrenzungen und Brutalisierungen des deutschen Vernichtungskriegs haftbar gemacht werden konnte. Verglichen mit den Delikten und Verantwortlichkeiten an der Ostfront war Kesselring eben doch, wie von Lingen konstatiert, ein „Minderbelasteter“.

Neben der Analyse des Prozesses und der Evolutionen der britischen Vergangenheitspolitik bildet die Analyse der jahrelangen Kampagnen um die Freilassung, Urteilsrevision und schließlich die Rehabilitierung des ehemaligen Luftmarschalls den Schwerpunkt der Studie. Von Lingen zeigt sehr überzeugend das Ineinandergreifen der verschiedenen Netzwerke, die in dem Bestreben konvergierten, am Beispiel Kesselring ein Zeichen für die Unschuld der Wehrmachtelite zu setzen. Im Mittelpunkt der umtriebigen Aktivitäten stand der Rechtsanwalt und Kesselring-Verteidiger Hans Laternser, dessen Nachlass von Lingen erstmals einsehen und auswerten konnte. Aufschlussreich ist darüber hinaus, wie die Verbindungen zwischen den ehemaligen Generalstabsoffizieren nachgezeichnet werden, die sich im Umkreis der alliierten Prozesse („Drehscheibe Nürnberg“) und der amerikanischen „Historical Division“ verdichteten, der hunderte ehemaliger Offiziere zuarbeiteten. Anschaulich wird aufs Neue, welchen nachhaltigen Bestand elitäre Binnenkohäsion, Korpsgeist und Hierarchiedenken in diesen Kreisen gehabt haben. Darüber hinaus rekonstruiert die Autorin das kirchliche (durchaus überkonfessionelle) Geflecht, das sich bis in den Vatikan erstreckte. Von besonderem Wert ist die – einer ersten Studie von Günther Buchstab2 folgende – Darstellung jenes Juristensyndikats des so genannten „Heidelberger Kreises“, bei dem die Fäden der rechtspositivistisch inspirierten Vergangenheitspolitik zusammenliefen. In allen diesen Fällen und Zirkeln stößt man immer wieder auf Schlüsselpersonen, die für die Genese und Gestaltung der frühen Bundesrepublik maßgeblich waren – wie die Bischöfe Theophil Wurm oder Johannes Neuhäusler, die Generale Hans Speidel, Adolf Heusinger oder Hans Röttiger, die Juristen Erich Schwinge, Erich Kaufmann oder Helmut Becker (der Weizsäcker-Verteidiger und spätere Bildungsforscher), die Politiker Thomas Dehler oder Kurt Schumacher. Leider ist diese Sparte des „Bündnisses der Eliten“ noch nicht in einem Gesamtzusammenhang gewürdigt worden.

Übereinstimmend mit den Befunden, die Bert-Oliver Manig kürzlich präsentiert hat, wird die Beschleunigung des vergangenheitspolitischen Revisionsprozesses in den ersten Jahren der Bundesrepublik deutlich. Die Kampagne verlagerte sich von der Forderung nach Begnadigung auf den Ruf nach vollständiger Rehabilitierung – ein Akzentwechsel, für den eine „stern“-Serie vom August 1951 unter dem Titel „Nicht Gnade, sondern Recht“ paradigmatisch war. Sobald sich die Debatte um die Wiederbewaffnung und ihre Konditionen in den Vordergrund schob, wurde das Tauziehen um Recht und Ehre zum nicht zu unterschätzenden Instrument einer buntscheckigen Interessenkoalition, in der sich gegenseitige Junktims zu einem komplizierten, aber nichtsdestoweniger durchschlagkräftigen Amalgam verbanden. Während sich mit Churchills Wahlsieg 1951 die britische Waage zugunsten einer „politischen“ Lösung des Kriegsverbrecherproblems senkte, spitzte sich 1952 die Debatte in der Bundesrepublik noch einmal heftig zu – solange nämlich die Frage der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, das Saarproblem, die Stalin-Note und die Wehrdebatte auf dem Spiel standen. Politisch war der Durchbruch in der Kriegsverbrecherfrage eigentlich schon erzielt, aber den formellen Ausschlag gab schließlich eine Krebserkrankung und -operation Kesselrings, die eine weitere Haftverschonung unproblematisch erscheinen ließ. Am 22. Oktober 1952 besiegelte ein Gnadenerweis der englischen Königin den Fall Kesselring. Gleichwohl war auch diesem letzten „Durchbruch“ ein zeitgemäßer Kuhhandel vorausgegangen, denn so wenig sich die Briten zu einer Revision des Urteils bereit fanden, so wenig ließen sich die Deutschen dazu herbei, die alliierten Urteile rechtlich zu akzeptieren. Das konnte man, wieder einmal, so oder so lesen. Wie schon die Ablehnung einer kollektiven Klageerhebung gegen den deutschen Generalstab in Nürnberg als „Freispruch“ gefeiert worden war, so galt auch die Begnadigung Kesselrings in den einschlägigen Kreisen als eine nur dürftig bemäntelte Rehabilitation.

Kesselring tat indessen wenig, um seiner Popularität Genüge zu tun. Schon auf seiner ersten Pressekonferenz machte er durch revanchistische Äußerungen von sich reden. In den Soldatenverbänden, denen er als Ehrenpräsident vorstand, geriet er bald zwischen die Stühle. Im britischen Ausland eckte er durch haarsträubende Reminiszenzen an einen möglichen deutschen Sieg über England an. Das prestigeträchtige Sozialkapital des einstigen Befehlshabers verbrauchte sich rasch, als Kesselring anlässlich der Generalsprozesse zwischen 1953 und 1960 mit zweifelhaften Gutachten in Erscheinung trat. Das öffentliche Bild der Generalität bekam in diesen Jahren einen Sprung, als unübersehbar wurde, wie sehr manche unter ihnen sich bei den so genannten Endphasenverbrechen (Standgerichte usw.) hervorgetan und unnachsichtig gegen ihre eigenen Soldaten gewandt hatten. Neben die „guten Generale“ einer „sauberen Wehrmacht“ rückten in der populären Wahrnehmung nun die „Nazi-Generale“ – und Kesselrings Verlautbarungen waren nicht dazu geeignet, ihn vor solchen Zuordnungen in Schutz zu nehmen. Mit von Lingens Buch liegt eine erste gründliche Fallstudie zur Nachkriegskarriere eines hohen Wehrmachtsoffiziers vor, die es uns erlaubt, das komplizierte Zusammenspiel von juristischen, historischen und politischen Faktoren deutscher wie alliierter Vergangenheitspolitiken besser zu verstehen.

Anmerkungen:
1 Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Searle, Alaric, Wehrmacht Generals, West German Society, and the Debate on Rearmament, Westport 2003; Brochhagen, Ulrich, Nach Nürnberg. Vergangenheitspolitik und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994. Leider nicht mehr heranziehen konnte von Lingen: Manig, Bert-Oliver, Die Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2004 (siehe dazu meine Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-008>).
2 Buchstab, Günther, Die Nürnberger Prozesse und der „Heidelberger Kreis“ (1949-1955), in: Weilmann, Peter u.a. (Hgg.), Macht und Zeitkritik. Festschrift für Hans-Peter Schwarz zum 65. Geburtstag, Paderborn 1999, S. 61-74.

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