E. v. Boeselager, Geschichte der Schrift

Cover
Titel
Schriftkunde. Basiswissen


Autor(en)
von Boeselager, Elke Frfr.
Erschienen
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 14,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Der Band eröffnet eine neue Reihe, die auf knappem Raum und zu günstigem Preis hilfswissenschaftliches „Basiswissen“ vermitteln will und an die „Historischen Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen“ erinnert, deren „Papsturkunden“ durch die Hand eines jeden Mittelalter-Studenten gehen sollten.1 Zwei weitere Bände zu Historischer Kartografie und Urkundenlehre sind angekündigt, einer zur Siegelkunde jüngst erschienen. Dass die Hilfswissenschaften derzeit nicht zu den favorisierten Lehrfächern an den Universitäten gehören und die berechtigte Sorge geäußert wurde, nachfolgende Historikergenerationen könnten keine Möglichkeiten zu einer fundierten hilfswissenschaftlichen Ausbildung mehr bekommen, ist bekannt. Trotz dieser Sorge ist ein gewisser Anstieg an Publikationen zu hilfswissenschaftlichen Themen zu beobachten.2

Die Herausgeber geben an, dass der Wunsch nach „knappen, modernen Einführungen für Einsteiger“ aus ihrer „Erfahrung der universitären Lehre der Historischen Hilfswissenschaften einerseits und des Archivalltags andererseits“ erwuchs, die sie als „Historiker-Archivare“ gesammelt haben. Zielgruppe sind dementsprechend vor allem Studenten und interessierte Laien, so dass Wert auf eine verständliche Sprache und übersichtlichen Aufbau gelegt wird. Zudem wurde bewusst der „gesamte Zeitraum der Neuzeit“ (der in der Darstellung sogar bis in die Gegenwart reicht!) einbezogen, um die in den „klassischen Darstellungen“ gepflegte Konzentration auf das Mittelalter [und die Spätantike] zu überwinden. Solch ein anspruchsvolles Unterfangen ist vorbehaltlos zu begrüßen, aber gleichzeitig ist zu fragen, welche Hilfestellung in Theorie und Praxis wirklich geboten wird, zumal gerade auf den Aspekt „Lesen und Entziffern“ großer Wert gelegt wurde.

Boeselagers Band ist in 9 Kapitel gegliedert: I. Paläografie – was ist das? II. Schriftgeschichte. III. Die Technik des Schreibens. IV. Buchstaben und Zeichen. V. Text und Form. VI. Schrift und Sprache – Sprache und Schrift. VII. Lesen und Entziffern. VIII. Blick in die Zukunft des Schreibens. IX. Anhang. Nach der Einführung im ersten Kapitel, in dem auch Themen wie „Ökonomie der Form“, „Ökonomie der Zeit“ und „Ästhetik“ angeschnitten werden, folgt das zentrale und mit über 30 Seiten umfangreichste Kapitel zur Schriftgeschichte: Boeselager stellt in chronologischer Abfolge knapp die wichtigsten Entwicklungsstufen und Schriften vor, geht dabei aber auf neuzeitliche Schriften allerdings nicht ausführlicher ein. Den nachfolgenden Kapiteln werden jeweils fast durchgehend ca. 10 Seiten gewidmet, die dem Leser knappe Informationen vermitteln. Im Anhang bietet Boeselager schließlich eine „Chronologie zur Schriftentwicklung“ von 3300 v. Chr. bis 2000 auf zwei Seiten, eine „Übersicht über die gebräuchlichsten Schriftarten“ mit selbst gestalteten Beispielen von der Capitalis Quadrata bis zum Typ einer deutschen Schreibschrift des 20. Jahrhunderts und ein Glossar mit 33 Begriffserklärungen. Dem folgen eine thematisch gegliederte Literaturauswahl und ein Sachregister.3

Insgesamt unterscheidet sich Boeselagers Band zwar in seiner Zielsetzung und seinem Umfang wesentlich vom grundlegenden Lehrbuch Bernhard Bischoffs 4, muss sich aber dennoch an dessen hohem Niveau messen. Unbestritten kann sich der Anfänger bei Boeselager schnell ein erstes „Basiswissen“ aneignen, das aber in bestimmten Bereichen Probleme mit sich bringt: Gemessen an den heutigen Reproduktionsmöglichkeiten verfügt der Band über zu wenige und zu schlechte Abbildungen. Keine einzige Schrift wird in einer Abbildung des „Originals“ vorgestellt, sondern als reine schwarz-weiß Kopie oder Nachzeichnung einer Vorlage oder als eigene Gestaltung Boeselagers. Damit wird auf eine Visualisierung der Charakteristika der Beschreibstoffe und der formalen und grafischen Gestaltung etwa von Buchseiten und Urkunden verzichtet. Schlimmer wiegt jedoch, dass etliche der über die Zwischenstufe der Nachzeichnung oder eigenen Gestaltung präsentierten Schriften nicht als typische Beispiele oder „Idealtypen“ einer Schriftart gelten können oder wegen der Abbildungsqualität unlesbar sind, zumal bis auf einen Fall keine Transkriptionen beiliegen. Das trifft insbesondere für die die Abbildungen 7, 8 und 10-25 zu. Was soll aber ein Anfänger mit einer für ihn unlesbaren Schrift anfangen, die er nicht einmal mit Hilfe einer Transkription nachvollziehen und „lernen“ kann? Die Abbildungen sind nämlich auch nach Lektüre von Boeselagers Lesekurs (S. 96-104) kaum vollständig lesbar, wie sie auch nicht dazu geeignet sind, in einem Seminar als Übungsbeispiele zu dienen. Dass schließlich auf Herkunftsnachweise der Abbildungen verzichtet wurde, ist als weiterer Makel anzuführen.5

