W. Kempowski: Das Echolot. Abgesang '45

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Titel
Das Echolot. Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch


Autor(en)
Kempowski, Walter
Erschienen
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hillmann, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg und Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

Sicheres Navigieren erfordert stets die Kenntnis eines genauen Ortes in See, um an das Ziel zu gelangen. Dort angekommen, blickt man auf den zurückgelegten Weg – man identifiziert Umwege und Irrwege. Walter Kempowski ist angekommen. Sicher hat er das schwere Schiff seines „kollektiven Tagebuchs“ bis zum „Abgesang“ des Kriegsendes navigiert. 1993 hat Kempowski die ersten vier Bände seines „Echolots“ vorgelegt.1 12 Jahre wurden es vom ersten bis zum letzten veröffentlichten Buchstaben, insgesamt über 25 Jahre Arbeit, die teilweise quälend und nicht immer frei von Selbstzweifeln an dem eingeschlagenen Kurs waren.2

Kempowski hat sein Schiff mit dem 8./9. Mai 1945 vertäut, dem offiziellen Kriegsende in Europa. Bei der Vielzahl individueller Erfahrungen mit dem Ende des Krieges musste ein Schluss gefunden bzw. gesetzt werden. Das Ziel seines Weges stand von vornherein fest; auf 1945 musste alles zulaufen. Der 8./9. Mai eignet sich besser als der 23. Mai, das Ende der Flensburger Reichsregierung. Dennoch ist der „Abgesang“ abrupt – an vielen Stellen im ehemaligen Reich wurde weiter gesungen, wurde weiter gelitten; an anderen Stellen hatte man längst vor dem offiziellen Kriegsende abgesungen.

Alle Facetten des menschlichen Erlebens sind nicht zu fassen – Kempowski hat aber versucht, einen Großteil zu spiegeln. Als Leser spürt man, dass er es sich nicht leicht gemacht hat. Seine Kompositorik hat ihren besonderen Reiz: Gleichzeitige Erlebnisse an unterschiedlichen Orten stehen unkommentiert nebeneinander; ebenso das, was zeitlich unmittelbar zum Erlebten niedergeschrieben wurde und das, was aus der zeitlichen Ferne, mit dem Wissen der Nachwelt behaftet, verfasst wurde. Kempowskis Arrangement ist gerade deswegen für jeden Historiker ein Alptraum; nur der Fundort ist eindeutig: Nartum – als Ort der Erinnerungsverwahrung. In seiner Zusammenstellung liegt aber der unbestechliche literarische Reiz, der zur steten Fortsetzung der Lektüre auffordert und den Leser in den Bann, gar in einen Lesestrudel zieht. Kempowski verlangt nach dem kritischen, dem denkenden Leser – mehr noch, er fordert vom Leser dessen Mündigkeit ein, die überlieferten Selbstzeugnisse und Dokumente einordnend zu bewerten. Hilfen hierzu bietet er nur durch seine Zusammenstellung der Texte und seine Auswahl, die immer auch ein Weglassen impliziert – gerade dies ist schmerzlich, aber Raum und Zeit geschuldet.

Kempowskis abschließende Tiefenmessung setzt 2.059 Tage nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges ein. Es ist der 20. April 1945: Hitlers Geburtstag – sein 56. und letzter. Wie unterschiedlich dieser Tag doch wahrgenommen wird: trübsinnige Stimmung im Berliner Hauptquartier; bittere, auf den Lebensunterhalt ausgerichtete Gedanken in den Kriegsgefangenenlagern; zur Normalität gewordene Verzweiflung im Krieg der Hungernden, die in zerbombten deutschen Städten leben, während sich die Landbevölkerung selbst versorgen kann; letzte Gefechte im zerfaserten Reich und nichtssagende Durchhalteparolen während der von der HJ organisierten Geburtstagsfeier. Am 25. April, dem Tag der zweiten Tiefenortung, vereinigen sich russische und amerikanische Soldaten an der Elbe. Hitler wartet in Berlin noch immer auf kampfkräftige Truppen, die die Lage in Berlin bereinigen sollen, und Pétain will sich der französischen Justiz stellen. Während Hitler und Goebbels in Berlin noch vom moralischen Welterfolg sprechen, wenn „der Russe“ aus Berlin verdrängt sein werde, stehlen versprengte deutsche Soldaten Kaninchen, um zu überleben, und russische Soldaten berichten von der Tristesse des zerbombten Berlin. Göring wird aus der Partei ausgestoßen, der Obersalzberg angegriffen, und Berlin ist eingeschlossen – sinnlos wird ein von Dönitz nach Berlin befohlener Verband junger Marineoffizieranwärter verheizt.

Die Kämpfe um und in Berlin halten an und werden Ende April noch intensiver – es ist der 30. April 1945, ein Montag. Die Zivilbevölkerung hofft auf das Kriegsende und auf Frieden, während Hitler nach der Armee Wenck zur Befreiung Berlins ruft – allein, es bleibt beim Ruf. Dies alles verbindet Kempowski mit den Empfindungen und Handlungen der Zeit: räumliche Enge und Überlegungen für eine ungewisse Zukunft; ungezählte Freitode und der Selbstmord Hitlers im Führerhauptquartier. Der Leser wird herren- und führerlos durch das zerbombte Berlin getrieben – schockiert, traurig und ungläubig wirft ihn Kempowski ans Ende des Krieges. Ein Ende, welches in den 1950er-Jahren als Katastrophe begriffen wurde, ohne den Beginn des Krieges oder den Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit dem Begriff der Katastrophe zu apostrophieren.

Das offizielle Kriegsende am 8./9. Mai 1945 markiert Kempowskis letzte Tiefenortung. Zerfledderte, ausgeplünderte und geschändete Leichen prägen das Bild des völlig zerstörten Berlin, in dessen Kellern die ehemals hauptstädtische Bevölkerung dahinvegetiert, während in Reims und Karlshorst die Kapitulationsurkunden unterzeichnet worden sind. Die deutsche Wehrmacht hat kapituliert, das Deutsche Reich, das ein tausendjähriges „Drittes Reich“ werden sollte, hat aufgehört zu existieren: „Das große Schiff, das ich am 1. September 1939 im Geiste hatte sinken sehen, ist untergegangen“, schreibt der Offizier Udo von Alvensleben in Nordnorwegen.

Nirgends ist das Ende des Deutschen Reiches deutlicher zu spüren als in der ehemaligen Reichshauptstadt: „Berlin has ceased to exist“, kommentiert der britische Reporter Thomas Cadett die Situation im BBC. Kempowski verdichtet seinen Blick auf Berlin und lässt den Leser so Anteil nehmen an dieser Endzeitstimmung, während in räumlicher Entfernung ein gewisses Maß an routinierter Normalität zu beobachten ist, die bereits wieder eine Aufbruchstimmung markiert. Berlin vergleichbar ist die Situation auf Hela (in der Nähe von Danzig). Hier unternehmen Kriegsmarine-Soldaten letzte Anstrengungen, möglichst viele Menschen über See in Richtung Westen zu transportieren – in Norwegen werden zur gleichen Zeit undisziplinierte Marineangehörige durch ihre Vorgesetzten abgeurteilt.

Die Unterschiedlichkeit der Empfindungen und Handlungen der glaubenden, der siegenden, der besiegten, der fanatischen und der in ihren eigenen Augen völlig unbeteiligten Menschen macht deutlich, dass es bei Kriegsende weder „den Deutschen“ noch „den Sieger“ oder „den Russen“ gab. Kempowski zwingt den Leser zum differenzierenden Blick. Jedes Mal, wenn man als Leser Gefahr läuft, überkommene Pauschalurteile aufgrund des gerade Gelesenen bestätigen zu wollen, verändert Kempowski unsere Sicht und mahnt zum neuerlichen Nach- und Durchdenken, ohne die Verbrechen und das Grauen des Krieges darüber zu vergessen.

Kempowskis Archiv in Nartum bei Bremen ist zu einem Erinnerungsort geworden – anders als im bisherigen Wortsinne. Nartum wurde zum Ort von Erinnerungen, die wohl in offiziellen Archiven wenig bis keinen Platz gefunden hätten – dort, wo sie Eingang fanden, bleibt ihr Wiederfinden und ihre Verwendung eine Zufälligkeit vor allem mit lokalen Interessenschwerpunkten. Nartum war und ist für diejenigen, die sich erinnern wollten und konnten, ein Ort des Bewahrens und der Sicherheit, dass ihre Erinnerungen nicht in Vergessenheit geraten. Kempowskis literarisches Werk bietet uns einen Einblick in das, was vorige Generationen erlebten und erinnerten. Die Archivleistung Kempowskis darf gerade deswegen neben der literarischen Leistung und dem publizistischen Erfolg nicht ganz vergessen werden. Zahlreiche Rezensenten haben versucht, Kempowski in ein starres Schema zu pressen, um ihn als Historiker, Sammler oder Erinnerungsbewahrer zu klassifizieren. Kempowski und sein Tun sind mit Blick auf die differenzierte Erinnerungsbewahrung des Zweiten Weltkrieges sicherlich einzigartig. Er verkörpert vieles von dem, was in dem ursprünglichen Sinne den Beruf eines Archivars ausmachte: Kempowski sammelt, bewahrt, bereitet auf, verbindet, collagiert, wählt aus, berichtet, ordnet ein und bringt Vergessenes an die Öffentlichkeit. Er bleibt nüchtern und distanziert, obwohl er gleichsam selbst betroffen ist. Eine starke Mischung, die eben in kein heutiges Muster mehr zu passen scheint.

Anmerkungen:
1 Kempowski, Walter, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943, 4 Bde., München 1993; es folgten: Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945, 4 Bde., München 1999; Das Echolot. Barbarossa '41. Ein kollektives Tagebuch, München 2002.
2 Ders., Culpa. Notizen zum Echolot, München 2005.

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