N. Reimann u.a. (Hgg.): Praktische Archivkunde

Cover
Titel
Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste Fachrichtung Archiv


Herausgeber
Reimann, Norbert; Nimz, Brigitta; Bockhorst, Wolfgang
Erschienen
Münster 2004: Ardey Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Grützmacher, Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Einführungen und Überblicksdarstellungen erfreuen sich auch in der Geschichtswissenschaft allgemeiner Beliebtheit. Sie dienen nicht nur der kompakten Wissensvermittlung, sondern bieten auch die Möglichkeit, den Stand der Forschung zu reflektieren. Bei der Archivkunde und Archivwissenschaft sieht es hier allerdings düster aus. Seit vielen Jahren fehlen einführende Darstellungen der Archivkunde. Für die archivarische Fachausbildung gibt es ebenso wenig aktuelle Lehrwerke wie für Studierende, die sich auf einen Forschungsaufenthalt im Archiv vorbereiten, oder für die universitäre Lehre des Fachs Archivwissenschaft. Für den letzteren Zweck wird immer wieder auf die mittlerweile in 6. Auflage vorliegende "Einführung in die Archivkunde" von Eckhart G. Franz 1 zurückgegriffen, die zum Zeitpunkt ihres ersten Erscheinens sicherlich verdienstvoll war, in ihrer Darstellung aber recht kurzatmig und von neueren Entwicklungen im archivischen Alltag überholt ist. Für die Vorbereitung auf einen Forschungsaufenthalt bieten sich neuerdings vor allem einige Internetseiten an.2

Nun hat das Westfälische Archivamt unter der Leitung von Norbert Reimann eine ausgezeichnete Überblicksdarstellung herausgegeben: die "Praktische Archivkunde". Bescheiden beschränkt sie sich – auf dem Buchdeckel schon unübersehbar – auf eine eng umrissene Zielgruppe; sie zielt auf den seit 1998 existierenden Ausbildungsberuf der/des "Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste Fachrichtung Archiv" (FAMI Archiv). Gerade im universitären Bereich stellt sich zudem die Frage, inwiefern die "Praktische Archivkunde" auch die oben skizzierte Lücke im Angebot für Lehrende und Studierende der Geschichtswissenschaft oder für die archivarische Fachausbildung schließen kann. Das Buch macht äußerlich einen ansprechenden und sehr soliden Eindruck – ein Eindruck, der sich beim Lesen bestätigt.

Einer knappen Einführung in das Berufsbild der FAMI Archiv und einer klaren Übersicht über die Aufgaben von Archiven und die deutsche Archivlandschaft folgt der Hauptteil der Darstellung. Er orientiert sich vor allem an den klassischen archivischen Fachaufgaben: Schriftgutverwaltung und Überlieferungsbildung (H.-J. Höötmann), Bewertung und Übernahme (K. Tiemann), Erschließung (B. Nimz), Nutzung (R. Kießling). Dazu kommen die "modernen" Themen EDV (B. Nimz) und Öffentlichkeitsarbeit (H. Conrad) sowie die für FAMIs besonders relevanten Bereiche Sammlungen (G. Teske), Archivbibliothek (B. Nimz) und Archivtechnik (R. Kießling). Dabei sind alle Kapitel stark praxisorientiert. "Praktische" Archivkunde wird hier wirklich ernst genommen. Das geht manchmal ein wenig zu sehr ins Detail, wenn etwa die technischen Spezifikationen von Archivregalen ausgeführt werden (S. 191) oder für Ausstellungen dunkelgrüne Stellwände und Begleithefte im A4-Format empfohlen werden (S. 259). In einem so allgemeinen Werk ist das wenig sinnvoll, da sich die Verhältnisse vor Ort im Einzelfall stark unterscheiden.

Der Praxisbezug hat sein Recht im Hinblick auf die Zielgruppe – und die praktischen Hinweise suggerieren nichts Falsches –, aber ab und zu hätte man sich ein wenig mehr Bewusstsein dafür gewünscht, dass bestimmte archivfachliche Fragen umstritten sind. Fachliche Kontroversen werden weitgehend ignoriert, ebenso vermisst man die Einbeziehung internationaler Entwicklungen – hier hat die "Einführung" von E. Franz ihre Stärke. Auch die (ansonsten gut ausgewählten) Literaturhinweise sind nicht unbedingt für eine stärker wissenschaftlich orientierte Zielgruppe gedacht.

