Titel
Kunst als Religion. Europäische Malerei um 1800 und 1900


Autor(en)
Stephenson, Gunther
Erschienen
Anzahl Seiten
100 S.
Preis
€ 9,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Schipperges, Lehrstuhl Musikwissenschaft, Hochschule für Musik und Theater Leipzig

Gunther Stephenson, Jahrgang 1925, einer der Großen der Religionswissenschaft in Deutschland, hat ein neues Buch geschrieben: „Kunst als Religion“. Der breit angelegte Essay versteht sich explizit nicht als Summe oder gar Abschluss der langjährigen Erkenntnisse des Gelehrten. Er ist aus einem noch recht neuen und frischen Impuls heraus entstanden: „Als der Autor sich vor sechs Jahren dem Ideenkreis des modernen, säkularisierten Bewusstseins im Hinblick auf die religiöse Frage zuwandte, wusste er noch nicht, welches spannende ‘Zwischenreich‘ der gängigen wissenschaftlichen Disziplinen damit angesprochen werden sollte.“ (Vorwort, S. 9)

Kunst als Religion? Das Thema klingt so neu nicht. Kunst und Religion blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück, eine Geschichte des aufeinander Eingehens, sich gegenseitig Benutzens und voneinander Absetzens, eine Geschichte voller Erfüllungen und voller Spannungen. Künstler und Kunsthistoriker, Theologen und Philosophen, Religions- und Kulturwissenschaftler, Ausstellungsmacher und Museumspädagogen sie alle haben immer gerne und immer neu ihren Blick auf diese Geschichte geworfen. Auch Gunther Stephenson benennt die Umrisse in einem knapp einführenden „Praeludium“. „Seien es nun die kultischen Steinzeitmalereien, ägyptischen Pyramiden, babylonischen Tempel, Maskenbildnerei, buddhistische Stupa, japanische Tuschmalerei, griechische Götterfiguren (Pantheon), islamische Moscheen, Marienaltäre oder mittelalterliche europäische Malerei geschichtliche Religionen waren der Kunst immer weit geöffnet, und die Kunst andererseits zur Religion hin.“ (S. 12) Kunst und Religion stehen „unter dem Stichwort gemeinsamer Weltwahrnehmung“ (ebd.).

Freilich: ein einheitliches Bild dieser mannigfachen und existentiellen Verwobenheit lässt sich nicht zeigen. In den Hochkulturen und Hochreligionen mit ihrer Differenzierung der Lebensbereiche sind Kunst und Religion in allzu sehr eigener Weise miteinander verbunden. Gleichwohl scheint es doch überall eine letztlich stets ähnliche zeitliche Entwicklung zu geben: den Weg zur Verselbständigung der Kunst. Die Kunst sieht ihre Aufgabe nicht mehr darin, das Religiöse zu propagieren und die Religion dient auch zunehmend weniger als wichtigster Gegenstand künstlerischer Gestaltung. Kunst und Religion treten in eine Art Konkurrenzverhältnis. Ästhetische Wahrnehmung tritt den spezifischen Merkmalen religiöser Erfahrung entgegen. Religion und Ästhetik suchten sich aus je eigenen Erfahrungen heraus neu zu differenzieren und abzugrenzen. Wir sprechen von Säkularisierung.

Freilich gehen mit dem Bedeutungsverfall institutioneller Religion (und damit auch institutionalisierter religiöser Kunst) neue Konnotationen des Religiösen einher. Emotionales Erleben, jenseits christlicher Glaubensinhalte, wird zum Zentrum religiöser Erfahrungen in einer säkularisierten Welt. Kunstreligiöse Wahrnehmung ist die Antwort auch auf den zunehmenden Funktionsverlust der historisch geprägten Religionen. Es war die Romantik, welche die Gemeinsamkeiten von ästhetischer und religiöser Erfahrung bis zur Ineinssetzung betont hat, um beide Bereiche in einer „Kunst-Religion“ zusammenzuführen.

Kunst als Religion also. Auf welche Weise aber bestimmt sich hier das Verhältnis von Kunst und Religion? Schon Hegel hat darüber geschrieben. Kunst ist bei ihm Gestaltung des Idealen. Sie gibt, so heißt es, „der Ahnung Form“. „Der heiße Drang des Menschen, nicht allein zu sein, sondern sich zu verdoppeln, nicht zufrieden zu sein mit sich, dem natürlichen, sondern den zweiten zu suchen, den geistigen Menschen dieser Drang ist befriedigt durch das Werk des Genius […] hinausgeworfen als Gestalt“ (Kunst und Religion, S. 259). Solcher Emphase setzt Stephenson nun eine andere Ebene des Themas hinzu: die Erfahrung des Abstrakten. Aus diesem Begriff heraus entsteht eine grundsätzliche Antinomie. Bild steht gegen Bildlosigkeit, Anschauung gegen „Abstraktion“. Stephensons Fragestellung umkreist das Verhältnis zwischen beiden jenseits religiöser Thematik. So hat die bildliche Vermittlung des Heiligen nicht primär zu tun mit Anschaulichkeit oder mit Form. Diese Bestimmung des Verhältnisses von ästhetischer und religiöser Wahrnehmung (Kap. I: „Ästhetische und religiöse Wahrnehmung“) lässt sich als inhaltlicher Kern von Gunther Stephensons Studie begreifen.

