Titel
Napoleon. Eine Biographie


Autor(en)
Willms, Johannes
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
839 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Deinet, Essen

Ein Ereignis ist anzuzeigen, wie es nur selten vorkommt in der deutschen Geschichtswissenschaft: Nach 100 Jahren hat „ein deutscher Historiker“ erstmals wieder eine „umfassende Biographie Napoleons vorgelegt“, so die vollmundige Ankündigung des Beck-Verlages. Es stimmt: seit der dreibändigen Napoleon-Biografie des Österreichers August Fournier von 1889 sind auf Deutsch zwar die gewichtigen Werke des Russen Eugen Tarlé, des Franzosen Georges Lefebvre und des Niederländers Jacques Presser erschienen, aber deutsche Historiker machten eher einen Bogen um den großen Korsen, widmeten sich allerdings in fleißigen Habilitationsschriften der Erkundung des napoleonischen Herrschaftssystems in Deutschland (Berding, Fehrenbach).

Jetzt also die „große“ Napoleon-Biografie von Johannes Willms. Hat das Buch seine vollmundigen Vorschußlorbeeren verdient? Glaubt man dem Rezensenten der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, dann hat es das: ein Schmöker, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. Natürlich gab es auch Verrisse wie den von Peter Schöttler in der „Zeit“, was die Reaktion aber nicht hinderte, das Werk als Top-Empfehlung unter den Sachbuchtiteln, gekürt von der hauseigenen Jury, zu präsentieren. Von den professionellen Historikern wird das Buch abgelehnt oder doch misstrauisch beäugt, von den Literaten wird es gelobt, vom Verlag wird es gehätschelt: Ist bei den Profis vielleicht Neid im Spiel? Wer unter den wenigen deutschen Frankreichhistorikern hätte nicht gern einen solchen Titel platziert?

Tatsächlich ist der Leser, auch der mit Napoleon vertraute, beeindruckt von der Schreibleistung des Autors, seiner nicht nachlassenden Formulierungslust, seiner geschickten Präsentation auserkorener Lesefrüchte, seinem sarkastischen Humor bei der Darstellung politischer Kabalen in komplexen Gemengelagen (das Meisterstück ist das Kapitel über den 18. Brumaire). Schließlich lässt man das Buch ermattet sinken, wieder einmal überwältigt von der schieren Dramatik des Sujets, die kein Romanschriftsteller, nicht einmal Alexandre Dumas, effektvoller hätte arrangieren können, als es hier die Geschichte selber tat. Nicht umsonst haben sich in Europa mehrere Generationen an diesem Saft betrunken und ihn doch nicht auszusaufen vermocht, wobei die Deutschen (Nietzsche, Stefan George, Friedrich Sieburg) sich als die noch hartnäckigeren Säufer erwiesen haben als ihre französischen Vettern. Aber die hatten ihren Napoleon ja auch in natura unter sich wohnen, wogegen die Deutschen noch der Niederkunft eines ähnlich kapitalen Wechselbalgs der Geschichte harrten…

Und damit sind wir bereits mitten im Thema, und zwar gleich bei seinem heikelsten Aspekt. Wenn man im Jahre 2005 eine „große“ Napoleon-Biografie schreibt, dann wartet der Leser notwendigerweise auf ein vermittelndes Wort des Verfassers, das vom 21. Jahrhunderts hinweg über die Diktaturen des 20. Jahrhunderts die Brücke zur Schlüsselgestalt des frühen 19. Jahrhundert schlägt. War Napoleon ein Vorläufer Hitlers und Stalins, dem nur die technischen Mittel zum Ausleben seiner Großmannssucht noch nicht in dem Maße wie diesen zur Verfügung standen, oder war er ein charmanter Plauderer und gutmütiger Familienmensch mit dem fatalen Hang zum Kriegsspiel, wie es uns der vor zwei Jahren vom französischen Fernsehen und dem ZDF produzierte Vierteiler glauben machen wollte? Auch und gerade für einen deutschen Autor lässt sich diese Frage nicht umgehen, jedenfalls nicht, wenn man eine 800-seitige Napoleon-Biografie schreibt mit dem Anspruch, das deutsche Napoleon-Bild auf Jahre hinaus neu zu vermessen.

