Cover
Titel
Hitler's Prisons. Legal Terror in Nazi Germany


Autor(en)
Wachsmann, Nikolaus
Erschienen
Anzahl Seiten
538 S.
Preis
$30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Roth, Bonn

Viele unbekannte Flecken weist die Karte der NS-Forschung nicht mehr auf. Und auch der Strafvollzug im „Dritten Reich“, lange Zeit als Thema missachtet, hat in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit bekommen. Systematisch ausgeleuchtet wurde dieses Forschungsfeld jedoch kaum: Sieht man einmal von Rainer Möhlers Untersuchung aus dem Jahre 1996 ab 1, so fehlte bislang eine übergreifend angelegte Darstellung wie sie Nikolaus Wachsmann mit seinem Buch über "Hitler's Prisons" nun liefert. Dass der Strafvollzug in der NS-Forschung lange Zeit randständig geblieben ist, lag an der verständlichen Fokussierung auf die Geschichte der Konzentrationslager und der politischen wie rassistischen Verfolgung, mag aber auch mit einer historiografischen Diskriminierung zu tun haben: Die Klientel des Strafvollzugs, überwiegend „gewöhnliche“ Straftäter, galt lange Zeit nicht als geschichtswürdig. Wenn nun Wachsmann, derzeit Lehrbeauftragter an der Universität Sheffield, der Repression von Straftätern im NS-Strafvollzug eine ausführliche Studie widmet, so stellt er sich auch bewusst in jene Reihe jüngerer Untersuchungen, die sich den "vergessenen Opfergruppen" des Nationalsozialismus zugewandt haben.2

Das Lob vorweg: Wachsmann, der bereits mit mehreren Einzelstudien zur Geschichte des Weimarer Gefängniswesens und NS-Strafvollzugs hervorgetreten ist 3, schließt mit seiner beeindruckenden Untersuchung nicht nur einzelne Forschungslücken. Er hat zugleich eine fundierte Gesamtdarstellung vorgelegt, die die spezifischen Funktionen des Strafvollzugs im NS-Herrschaftssystem auslotet und das nationalsozialistische Gefängniswesen in die Gefängnisgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einordnet, den Radikalisierungsschritten des Vollzugssystems folgt, ohne die verschiedenen Akteursebenen der Vollzugspolitik aus den Augen zu verlieren, nach unterschiedlichen Häftlingsgruppen differenziert und auch Herkunft und Lebensbedingungen der Betroffenen vor Augen führt.

Wer angesichts des Titels "Hitler's Prisons" den Gestus des Tabubruchs oder kurzschlüssige Zuspitzungen erwartet, wird enttäuscht. Wachsmann erschließt nicht nur zahlreiche unbeachtet gebliebene Unterlagen, er bietet auch eine Synthese der vorliegenden Forschung und setzt auf souveräne Weise Bezüge zu angrenzenden Untersuchungsfeldern wie der Lager-, Polizei- und Justizgeschichte, der historischen Kriminalitätsforschung und Kriminologiegeschichte. Dem Autor ist nicht nur eine umsichtige, kritisch reflektierende, sondern auch eine pointierte und sprachlich wohl komponierte Studie gelungen, die einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der NS-Herrschaft leistet – und, für den angloamerikanischen Markt geschrieben, gewiss auch der deutschen Forschung wichtige Impulse geben wird.

