H. Koch u.a.: Kulturgeschichte des Radios

Cover
Titel
Ganz Ohr. Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland


Autor(en)
Koch, Hans Jürgen; Glaser, Hermann
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inge Marszolek, Fachbereich Kulturwissenschaften, Universität Bremen

Dieses Buch ist geschrieben von zwei Autoren, die vom Medium Radio begeistert sind – Hans Jürgen Koch war lange Zeit Kulturchef des Saarländischen Rundfunks und Hermann Glaser, ehemaliger Kulturdezernent der Stadt Nürnberg und Kulturhistoriker, hat sich immer wieder intensiv mit dem Rundfunk beschäftigt. „Das revolutionäre Medium Rundfunk hat Geschichte gemacht und wurde selbst immer wieder zu einem Instrument von Geschichte“ (S. 3). Dies auszuloten, ist das Anliegen des Buches. Die Autoren begreifen das Radio als ein Medium, das einen kulturellen Auftrag hat. Sie werben für die „Radio-Kultur“ und „für ein durch sie bewirktes Kultur-Radio“ (S. 331). Damit aber positionieren sie sich, ohne es explizit zu machen, in einem zentralen Diskurs, ob das Radio ein Bildungs- und Erziehungsmedium sei oder aber der Unterhaltung diene. Diese Kontroverse hat das Radio von seinen Anfängen an begleitet. Die eindeutige Stellungnahme – nicht zuletzt wohl auch Ausdruck einer biografischen Prägung beider Autoren – bedingt allerdings einen eingeschränkten Fokus: Das Radio als Unterhaltungsmedium für Massen kommt so gut wie nicht vor. Damit aber fehlt ein ganz entscheidender Komplex, der sowohl für die Instrumentalisierung des Radios in beiden deutschen Diktaturen wie für Hörerwartungen und Rezeption insgesamt ein großes Erklärungspotential in sich birgt.

Das Buch wendet sich an ein breites Publikum: Es ist in einem positiven Sinne ein Buch für den Nachttisch oder den Liegestuhl. Anmerkungen sind für diejenigen, die es interessiert, am Ende des Buches angehängt. Jedoch sollte man keine wissenschaftliche Belegstruktur erwarten. Die Literaturliste hingegen enthält viele brauchbare Hinweise. An jedes Kapitel schließen sich tabellarische Daten zur Rundfunkgeschichte an. Es gibt zahlreiche Abbildungen. Einzelne zusätzliche Texte, wie z.B. Stimmen von Zeitzeugen, eine Kurzbiografie von Joseph Goebbels oder Auszüge aus literarischen Texten sind deutlich abgesetzt und grau hinterlegt. Insgesamt ist der Verlag für die ansprechende Gestaltung des Buches sehr zu loben. Schade jedoch, dass es zusammen mit einem Buch über das Radio keine CD mit Hörbeispielen gibt.

Das Buch ist in fünf chronologische Kapitel gegliedert:
1. Die Weimarer Republik
2. Drittes Reich
3. Besatzungszeit 1945-1949
4. Das geteilte Deutschland
5. Ausblick auf die Zukunft des Radios

Bereits ein flüchtiger Blick zeigt eine merkwürdige Schieflage zugunsten der Zeit bis ca. 1960, die allerdings dem kulturhistorischen Forschungsstand geschuldet ist. Während die Geschichte des Radios von seinen Anfängen 1923 bis 1949 auf ca. 230 Seiten geschildert werden, stehen für die Jahre des Rundfunks in der Bundesrepublik und der DDR knapp 100 Seiten zur Verfügung, die Jahre nach der Wiedervereinigung mit den tiefen Einschnitten in der Radiolandschaft durch die Digitalisierung werden auf 15 Seiten behandelt.
In den Kapiteln 1- 4 fassen die Autoren die Forschungen zur Radiogeschichte klug und kenntnisreich zusammen, eigene Recherchen in den Rundfunkarchiven scheinen nicht gemacht worden zu sein. Ihre Quellen sind vorwiegend literarische und publizistische Texte, die sich auf das Radio beziehen, wenn sie etwa aus Hermann Hesses ‚Steppenwolf’ das Verdikt gegen das Radio als „letzte siegreiche Waffe im Vernichtungskampf [der modernen Zeit] gegen die Kunst“ zitieren.