Hätte Willms hier, im Vorwort oder im Nachwort (beides fehlt leider!), in diskursiver Weise Stellung genommen, wäre dies allemal besser gewesen, als sich einmal mitten im Text (S. 338) gegen „die von tiefer Ahnungslosigkeit kündende Unterstellung, die einen Adolf Hitler für seinen [Napoleons – K.D.] Wiedergänger hält“, zu wehren, dann aber doch – in einer Art unbewusster Analogiebildung – mit Ausdrücken wie „Steigbügelhalter“ (S. 204), „Machterschleichung“ (S. 341) oder „Geisterarmee“ (S. 578) auffällig nahe am historischen Jargon der NS-Geschichtsschreibung zu hantieren. Gleiches gilt, wenn Willms beiläufig einstreut, dass Napoleon einfache Kleidung bevorzugte, „so wie die Diktatoren des 20. Jahrhunderts, denen er darin zum Vorbild diente“ (S. 142), oder wenn er andeutet, dass dessen „Drang nach Osten“ mit „heute besonders fatal anmutenden historischen Analogien“ (S. 542) konnotiert sei. Eine „große“ Napoleon-Biografie wäre hier anders vorgegangen; sie hätte diese heikle Problematik nicht im Subtext umspielt, sondern sie reflektierend bearbeitet. Damit soll nicht einem Vergleich um jeden Preis zwischen Napoleon und Hitler das Wort geredet werden, der, wie schon Golo Mann im Vorwort seiner Gentz-Biografie bemerkte, zwar nahe liegen mag, aber „weniger als halb“ stimmt, nämlich „bis zum Erstaunlichen in der schieren Machtmechanik; in anderen Beziehungen keineswegs“. Aber wenn Golo Mann 1946 seinen Lesern diesen Vergleich nur „diskret aufgedrängt“ hat, wie er 1972 im Vorwort der Neuausgabe des Gentz-Buches gesteht, dann kann, ja dann sollte eine populäre Darstellung im Jahre 2005 sich explizit zur Problematik dieses Vergleichs äußern, denn diese Frage spielt im populären Diskurs nach wie vor eine Rolle, was im Übrigen ja die Anspielungen des Textes selbst belegen!

Was nur ein Nebenaspekt zu sein scheint, kennzeichnet doch das ganze Buch. Vor uns steht eine gewaltige Erzählleistung, die stellenweise brillante Partien enthält. Willms hat gerade mit den alten Quellen hervorragend gearbeitet, er hat sich wirklich die Mühe gemacht, in die Bände der Correspondance de Napoléon hineinzukriechen und sich auf die Zeugnisse der berühmten Memoirenschreiber des 19. Jahrhunderts, der Caulaincourt, Bourrienne, Pasquier, Miot de Melito und wie sie alle heißen, einzulassen. Manch schöner Fund kam so zutage, aber was dem Buch fehlt, ist die Mehrdimensionalität, die Tiefenschärfe, vielleicht auch eine erzählerische Herangehensweise, die sich aus der Konvention der Chronologie löst oder doch beim Erzählen die Tücken der Verfertigung einer „Geschichte“ mitbedenkt.

Wie erzählt man heute die Geschichte Napoleons? Für unseren Autor ist das keine Frage: Natürlich vom Anfang bis zum Ende, von Korsika bis Sankt-Helena. Der Leser muss sich entscheiden: entweder er lässt sich auf die Langstrecke ein und marschiert in der Lesekarawane mit, oder er kippt unterwegs heraus. Ein Mittelding gibt es nicht. Jede zweite Ebene, jeder Versuch des Autors, sich selbst beim Erzählen über die Schulter zu schauen, wie es Jacques Presser in seinem Napoleon-Buch so meisterlich getan hat, entfällt hier. Dabei hätte es durchaus auch andere Zugangsweisen gegeben, man muss ja nicht gleich wie Sieburg die Geschichte vom Ende her aufrollen. Warum z.B. nicht mit dem 18. Brumaire beginnen oder mit dem Zenith von 1810? Aber Willms ist ein strenger Diener der Chronologie, die er nur einmal zu einem essayartigen Ausflug in die Welt der Militärtheorie verlässt.

Dabei geht der Autor bei allen Mäandern der napoleonischen Kriegszüge und Länderschacher doch, was die psychologische Motivation seines Helden betrifft, ziemlich simpel vor. Alles lässt sich aus Napoleons eingeborenem Machthunger erklären. Bereits auf Seite 96 lässt Willms diesbezüglich die ‚Katze aus dem Sack’: Zwar „ordnete er sein militärisches Genie während seines Aufstiegs zur Macht immer seinen politischen Absichten unter. Kaum aber war er zum unumschränkten Herrscher Frankreichs geworden, kehrte sich dieses Verhältnis um. Von da an verengte sich sein politisches Trachten darauf, seine militärischen Eroberungen immer ausschweifenderen Machtprojektionen dienstbar zu machen […] Dieses zutiefst unpolitische Denken wurde sein Verderben und war die wichtigste Ursache seines Scheiterns“. Ähnlich noch einmal bei der Überlegung, ob es einen rationalen Kern für Napoleons Expansionismus gebe, wie es „die französische Napoleon-Geschichtsforschung“ unterstelle; dazu Willms: „Fraglich ist jedoch, ob das zutrifft, zumal vieles darauf hindeutet, dass Napoleon in die Macht schlechthin vernarrt war, die außer ihrer ständigen Mehrung kein Ziel hatte.“ (S. 434) Folglich gab es laut Willms in der gesamten Karriere Bonapartes keinen Punkt, wo er von sich aus der Entwicklung hätte Einhalt gebieten können. Sein „Dämon“ (S. 211, 298, 304, 338), sein Getriebensein (S. 164), seine „Spielernatur“ (S. 93, 266, 300, 544, 609) beherrschten ihn und führten ihn, angespornt durch „die vermeintlich spektakulären Erfolge“ der ersten Zeit, auf einer vorgezeichneten Bahn immer weiter. Das ganze Leben, der Aufstieg wie auch das Scheitern, schnurrt so mit der Unerbittlichkeit einer Spieluhr ab, wobei sich der Autor nur nicht ganz sicher zu sein scheint, wo in dieser Kette der Unerbittlichkeiten die eigentliche Peripethie zu suchen ist. War „der Triumph von Austerlitz“ schon „der Anfang vom Ende“ (S. 429), oder war „Tilsit der Anfang vom Ende“ (S. 468), oder war es der 24. Oktober 1812, der Beginn des Rückzugs aus Russland „an dem auch Napoleon das Gefühl beschleichen musste, den Zenit seiner Macht überschritten zu haben“ (S. 563), oder aber „das spanische Abenteuer“, von dem es S. 598 heißt, dass dieses, „und nicht der Zug nach Russland, […] der Anfang seines Endes“ gewesen sei?

Diese Unsicherheiten enthüllen, dass nicht der Held der Erzählung, sondern letztlich sein Autor dem bei Napoleon konstatierten „amor fati“ (S. 20, 142, 345) aufgesessen ist. Dadurch wird die Geschichte natürlich ungemein vereinfacht. Worüber sich Generationen französischer Historiker den Kopf zerbrochen haben, nämlich ob 1801 ein Punkt gewesen wäre, wo eine echte Chance auf einen dauerhaften Frieden bestand (und ob es Englands oder Napoleons Schuld war, dass dieser dann nicht hielt), ob das Gebäude von Tilsit mit mehr gutem Willen von Seiten Napoleons oder Alexanders hätte weiterbestehen können, ob im Winter 1813/14 noch eine reale Chance auf Erhaltung der „natürlichen Grenzen“ bestand usw.: Das alles wird hier bereits im ersten Anlauf entschieden mit der apodiktischen These, dass Napoleon immer nur seinem Machthunger gehorchte, dass er aus purem taktischen Kalkül Kompromisse anbot, aber nicht fähig war, eine dauerhafte politische Konstruktion, die die Interessen der Gegner mit einbezog, auch nur zu denken.

War die Geschichte wirklich so einfach gestrickt? War die psychologische Konstante, die Willms in der Person Bonapartes entdeckt haben will, nicht vielleicht doch das Resultat der Entwicklung einer Persönlichkeit, die erst in dem Maße, wie die Widerstände schwanden, ihre Realitätshaftung verlor? Wer so wie Willms von der psychologischen Prägung der Persönlichkeit her argumentiert, der geht nicht nur in die Falle des Determinismus, der beraubt sich auch eines wichtigen Spannungsmomentes der Erzählung, und dieser Umstand ist bei einem Werk solchen Umfangs in seinen Folgen vielleicht noch schwerwiegender als die Fragwürdigkeit der dahinter stehenden geschichtsphilosophischen Konstruktion. In der Tat verliert die Erzählung nach der Kaiserkrönung Napoleons spürbar an Fahrt. Es ist eigentlich schon alles gesagt, und der Marsch in den Untergang wurde schon so oft beschworen, dass ihm jedes tragische Moment, weil jede kontingente Motivation, abgeht.