Durch die Untersuchung, die einer weitgehend chronologischen Ordnung folgt, ziehen sich verschiedene thematische Linien, die eine besondere Beachtung verdienen. So setzt Wachsmanns Studie in ihrem Bemühen um eine historische Kontextualisierung des NS-Strafvollzugs bereits mit den kriminalwissenschaftlichen und -politischen "Vorarbeiten" des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein. Durch diese Herangehensweise wird deutlich, dass die mit der "Marburger Schule" vollzogene Hinwendung zu einer zweckorientierten, an der individuellen "Besserungsfähigkeit" des Straftäters orientierten "Verbrechensbekämpfung", die Medikalisierung der Kriminalwissenschaften und die Durchsetzung biologistischer und "rassenhygienischer" Deutungsmuster wichtige Fundamente für den aussondernden Strafvollzug des "Dritten Reiches" legten. Freilich lässt sich die NS-Vollzugspolitik nicht allein als eine "pathologische" Form solch kriminalpolitischer und -wissenschaftlicher "Modernisierung" betrachten. Wachsmann weist auch auf die im NS-Gefängniswesen angelegten, zum Teil bis auf das Kaiserreich zurück gehenden und selbst in der Weimarer Republik nicht abgeschliffenen "antimodernen" und autoritären Traditionen hin.4

Obgleich der Autor die langen Linien des Strafvollzugs auch in den folgenden Kapiteln nicht aus den Augen verliert, tritt bei der Untersuchung der Jahre 1933ff. die spezifische Dynamik des NS-Regimes deutlich hervor. Sie äußerte sich nicht nur in einer beispiellosen Radikalisierung staatlichen Strafens und Ausschließens, sondern auch in tief greifenden institutionellen Strukturveränderungen. So bildet der Konflikt zwischen der Justiz und dem SS-Polizei-Komplex, dem klassischen Strafvollzug und dem beständig erweiterten KZ-System ein Grundmuster von "Hitler's Prisons". Wachsmann zeichnet nach, wie der eher konservativ geprägte Justizapparat gegenüber den polizeilichen Kräften immer weiter in die Defensive geriet; zugleich wendet er sich aber entschieden gegen vereinfachende Deutungsangebote wie jene trotz wissenschaftlicher Kritik immer noch populäre These von der weitgehend entmachteten und widerwillig "gleichgeschalteten" Justiz. Der Autor betont nicht nur, dass von einer Marginalisierung der Justiz angesichts eines Gefängnissystems mit weit über 100.000 Insassen nicht die Rede sein kann. Er macht auch deutlich, dass das Justizministerium sich selbst unter dem nationalkonservativen Minister Gürtner für eine möglichst effiziente und "durchgreifende" Kriminalpolitik engagierte: Neben den Konflikten zwischen Justiz und Polizei treten Kooperation und Kompromissbereitschaft im gemeinsamen "Kampf gegen das Verbrechertum" in den Blick. Im Lichte von Wachsmanns Erkenntnissen erscheint die in der älteren Literatur entwickelte Gegenüberstellung von "außernormativer" polizeilicher Gewalt und "normativ" gebundener Justiz – mit der die Fraenkelsche Doppelstaatsthese auf einen institutionellen Antagonismus reduziert wird – mindestens fragwürdig.

Dass durch eine kategoriale Unterscheidung von Justizwesen und Polizeiterror entscheidende Einsichten verstellt werden, bestätigt sich auch beim Blick auf die Häftlingsbehandlung, die Wachsmann anhand verschiedener Faktoren (Hygiene, ärztliche Versorgung, Belegung, Strafensystem etc.) untersucht. Er stellt dabei eine stete Verschlechterung der Lebensbedingungen fest, die sich während des Zweiten Krieges so dramatisch beschleunigte, dass die Sterblichkeit der Gefängnisinsassen deutlich zunahm. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Wachsmann der parallel ablaufenden Ökonomisierung des Strafvollzugs und den ab Ende der 1930er-Jahre intensivierten Versuchen des Reichsjustizministeriums, die Gefangenen in einem planmäßigen Arbeitseinsatz für die expandierende Kriegswirtschaft zu mobilisieren. Dies konnte einzelnen Häftlingen Profilierungschancen und Haftvergünstigungen eröffnen, erhöhte jedoch auch den Repressions- und Selektionsdruck in Abhängigkeit von Arbeitsleistung und Produktivität. Letztlich führten der wachsende Terror einerseits und wirtschaftliche Ausbeutung der Gefängnisinsassen andererseits mit zunehmender Kriegsdauer zu immer deutlicheren Konvergenzen zwischen Strafvollzug und KZ-System – obgleich sich eine Gleichsetzung angesichts des sehr viel höheren Vernichtungsdrucks im Lagersystem verbietet.