Am ehesten theoriegeleitet sind die Abschnitte über Überlieferungsbildung und Bewertung, die hier getrennt behandelt werden. Die "Praktische Archivkunde" verfolgt dabei den Ansatz, dass die Überlieferungsbildung nicht erst einsetzt, wenn eine Verwaltung ihre Akten schließt, sondern schon bevor sie sie eröffnet. Mit diesem "Life cycle"-Konzept befinden sich die AutorInnen auf der Höhe der fachlichen Diskussion. ArchivarInnen, so ihre Forderung, sollten schon bei der Einführung von Registratursystemen als Records Manager ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Das erleichtert die spätere Übernahme, vor allem von elektronischen Daten. Dieser Aspekt wird in dem Abschnitt über "EDV und Archive" (B. Nimz) noch einmal vertieft und um die Problematik der elektronischen Langzeitspeicherung erweitert.

Nicht ganz trifft das für den Bereich der Bestandserhaltung zu, der – wohl unter Berücksichtigung der Zielgruppe – im Kapitel über "Archivtechnik" (R. Kießling) ein wenig untergeht. Hier hätte man sich gewünscht, die Bestandserhaltung mehr als eine alle archivische Arbeitsgebiete durchdringende Querschnittsaufgabe behandelt zu sehen. Dennoch geben alle Kapitel einen knappen, aber souveränen Überblick über das jeweilige Feld archivischer Arbeit. Den AutorInnen gelingt die Beschränkung aufs Wesentliche, die Beiträge sind fast durchweg klar und gut zu lesen.

Das gilt auch für die Beiträge des dritten Teils, in dem hilfswissenschaftliche und historiografische Fragen behandelt werden. Dieser Teil ist allerdings am wenigsten ausgewogen. Die einzelnen Beiträge sind bewährt gut, vor allem der zur "Quellenkunde", sie bringen aber die Komposition des Bandes ins Wanken. Die Übersichten über die Quellenkunde und die Hilfswissenschaften (W. Bockhorst) werden fast zu sehr verknappt, die Schriftentwicklung kommt wesentlich ausführlicher zur Sprache. Immerhin ist die Paläografie für die Arbeit im Archiv zunächst die wichtigste der Hilfswissenschaften. Das abschließende Kapitel über die Verwaltungsgeschichte Nordrhein-Westfalens (H. Conrad) ist nur für einen sehr geringen Leserkreis von Relevanz. Für ein breiteres Publikum ist der hilfswissenschaftliche Teil wohl am wenigsten interessant, zumal hier bereits ein einschlägiges und aktuelles Übersichtswerk auf dem Markt ist.3

Den Band rundet ein umfangreicher Anhang mit Glossar, Literaturverzeichnis, einschlägigen Internetadressen, Gesetzestexten und Muster-Archivordnungen sowie einem Register ab. Insgesamt ist die "Praktische Archivkunde" eine durchweg erfreuliche Neuerscheinung. Dass sich die AutorInnen darauf beschränken, einen Leitfaden für die FAMI-Ausbildung zu verfassen, erklärt und rechtfertigt vieles von dem, was oben kritisiert wurde. Seinen eng umschriebenen Zweck erfüllt der Band in hervorragender Weise. Der konsequente Praxisbezug und der Verzicht auf die Erörterung allzu theoretischer Kontroversen wird zudem nicht nur von den FAMIs geschätzt werden. Auch potentielle Archivnutzer, Studierende, archivarische Quereinsteiger oder alle, die eine klarere Vorstellung über die Tätigkeit von Archiven gewinnen wollen, werden davon profitieren, dass hier ein übersichtlicher Einstieg in das Archivwesen vorliegt.

Die "Praktische Archivkunde" macht Lust auf mehr. Gerade weil sie ihren Zweck so gut erfüllt, macht sie umso deutlicher die Lücke bewusst, die es noch zu schließen gilt. In Ermangelung einer besseren Alternative wird das vorliegende Werk auch für den akademischen Einstieg in die Archivkunde mit Gewinn gebraucht werden können. Eine echte Einführung in die Archivwissenschaft oder gar ein Handbuch kann (und will) sie allerdings nicht ersetzen. Das bleibt ein Desiderat. Aber auf ihre Weise hat die "Praktische Archivkunde" gezeigt, wie es gehen könnte.

Anmerkungen:
1 Franz, Eckhart G., Einführung in die Archivkunde, Darmstadt 2004.
2 Vgl. z.B. das Tutorial-Projekt "Ad fontes" (http://www.adfontes.unizh.ch/1000.php) sowie die Einführung auf der Seite Historicum.net (http://www.lehre.historicum.net/architutorial/), die auch schon auf H-Soz-u-Kult besprochen wurde (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezwww&id=80d=80).
3 Beck, Friedrich; Eckart, Henning (Hgg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln 2004.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension