Titel
Aron Freimann und die Wissenschaft des Judentums.


Autor(en)
Heuberger, Rachel
Reihe
Conditio Judaica 51
Erschienen
Tübingen 2004: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marina Sassenberg, Universität Duisburg-Essen

„Dem Bibliographen flicht die Nachwelt keine Kränze, seine Arbeiten sind ihr zu trocken, zu wenig anregend“, schrieb Ismar Elbogen, Historiker an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, schon 1925.1 An diesem Bild hat sich seither wenig verändert: Die Bibliografie gilt als notwendiger, aber wenig spektakulärer Teil einer Wissenschaft.

Wenn sich also jemand daran macht, Leben und Werk eines Bibliografen zu untersuchen, so scheint es zunächst nicht abwegig, dahinter vor allem eine akademische Pflichtübung zu vermuten (tatsächlich wurde die Arbeit als Dissertationsschrift von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen angenommen). Doch stellt sich bei der Lektüre rasch heraus, dass es sich hier um weit mehr handelt. Die neuere historische Biografik befasst sich zunehmend mit der Beziehung zwischen Biograf und biografierter Person. Ihre theoretischen Ansätze kreisen dabei immer wieder um die grundsätzliche Fragestellung: Warum wurde ausgerechnet diese Person und keine andere gewählt? Wenn sich Rachel Heuberger, seit 1991 Leiterin der Hebraica- und Judaica-Abteilung der Universitätsbibliothek Frankfurt, mit der wissenschaftlichen Verortung des Begründers ‚ihrer‘ Sammlung befasst, so ist das derart folgerichtig, dass man eigentlich nur noch fragen kann: warum erst jetzt?

Aron Freimann gilt in der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft als einer der bedeutendsten Bibliografen. Sein Leben und Werk steht im Kontext der Wissenschaft des Judentums, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts von Deutschland aus europaweit neue historiografische Wege beschritt. Die Forschung ist hier in doppelter Hinsicht defizitär: sowohl was die Wissenschaft des Judentums betrifft wie auch in Bezug auf Freimann als einem ihrer Protagonisten. Das Ziel der Arbeit lautet deshalb so schlicht wie grundlegend, „den Beitrag von Aron Freimann zur Bibliographie des Judentums als einen wichtigen Bestandteil der Wissenschaft des Judentums herauszuarbeiten.“(S. 7)

1871 Geboren und aufgewachsen in Ostrow (Posen), studierte Freimann Geschichte und Orientalistik in Berlin und Erlangen; zugleich machte er sein Diplom am Berliner Rabbinerseminar. Von 1898 bis zu seiner Zwangsentlassung im Jahr 1933 war der promovierte Historiker und seit 1919 Titularprofessor Bibliothekar an der Frankfurter Stadtbibliothek. Seine umfassende Publikationstätigkeit ist im Anhang des Bandes erstmals vollständig dokumentiert. Bis zu seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1939 war er in der Vatikanischen Bibliothek tätig. Er starb 1948 in New York, als Bibliograf und Gelehrter, anerkannt im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb.

Heuberger erschließt die Biografie Freimanns im Wesentlichen auf der Basis von Dokumenten, Korrespondenzen und Interviews. Der Mangel an autobiografischen Quellen – Freimann selbst hat vieles aus Furcht vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten vernichtet – erscheint weniger als Manko denn als Vorteil der Arbeit, denn durch die notwendigerweise breite Kontextualisierung tritt das Exemplarische wie auch das Individuelle im Leben Freimanns deutlich hervor. In vieler Hinsicht typisch war seine deutsch-jüdische Sozialisation in Posen, wodurch er zeitlebens dem traditionellen Judentum und dem Dialog zwischen West- und Ostjudentum verbunden blieb. Parallelen finden sich etwa bei Leo Baeck (1873-1956) und Eugen Täubler (1879-1953), deren Herkunft aus Posen beider Leben und Werk in nicht unbeträchtlichem Maße beeinflusst hat.2 Dass Freimann nach seiner Emigration im Pensionsalter von 68 Jahren in den USA noch einmal einen Neuanfang wagte und als Koryphäe auf seinem Gebiet an der New Yorker Public Library noch einmal reüssierte, ist hingegen eher eine Ausnahme in der Emigrationsgeschichte deutscher Juden nach 1933.