Der Geschichte kriminalpolitischer Radikalisierung, die Wachsmann erzählt, ist mit einer Geschichte strafrechtlicher Differenzierung und Selektion verschränkt. Obgleich die NS-Justiz immer pauschalere und rigidere Strafen verhängte, während des Krieges zunehmend "unbescholtene Volksgenossen", Jugendliche und Frauen die Haftanstalten zu bevölkern begannen und die Chancen auf Wiedereingliederung für verurteilte Straftäter immer geringer wurden, blieb der Vollzugspraxis bis zuletzt die Unterscheidung zwischen "brauchbaren Volksgenossen", "Gemeinschaftsfremden " und "Fremdvölkischen" unterlegt. Während "deutsche" Ersttäter bessere Haftbedingungen bekommen sollten und unter Umständen auf Freilassung oder "Bewährung" im regulären Wehrmachtdienst rechnen konnten, sah man für einschlägig "vorbelastete" Delinquenten scharfe Haftbedingungen und eine langfristige Ausschließung aus der "Volksgemeinschaft" vor. Wie Wachsmann zeigen kann, drohte den als "unverbesserlich" und "gemeinschaftsfeindlich" eingestuften Straftätern auf mittlere Sicht ein ähnliches Schicksal wie den als "fremdvölkisch" stigmatisierten Häftlingen: Sie sollten aus dem regulären Strafvollzug ausgeschlossen, in die Zuständigkeit der Polizei übergeben und dem Terror der Konzentrationslager unterworfen werden.

Der Verbindung von selektivem Strafvollzug und Vernichtungspolitik ist ein Kernkapitel von Wachsmanns Untersuchung gewidmet, das die ab Herbst 1942 durchgeführte "Thierack-Aktion" behandelt, die von Justiz- und Polizeiführung vereinbarte Abgabe von "Fremdvölkischen", Zuchthausgefangenen und "Sicherungsverwahrten" aus dem Strafvollzug an die Konzentrationslager zur "Vernichtung durch Arbeit". Der Verlauf der Aktion, in der NS-Forschung meist nur stichwortartig abgehandelt, wird hier genau rekonstruiert: Wachsmann verfolgt die Entschlussbildung unter besonderer Berücksichtigung von Hitler, Thierack und Himmler, untersucht die konkrete Umsetzung und arbeitet die unterschiedlichen Phasen dieses gesellschaftspolitischen "Säuberungsprojektes" heraus. Nach Schätzungen des Autors wurden zwischen Herbst 1942 und Ende 1944 etwa 20.000 Menschen aus dem Strafvollzug in die Lager transferiert, wo zwei Drittel von ihnen den Tod gefunden haben dürften.

Der Autor beschreibt die "Thierack-Aktion" nicht nur als Endpunkt einer kontinuierlich radikalisierten "Verbrechensbekämpfung" und Scharnier zwischen "eugenischem" und "ethnischem" Rassismus; er erkennt in ihr auch ein Muster für die Herrschaftstechnik des NS-Regimes. Anders als der Titel glauben machen könnte, folgt sein Buch keinem schlichten "Hitlerismus". Wachsmann verweist aber auf die besonderen Impulse "des Führers" auf dem Weg zur Vernichtung von Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten. Die wiederholten Aufforderungen Hitlers, das "Verbrechertum" angesichts der von ihm ausgehenden "Dolchstoß"- und "Degenerations"-Gefahr bedingungslos "auszurotten", lieferten der Justiz- und Polizeiführung eine wesentliche Legitimationsgrundlage für die Einleitung der nächsten, bereits angedachten Radikalisierungsschritte. Wachsmann schlüsselt jedoch nicht nur den komplexen Entscheidungsprozess in der NS-Führung auf, sondern rekonstruiert auch die Verantwortlichkeiten der "vor Ort" beteiligten Akteure: der für die Häftlingsselektionen eingeteilten wissenschaftlichen Experten ebenso wie der Anstaltsleiter, die – wenn auch teilweise aus "eigensinnigen" Motiven – der Vernichtungspolitik der Führung bereitwillig entgegen arbeiteten.