Gerade im Kapitel über den Rundfunk im Nationalsozialismus wird deutlich, wie die Vernachlässigung des Unterhaltungsaspektes dazu führt, dass die Besonderheiten des nationalsozialistischen Radios merkwürdig blass bleiben. Nach 1933 wandelte sich das Radio zum Unterhaltungsmedium, da insbesondere Goebbels und mit ihm andere jüngere Programmverantwortliche im Nationalsozialismus erkannten, dass der Rundfunk nur dann als Massenmedium im Sinne eines Propagandainstruments zu nutzen war, wenn die Markierungen zwischen Unterhaltung, Politik und Kultur sich in einem „Programmteppich“ scheinbar zugunsten der „leichten Unterhaltung“ auflösten.

Deutlich wird die Überhöhung der Bedeutung des Radios als Kulturträger am Ende des NS-Kapitels, wenn die Autoren mit deutlichem Pathos verkünden: „Und dennoch erhob sich die deutsche Kultur danach wieder wie Phönix aus der Asche, nicht zuletzt auch beflügelt von einem demokratischen Rundfunksystem, das an seine eigentliche Bestimmung, die der Erziehung des Menschengeschlechts, wieder anknüpfte.“ (S. 137) Wenn es auch zutreffend ist, dass das Radio in der Besatzungszeit – und zwar zunächst in Ost wie in West – versuchte, durch Präsentation der im Nationalsozialismus verbotenen oder verbannten Autoren und durch Aufklärung über das NS-Regime zum Aufbau einer Demokratie beizutragen, so waren doch gerade im Unterhaltungsbereich vor allem im Westen, aber teilweise auch in der Ostzone bald wieder die gleichen Stimmen und Melodien zu hören.

Außerdem war die erneute Referenz auf die deutsche Kultur und insbesondere die Klassik ein bildungsbürgerlicher Versuch, eigene Partizipation am Nationalsozialismus zu bewältigen, wobei schlicht unterschlagen wurde, dass Goethe und Beethoven auch im NS-Deutschland gespielt worden waren. Beim Thema NS-Vergangenheit stieß die „Reeducation“ im Radio an ihre Grenzen, sieht man einmal von der Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse ab, die von den Autoren zu Recht hervorgehoben wird. Das Radio war partiell antimilitaristisch und antifaschistisch, aber die Verfolgung und Vernichtung der Juden kam weder im Hörspiel noch in Sendungen wie „Das politische Wort“ vor.

Im vierten Kapitel verweisen die Autoren darauf, dass das Radio in Zeiten des Wirtschaftswunders in Programmnischen zu einem „linken Refugium“ wurde, wobei sich diese Nischen durch große Experimentierfreudigkeit auszeichneten. Die Implementierung des dualen Rundfunksystems bezeichnen beide als „medialen Urknall“, den sie auf den restlichen Seiten äußerst kritisch kommentieren bzw. kommentieren lassen, etwa durch Jurek Becker, der eine Verwahrlosung der Institution ‚Rundfunk’ konstatiert hat. Das sehr kurze Teilkapitel über den Rundfunk der DDR wirft lediglich einige Schlaglichter.

Zum Schluss entwerfen die Autoren engagiert und leidenschaftlich eine neue, man kann auch sagen, alte Radioutopie: Sie verweisen in aller Kürze auf die Bedeutung des Radios als sinnstiftendes Medium, das auf eine Utopie als Gegenentwurf zu einer fragmentierten Moderne verweist und Orientierung in der vernetzten „Informations-Metawelt“ verspricht. Man mag gegenüber dieser ‚Realutopie vom Radio’ skeptisch sein. Eine anregende Lektüre ist dieses Buch dennoch in jedem Fall.

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