Biografische Untersuchung und Werkanalyse entwickelt Heuberger vor dem Hintergrund der Geschichte der Wissenschaft des Judentums und der hebräischen Bibliografiegeschichte. Wie sein großes Vorbild Moritz Steinschneider (1816-1907) begriff Freimann die Bibliografie als „Fundament der Wissenschaft“ (S. 219ff.). Vor allem in Deutschland, aber auch in den USA schuf er Grundlagenwerke auf dem Spezialgebiet der hebräischen Bibliografie, manche seiner Schriften sind bis heute unüberholt. Mit der „Zeitschrift für Hebräische Bibliographie“ begründete er 1896 ein langjähriges wichtiges Fachorgan, mit dem „Thesaurus Typographiae Saeculi XV“ publizierte er zwischen 1924 und 1931 erstmals ein Typenrepertorium der hebräischen Inkunabeln. Sein Hauptverdienst als Historiker und Bibliograf indessen bleibt die Eingliederung der bedeutendsten Hebraica- und Judaica-Sammlungen im europäischen Raum in die Frankfurter Stadtbibliothek und deren Erschließung. Die Geschichte dieses „Lebenswerks“ (Heuberger) hätte eine eigenständige Veröffentlichung verdient. Sie steht für das Selbstverständnis eines deutsch-jüdischen Gelehrten, der Deutschtum und Judentum nicht als unvereinbare Gegensätze verstand.

Neben seiner Bedeutung als Bibliograf und Historiker arbeitet die Autorin schlüssig den Stellenwert Freimanns als Wissenschaftsorganisator heraus. Mit seinem Namen sind vor allem zwei Großprojekte verbunden: die Herausgabe des historisch-topografischen Handbuchs „Germania Judaica“ – ein 1903 begonnenes Generationen-Werk, das bis in die Gegenwart reicht und derzeit als DFG-Langzeit-Projekt von deutschen und israelischen Forschern gemeinsam bearbeitet wird – sowie 1929 die Gründung der „Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland“, eine Fortsetzung des gleichnamigen 1887 bis 1892 von Ludwig Geiger herausgegebenen Periodikums. Trotz ihres nur 10-jährigen Bestehens ist die Bedeutung der Zeitschrift für die deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft nicht zu überschätzen. Einerseits entfaltete sie das immense fachliche Spektrum der Wissenschaft des Judentums in der Weimarer Republik und war ein Forum für Fachleute aus unterschiedlichsten Disziplinen, andererseits richtete sie sich an eine breite Leserschaft. In den letzten Jahren ihres Bestehens im nationalsozialistischen Deutschland wurde sie für die jüdische Gemeinschaft in Not zunehmend zu einem Ort, der intellektuelle Zuflucht bot und geistigen Widerstand ermöglichte.

Freimann war, dies zeigt die Studie in überzeugender Weise, ein typischer Vertreter der professionalisierten deutschen Wissenschaft des Judentums, wie sie sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Im bibliothekarischen Rahmen sei ihm gelungen, so ein Fazit Heubergers, was der Wissenschaft des Judentums im akademischen Bereich verwehrt geblieben sei – nämlich die Integration jüdischer Geschichte in die Allgemeingeschichte. Dem Bibliografen hat Heuberger mit ihrer Analyse keinen „Kranz geflochten“, wohl aber sein Leben und Werk in die deutsche Wissenschaftsgeschichte eingeordnet. Man merkt der Schrift die langjährige Erfahrung der Autorin auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Geschichtsforschung und der Fachbibliografie an. Mit routinierter Sachkenntnis und in flüssigem Stil geschrieben, lässt der Band deshalb mitunter vergessen, dass es sich um eine wissenschaftliche Qualifikationsschrift handelt.

Anmerkungen:
1 Elbogen, Ismar, Moritz Steinschneider, in: Soncino-Blätter 1, 1925/26, S. 155, zitiert in: Schochow, Werner, Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft, Berlin 1969, S. 83.
2 Siehe u.a. Täubler, Eugen, Heimat. Land – Stadt – Gemeinde, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von Leo Baeck, London 1953, S. 11ff. (wiederabgedruckt in: Täubler, Eugen, Der Römische Staat, Stuttgart 1985, S. XX-XXV); Friedlander, Albert, Umbra Vitae. The Passing of Eugen Täubler, in: The Reconstructionist, Feb 1954, S. 17; Ders., Leo Baeck. Leben und Lehre, München 1990 (EA: Stuttgart 1973), S. 24ff.

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