Im letzten Kapitel von "Hitler's Prisons" kehrt Wachsmann wieder zu den langen Linien der historischen Entwicklung zurück. Er widmet sich der Zeit nach 1945, der mangelhaften personalpolitischen und strafrechtlichen Aufarbeitung in der Bundesrepublik, den Kontinuitäten in der Vollzugspraxis und einem Vergleich mit dem Strafvollzug der DDR und der Sowjetunion. Auch hier zieht der Autor eindimensionalen Aussagen die Differenzierung vor. "Hitlers Gefängnisse" dienen ihm weder zur Gleichsetzung "der Systeme" noch zu holzschnittartigen Aussagen über ungebrochene Kontinuitäten oder klare Brüche. Wachsmann arbeitet die spezifischen Merkmale des NS-Strafvollzuges heraus, macht ihn aber gleichzeitig als Teil einer Geschichte europäischer Diktaturen wie als Kapitel der modernen Kriminalpolitik begreifbar.

Angesichts der besonderen Qualität der Arbeit fällt die Liste der Monita kurz aus. Am meisten erstaunt noch das relativ geringe Gewicht, das die Kriminalbiologie in Wachsmanns Untersuchung erhält. Den relativierenden Bemerkungen des vor allem aus institutionen- und sozialgeschichtlicher Sicht argumentierenden Autors ist zuzustimmen: Das Projekt einer kriminalbiologischen Erfassung des "Verbrechertums" kam angesichts kriegsbedingter Ressourcenprobleme nicht über Ansätze hinaus. Dennoch hätte die kriminalbiologische Erfassung – in ihren Auswirkungen auf die Konzepte der "Verbrechensbekämpfung" und das Wissen vom "Verbrecher" – stärkere Aufmerksamkeit verdient gehabt.5 Doch mit diesem Einwand hat sich die Rezensentenpflicht schon erschöpft.

Anmerkungen:
1 Möhler, Rainer, Strafvollzug im "Dritten Reich". Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel des Saarlandes, in: Jung, Heike; Müller-Dietz, Heinz (Hgg.), Strafvollzug im "Dritten Reich". Am Beispiel des Saarlandes, Baden-Baden 1996, S. 9-301.
2 Vgl. nur – als Wegmarken dieser Forschung - Ayaß, Wolfgang, "Asoziale" im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Wagner, Patrick, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996.
3 Wachsmann, Nikolaus, "Annihilation through Labour". The Killing of State Prisoners in the Third Reich, in: Journal of Modern History 71 (1999), S. 624-659; Ders., From Indefinite Confinement to Extermination. "Habitual Criminals" in the Third Reich, in: Gellately, Robert; Stoltzfus, Nathan (Hgg.), Social outsiders in Nazi Germany, Princeton 2001, S. 165-191; ders., Between Reform and Repression: Imprisonment in Weimar Germany, in: The Historical Journal 45 (2002), S. 411-432.
4 Ähnlich argumentierte zuletzt auch Müller, Christian, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933, Göttingen 2004 [vgl. Falk Bretschneider: Rezension zu: Müller, Christian: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland. 1871-1933. Göttingen 2004. In: H-Soz-u-Kult, 14.01.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-037>.].
5 Vgl. nur Kailer, Thomas, Topographie der Abweichung. Erfassung und Vermessung des Verbrechers in der Kriminalbiologischen Untersuchung, 1923-1945, Diss. 2004 [noch nicht publiziert]; Kriminalbiologie, hg. vom Justizministerium des Landes NRW, Düsseldorf 1997; Simon, Jürgen, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920-1945, Münster 2001; Wetzell, Richard F., Inventing the criminal. A history of German criminology, 1880-1945, Chapel Hill 2000.

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