Man könnte, mit der strengen Brille des Berufshistorikers auf der Nase, dem Buch darüber hinaus auch die mangelnde Tiefenschärfe in der Zeichnung der sozialen und mentalen Hintergründe vorwerfen. Doch da es sich hier um eine Biografie handelt, gelten nun einmal andere Prioritäten als für ein historisches Sachbuch. Sicher, wenn es um die Ausleuchtung diffiziler Strukturen geht, spricht Willms gern von der Stimmung „des Volkes“ oder der „unterbürgerlichen Schichten“ und stützt sich, statt auf eine Spezialuntersuchung, auf Belege aus Memoiren, so als wäre ein halbes Jahrhundert Sozial- und Mentalitätsgeschichte spurlos an uns vorüber gegangen. Was diese Vereinfachungen indes ärgerlich macht, ist, dass Willms die gerade in Frankreich reiche neuere Literatur entweder kaum kennt oder kaum zur Kenntnis nimmt. Zur Stimmung in den letzten Jahren des Direktoriums nur die Quellensammlung von Aulard und ältere Memoiren als Belege anzugeben, ist einfach zu wenig, auch wenn man flotter schreiben kann als mancher schwerfällige Doktorand. Und dies ist kein Ausnahmefall. So schön die Zitate, die Willms aus den Memoiren fischt, auch sind: Fehlt ihm eine gute Referenzuntersuchung oder kennt er eine solche nicht, dann bleibt seine Darstellung auf dem Stand von 1900 oder 1950 stehen. Aber Willms benutzt eben fast ausschließlich die ältere französische Primärliteratur, während er zur jüngeren französischen Sekundärliteratur – von der deutschen und italienischen gar nicht zu reden – einen Umgang pflegt, den man wohlwollend mit dem Attribut „entwaffnende Nonchalence“ beschreiben könnte. Auf die aktuellen Debatten um Napoleon hat er sich überhaupt nicht eingelassen, zumal er den „französischen Historikern“ sowieso eine einäugige Beziehung zum Gegenstand unterstellt. Auch große Namen wie Sorel und Tulard finden in diesem Zusammenhang wenig Respekt.

Natürlich ist dieser Umgang mit der Literatur vom professionellen Standpunkt aus völlig inakzeptabel. Aber darum geht es Willms auch gar nicht. Den Leser, den Willms erreichen will und den er mit der überraschenden Frische der aufgefundenen Zitate und der Süffigkeit seines Stils auch zweifellos erreicht, schert sich nicht im Geringsten darum, ob die neuesten Trends der Forschung hier verarbeitet wurden. Dass die Person aus einem einzigen Impuls heraus erklärt wird, dass komplexe Sachverhalte einer allzu griffigen Erklärungsweise unterworfen werden: das können und sollen ja die professionellen Historiker monieren, die den Literaten so bereitwillig die Bühne überlassen haben!

Und das ist auch der Punkt, der dieses Buch so symptomatisch für die deutsche historiografische Szene macht. Die großen Themen, insbesondere die großen biografischen Themen der neueren Geschichte, sind im Wesentlichen das Eldorado von Außenseitern der Zunft oder von ambitionierten Schriftstellern geworden, während die großen Namen des Faches lieber Kongresse organisieren, Politik machen und sich, wie Wehler und die Mommsen-Brüder, in voluminösen Handbüchern verewigen, die sicher die Forschung souverän zu bündeln vermögen, die sich aber nicht nur des Gewichts wegen kaum als Bettlektüre empfehlen: eine Qualität, die dem vorliegenden Buch trotz seines Volumens keineswegs abzusprechen ist. Wann werden die professionellen Historiker endlich wieder Bücher schreiben, die jeder lesen kann, die zu lesen ein Vergnügen ist und die sich doch auf der Höhe der Forschung bewegen, statt dieses Geschäft mit einem Augenaufschlag, der sich halb aus Geringschätzung, halb aus Neid speist, anderen zu überlassen?

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