Ein weiterer Schwachpunkt ist in Boeselagers Terminologie und stellenweise unpräzisen, auch missverständlichen oder banalen Aussagen zu finden, was zu unzureichenden Erklärungen führt. Das beginnt bereits bei der Buchstabenbeschreibung mit Elementen wie „Bauch“, „Kopf“, „Fuß“ und „Rücken“.6 Falsch ist die Aussage: „Obwohl zeitgleich mit der Karolingischen Minuskel auftretend, setzt sich die Halbunziale tatsächlich nur im insularen Bereich durch“ (S. 32), da Halbunzialen etliche Jahrzehnte vor der Karolingischen Minuskel geschrieben wurden. Boeselager meint vermutlich den gleichzeitigen Gebrauch beider Schriften. Ob eine Schrift „staatstragend“ (S. 34) sein kann, darf zumindest ebenso angezweifelt werden wie die Erläuterung der „gotischen Schrift“ (S. 36): „Wie schon die Entwicklung der frühmittelalterlichen Schriften nicht ohne die Begleiterscheinungen auf der politischen und architektonisch-künstlerischen Ebene in ihrem Formenapparat zu verstehen ist, so gilt das in gesteigertem Maße für die gotischen Schriften. Die hoch aufragenden Kirchen, himmelwärts strebende Pfeiler und Kreuzgewölbe, all [!] diese Formen [!] sind bei genauem Hinsehen auch in der gotischen Schrift zu finden.“ Hätte sich Boeselager nur die Chronologie des Auftretens von „gotischen“ Stilelementen bei Schrift und Architektur vergegenwärtigt, wäre sie mit ihrer Aussage wohl vorsichtiger verfahren. Dass aber zur Brechung bei gotischen Schriften keine signifikante Abbildung beigesteuert wird, ist als Versäumnis zu werten, da auch die amateurhaften Alphabete (S. 54) nicht weiterhelfen. Bei den „Urkundenschriften“ sind Aussagen zum „Urkundenformular“, das als Urkundenformat verstanden wird, zu bemängeln (S. 42). Bei „Poggio“ ist der Name „Bracciolini“ anzufügen (S. 45), und bei Abbreviaturen sollte besser von ihrer Auflösung als ihrer „Lesbarkeit“ gesprochen werden (S. 57). Anzuzweifeln ist die Feststellung (S. 60): „Überhaupt hat jeder Schreiber meist über die eingebürgerten Abbreviaturen hinaus noch ein persönliches Abkürzungssystem erfunden.“ Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Allgemein ist zu konstatieren, dass es Boeselager nicht gelingt, eine überzeugende Schrifttypologie vorzustellen, in der auch die Entwicklungslinien und Interdependenzen zwischen Gebrauchs-, Buch- und Auszeichnungsschriften aufgezeigt und die Bedeutung der ersteren herausgestellt werden. Auch die praxisorientierten Kapitel haben bei weitem nicht das Niveau, um den Band zu einem „Klassiker“ in der Lehre werden zu lassen.

Anmerkungen:
1 Frenz, Thomas, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit, Stuttgart 2000.
2 Ich nenne nur: Deutsche Inschriften. Terminologie zur Schriftbeschreibung, Wiesbaden 1999; Filip, Václav Vok, Einführung in die Heraldik, Stuttgart 2000; Scheibelreiter, Georg, Heraldik, Wien 2005; Diederich, Toni; Oepen, Joachim (Hgg.), Historische Hilfswissenschaften, Köln 2005.
3 Zur Literatur sollte nachgetragen werden: Bischoff, Bernhard; Lieftinck, Gerard Isaac; Batteli, Giulio, Nomenclature des écritures livresques du X au XVI siécle, Paris 1954; Neumüllers-Klauser, Renate (Hg.), Res medii aevi. Kleines Lexikon der Mittelalterkunde, Wiesbaden 1999; Derolez, Albert, The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelth to the Early Sixteenth Century, Cambridge 2003.
4 Bischoff, Bernhard, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters, 3. Aufl. Berlin 2004 (1. Aufl. 1979). Wegen der zusätzlichen Abbildungen ist die englische Ausgabe ebenfalls zu empfehlen: Latin Palaeography. Antiquity and the Middle Ages, translated by Dáibhi Ó Cróinín, David Ganz, Cambridge (UK) 1990.
5 Dass auch ohne aufwendige Abbildungsseiten zielführende Schriftbeispiele möglich sind, beweist das alte Lehrbuch von: Battelli, Giulio, Lezioni di Paleografia, 3. Aufl. Città del Vaticano 1949 (ND 1997)
6 Die moderne Paläografie vermeidet zoomorphe Beschreibungskriterien, vgl. Deutsche Inschriften (wie Anm. 2), ein hilfreiches Werk, das Boeselager nicht rezipiert hat.

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