Die folgenden beiden Kapitel sind Fallstudien. Kapitel II gilt der „Romantik“. Es geht um Malerei um 1800. Schlaglichtartig führt Stephenson in die komplexe und widersprüchliche Ideen- und Formenwelt der Romantik ein und umreißt in wenigen Abschnitten ein Zeitbild quasi von A bis Z: Abgründe, Begeisterung, Charakteristik, Dichtung, Einsamkeit, Fragment, Gefühl, Hintersinn, Intuition, Jugend, Kosmos, Leidenschaft, Musik, Natur, Phantasie, Rausch, Stimmung, Traum, Unendlichkeit, Volk, Zweifel. Er erinnert an die Ausbildung nationaler Zentren und die Wendung zur Geschichte. In den Mittelpunkt sind Biografie und Werke von zwei Meistern gestellt: William Turner und Caspar David Friedrich. Auch Runge gerät ins Blickfeld der Betrachtung. Feinfühlig geht Stephenson den Werkdetails nach (bei Turner sind seine Punkte etwa die Ambivalenz von Stimmungsskizze und äußerster Präzision der Ausführung oder die Verwobenheit mit der Dichtung). Hinter den Bildwelten dargestellt sind Weltbilder. Die Landschaften spiegeln Visionen. Es geht nicht mehr um Darstellung sondern um Auflösung: „Die Welt scheint sich in einer anderen Schicht von Wirklichkeitserfahrung aufzulösen. Licht und Farbe werden bis ins Abstrakte vorangetrieben, das Besondere im Allgemeinen aufgehoben.“ (S. 37)

Das 20. Jahrhundert suchte eine neue Abgrenzung der Kunst von allzu unmittelbarer Religiosität. Der verlorene Blick auf das „Ganze“ freilich fordert gerade die Kunst zu einer metaphysischen Neuinszenierung des Schönen heraus. Stephenson geht diesen Ansätzen im Kapitel III nach: „Die geistige Situation um 1900“. Nipperdeys Schlagwort von „vagierender Religiosität“ dient als ein Leitmotiv.1 Die religiösen Hintergründe der abstrakten Malerei erläutert Stephenson an Beispielen von Feininger und Kandinsky, Marc und Mondrian. Den zunehmenden Freiraum selbst an Form und Farbe, den Bilder wie Mondrians „Kompositionen“ (1913 und 1921, hier Abb. 10) lassen (es sind im rechten Winkel zusammengestellte Rechtecke in den Grundfarben mit Grautönen), besetzen Phantasie und Assoziation, vor allem aber eine universelle Harmonie und ins transzendente gerichtete Meditation „erdenthoben“ (S. 90).

Eine kurze „Schlussbetrachtung“ rundet das Buch ab. Noch einmal beleuchtet Stephenson die Parallelität der ästhetischen und religiösen Erfahrungsform. Und er fasst die geistesgeschichtlichen Parallelen der Aufbruchssituationen um 1800 und um 1900 zusammen unter dem mit Novalis benannten Aspekt der „oft hymnischen Sakralisierung der Kunst bei gleichzeitiger Ästhetisierung der Religion“ (S. 92).

Gunther Stephensons Buch steht in der Tradition formal wissenschaftlich geprägter Essayistik. Vieles wird angerissen und zum Weiterdenken offen gelassen. Alles ist gut lesbar. Dass die Abbildungen nur in (zudem meist recht dunklen) Schwarzweißdarstellungen mitgegeben sind, ist angesichts der Essenz der Farbe für den Faktor Stimmung und Gehalt natürlich zu bedauern. Es sollte dies aber nur der kritisieren, der wesentlich mehr Geld für das Buch auszugeben bereit wäre. Nicht immer geht der Autor an Klischees ganz vorbei. Ruhmsucht und Geschäftstüchtigkeit etwa (S. 35) widersprechen seinem Bild der Romantik, selbst dort, wo sie begegnen. Ein wenig ermüden allzu häufige Zitate aus der Sekundärliteratur (meist Titel der 1950er bis 1960er-Jahre). Oder Regieanweisungen („Das künstlerische Zeugnis Turners und seine Intentionen mögen nun ins Blickfeld gerückt werden“, S. 35 &c.). Aber auch dort, wo es nicht in jeder Zeile Neues zu erfahren gibt in dieser Studie, bleibt das Alte gründlich bedenkend durchleuchtet und weiter bedenkenswert zumal. Denn jenseits ihrer historischen Berührungen fordern Kunst und Religion sich stets neu heraus. Und uns.

Anmerkung:
1 Nipperdey, Thomas, Religion und Gesellschaft. Deutschland um 1900, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 603.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch