Hirschfeld, Gerhard; Renz, Irina (Hrsg.): "Vormittags die ersten Amerikaner". Stimmen und Bilder vom Kriegsende 1945. Stuttgart 2005 : Klett-Cotta, ISBN 3-608-94129-0 208 S. € 19,00

: Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reiches dargestellt am Beispiel der hessischen Kreisstadt Friedberg. 2., verbesserte und ergänzte Aufl. Hamburg 2005 : Europäische Verlagsanstalt, ISBN 3-434-50592-X 268 S. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Die Rituale dieses Gedenkjahres an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 60 Jahren brachten eine ungeheure Menge an persönlichen Erlebnissen ans mediale Tageslicht – seien es Tagebücher oder Briefe, seien es heutige Schilderungen. Wie sich die Spreu vom Weizen trennen wird, welche neuen und typischen Muster sich darin erschließen, bedarf wohl einer ähnlich intensiven und distanzierten Einordnung, wie Klaus Naumann sie für das Jahr 1995 geleistet hat.1 Bei den beiden hier vorgestellten Büchern fällt auf, dass es sich um ein gehobenes Recycling handelt. Herfried Münkler hat sein Buch über die letzten Wochen der NS-Zeit im hessischen Friedberg unter demselben Titel bereits 1985 erstmals vorgelegt, während Gerhard Hirschfeld und Irina Renz 1995 ein ähnliches Buch publizierten.2 Beide Bücher lesen sich aber frisch und informativ zugleich; sie funktionierten in der Erinnerungslandschaft von 2005 vorzüglich. So fanden sich Auszüge aus dem Buch von Hirschfeld/Renz gar täglich auf der Titelseite der „Welt“ wieder.

Die Publikation von Hirschfeld/Renz ist im Kern eine Quellenedition. Sie enthält für jeden Tag vom 1. Januar 1945 bis zum 9. Mai 1945 einzelne Exzerpte. Diese sind antithetisch angelegt und vermögen so bei der kontinuierlichen Lektüre vielerlei Assoziationen und erhellende Bezüge aufzuzeigen: Kontrastiert werden etwa der fanatische Nationalsozialist und der kriegsmüde Soldat, der Häftling im Konzentrationslager und der vom Bombenkrieg geplagte Bürger, die beide auf das Ende des Krieges hoffen. Die Tagebücher und Briefe, aber auch Auszüge aus offiziellen Dokumenten des Regimes werden für jeden Monat mit einer informativen Chronologie eingeleitet und mit treffenden Fotos gut kommentiert. Hier enthält das Medium Bild den nötigen Raum; es wird als eigenständige Gattung mit aussagekräftigen Unterschriften reproduziert und nicht nur als Illustration von Wortquellen benutzt, die sonst oft nur vage der Bildsituation entsprechen.

In den Texten dominieren Alltagssorgen und Überlebenskämpfe. Besonders ergiebig sind die reflektierenden Äußerungen von Deutschen aus dem Exil – von Thomas Mann und Max Beckmann über Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger bis zu George Grosz und Karl Wolfskehl. Elias Canettis bohrende Fragen vom 9. Mai aus London bilden einen eindringlichen Schluss: „Der Zusammenbruch der Deutschen geht einem näher, als man es sich zuzugestehen vermag [...]. Was sind sie denn wirklich jetzt, wenn ihr Glaube zusammenstürzt? Was bleibt von ihnen übrig? Was sonst war in ihnen vorbereitet? [...] Wohin können sie noch fallen? Was fängt sie auf?“

Eingeleitet wird die lesenswerte Sammlung von Hirschfeld, der den vielfältigen und sehr unterschiedlichen Erfahrungen der Deutschen im Krieg und zumal in seinen letzten Monaten einfühlsam nachspürt und damit zugleich Angebote zur Bündelung und Einordnung macht. Die Sammlung von 2005 ist gegenüber dem Band von 1995 in vieler Hinsicht angereichert. Vor allem den seither zugänglich gewordenen Tagebüchern Victor Klemperers werden gute Einträge entnommen. Das meiste ist bereits gedruckt, aber vor allem die Bestände der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, wo Hirschfeld als Direktor und Renz als Dokumentarin arbeiten, liefern zahlreiche bislang unbekannte Zeugnisse, vor allem Briefe. Lediglich Walter Kempowskis „Echolot“ geht mit einem wesentlich umfänglicheren, aber auch lockerer komponierten und assoziativeren Präsentationsstil über die Edition von Hirschfeld/Renz hinaus.3

Einen anderen Weg wählt Herfried Münkler. Der bekannte Historiker und Politikwissenschaftler, dessen Buchproduktion zu Kriegen, Gewalt und Herrschaftsformen in der Gegenwart mit atemberaubendem Tempo vor sich geht, dürfte sich auch aus diesem Grunde entschlossen haben, seine 20 Jahre alte Publikation nur mit einem neuen Vorwort zu versehen. In dieser Einleitung reflektiert er klug und souverän über Kriegsende und Neuanfang nicht nur in Deutschland, sondern vergleichend auch zum heutigen Irak – ebenso wie zur Rolle der Amerikaner in beiden Fällen. Dies kennt man aus anderen Publikationen des Verfassers. Einleuchtend sind hier – ähnlich wie bei Hirschfeld – die Überlegungen zur Vielfalt des Kriegserlebens, des Kriegsendes und der Reflexion in den Zeugnissen. In der neuen Einleitung kann Münkler die von ihm 1984 befragten Zeitzeugen aufteilen: in die Bereitwilligen, die Auskunft gaben, die Leute, die nichts mehr von den alten Zeiten hören wollten – und die Abwartenden, die erst mal wissen wollten, was denn so ein Historiker alles herausbrächte. Die letztgenannte Gruppe meldete sich nach dem Ersterscheinen des Buches mit besserwisserischen Sachkorrekturen, die nach Münklers Urteil über subjektive, vielleicht auch nicht falsche Einordnungen kaum hinauskamen.

Aus den regionalen Archiven um Friedberg, aus der dortigen Presse, aber auch aus den korrespondierenden US-Quellen vor allem über die Bombardements hat Münkler Quellen zusammengetragen und – wie erwähnt – durch Interviews ergänzt. Zwar fehlt ein ordentliches Quellen- und Literaturverzeichnis, doch gibt er im Text die Spuren seiner eigenen Recherche an und vermag die widersprüchlichen und kargen Informationen so zum Sprechen zu bringen. Auch Münkler geht davon aus, dass die Erfahrungen der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswochen nicht auf einen Nenner gebracht werden können. Vor allem tritt er – in Abgrenzung von quantitativen Methoden – nachdrücklich für die Rekonstruktion des Denk- und Lebenshorizonts der Zeitgenossen ein: „Was ging bei Kriegsende in den Köpfen der Menschen vor?“ (S. 44) Dies beantworten zu wollen ist allerdings ein heikler Anspruch, den nur wenige Historiker erheben würden. Münkler macht sich daran, nicht nur Kontexte herzustellen, sondern gleichsam intuitiv und einfühlend zu deuten, was eher einem Thomas Mann – in seinen literarischen Werken – zukäme als einem zurückhaltenden Historiker.

Möglicherweise angelehnt an Ernst Fraenkels alte Unterscheidung des „Dual State“ (Maßnahmen- versus Normenstaat) konstruiert Münkler mit aller Behutsamkeit ein Zurücktreten der Führergewalt gegenüber der herkömmlichen Staatsgewalt (S. 41), wenn er gerade für Friedberg deutlich macht, wie zwei mutige Offiziere nacheinander und gefährdet von NS-Fanatikern die Kapitulation mit weißen Fahnen planten und durchsetzten. Hier wird der Mikrokosmos einer sich auflösenden und sich neu konstituierenden Gesellschaft deutlich, den etwa Klaus-Dietmar Henke vor zehn Jahren voluminös dargelegt hat.4 Das vergleichsweise gewaltfreie Verlöschen der mörderischen Diktatur in Friedberg kann allerdings nicht als typisch bezeichnet werden, da das Regime am Ende den Bürgerkrieg in der Niederlage androhen und häufig auch verwirklichen konnte. So verweist Münkler in der Einleitung auf eine zwischenzeitlich erschienene Parallelstudie zum benachbarten Hirzenhain, wo zur gleichen Zeit ein Massenmord an „Fremdarbeitern“ begangen wurde.

Das Fazit: Beide hier besprochenen Publikationen vermögen aus der Perspektive persönlichen bzw. kleinräumigen Erlebens manche analytische Aufhellung des Kriegsendes 1945 beizutragen.

Anmerkungen:
1 Naumann, Klaus, Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der deutschen Presse, Hamburg 1998.
2 Hirschfeld, Gerhard; Renz, Irina (Hgg.), Besiegt und befreit. Stimmen vom Kriegsende 1945, Gerlingen 1995.
3 Siehe die Rezension von Jörg Hillmann: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-087>.
4 Henke, Klaus-Dietmar, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995.

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