Cover
Titel
Wikipedia Frühjahr 2005. Die freie Enzyklopädie


Herausgeber
Directmedia Publishing
Erschienen
Anzahl Seiten
1 DVD-ROM, 1 CD-ROM und ein Beiheft
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bjoern Hoffmann, Mannheim

Der Berliner Spezialist für digitalisierte elektronische Bücher Directmedia 1, der sich vor allem mit der Herausgabe älterer, z. T. vergriffener Bücher und Reihen im Rahmen der sogenannten Digitalen Bibliothek einen Namen gemacht hat, darunter etwa ein Sammelband zur deutschen Literatur von Lessing bis Kafka, ausgewählte Werke von Marx und Weber, die Propyläen Weltgeschichte oder zuletzt die 36 Bände der Fischer Weltgeschichte 2, zeigt mit seinem jüngsten Engagement für die freie Enzyklopädie Wikipedia sein Interesse, das Verlagsprogramm auch auf aktuelle Titel auszudehnen.

Directmedia hat mit der DVD-Version 2005 3 nun schon die 2. Ausgabe der sonst nur im Internet verfügbaren Wikipedia-Enzyklopädie 4 nach einer CD-ROM-Version 5 vom Herbst 2004 auf digitalem Datenträger vorgelegt. War die ursprüngliche Intention des Verlages mit der nur 3 Euro teuren und als Sonderband bezeichneten CD-ROM den Versionswechsel der an sich kostenlosen Anzeigesoftware von Version 3 auf Version 4 bekannt zu machen, durch den die Software nun ein echtes Bibliothekskonzept für alle weit über 100 Bände der Digitalen Bibliothek verfolgt und auch unter anderen Betriebssystemen nutzbar ist, hat sich die Strategie der Berliner mit der Erhöhung des Preises auf 9,90 Euro anscheinend etwas gewandelt. Zwei Euro des Verkaufspreises gehen zwar an die amerikanische Wikimedia Foundation 6 als Hoster der Wikipedia, die im Gegenzug den mittlerweile im Internet bekannten Namen 7 zur Verfügung stellt, die Wahrnehmung im Buchhandel einer fast 10 Euro teuren DVD dürfte jedoch eine ganz andere als die einer faktisch nur mit einer Schutzgebühr belegten Version sein. Die Wikipedia ist zu einem Produkt geworden, eine Rezension und Überprüfung der freien Inhalte unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten scheint geboten.

Das Konzept der freien Enzyklopädie, das durch eine enorme Aufmerksamkeit vor allem im Internet durch die gute Verlinkungsstruktur und den hohen Pagerank bei sehr vielen Suchanfragen etwa in Google begünstigt und durch eine umfassende Berichterstattung in der Presse begleitet wird 8, wurde an anderer Stelle bereits ausführlich beschrieben. Hier sei auf den Überblicksartikel der beiden Wikipedianer Patrick Danowski und Jakob Voss hingewiesen, der kürzlich im Open Source Jahrbuch 2005 9 erschienen ist, und neben den üblichen Argumenten für eine freie Enzyklopädie auch auf die nicht unwesentlichen Probleme und Schwierigkeiten eingeht.

Wie wertvoll ist nun die Wikipedia-DVD für die Geisteswissenschaften, an der Wissenschaftler und engagierte Laien zu gleichen Teilen und quasi gleichberechtigt im Internet mitschreiben können? Dieser Frage soll im Folgenden anhand einiger, mehr oder weniger zufällig ausgewählter Beispiele aus der Geschichtswissenschaft, in denen sich der Rezensent auskennt, nachgegangen werden.

Beispiel Historikerstreit: Der Artikel der freien Enzyklopädie enthält neben einigen Zitaten aus der Dokumentation der Kontroverse, die den Gehalt der Auseinandersetzung um die Thesen Ernst Noltes verdeutlichen sollen, im wesentlichen eine Definition und eine Würdigung der Kontroverse aus heutiger Sicht. Die Definition des Streits geht dabei an dem Kern der Debatte weitgehend vorbei, da die von Habermas vor allem kritisierten Teile von Noltes Thesen von Auschwitz als Reaktion auf eine vorgelagerte asiatische Tat im Osten zwar in den Zitaten auftauchen, aber in keiner Weise erläutert oder gar bewertend eingeordnet werden. Die Würdigung aus heutiger Sicht bleibt überdies vollständig unverständlich, wenn es dort heißt: „Aus heutiger Sicht liest sich vieles, was im "Historikerstreit" diskutiert wurde, als die Ouvertüre zu den Debatten um den Einsatz der deutschen Bundeswehr in Krisengebieten weltweit.“10

Beispiel Investiturstreit: Der Artikel wirkt auf den ersten Blick solider, was man an der Strukturierung des Textes erkennt. Doch schnell wird ersichtlich, dass der Text im besten Fall noch nicht fertig ist. Weder wird hier die europäische Dimension des Konfliktes deutlich, noch wird auf die Überwindung des Streites (Ivo von Chartres) hinreichend eingegangen. Der Gang nach Canossa durch Heinrich IV dagegen wird ausführlich behandelt, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass in Canossa die Investitur behandelt wurde. Unklar bleibt auch die Dimension des Streites, der hier nur als ein reiner Machtkonflikt zwischen Papst und Königtum um die Einsetzung von Bischöfen erscheint, nicht aber als ein grundsätzlicher Konflikt, der die Grundfeste des salisch-ottonischen Herrschaftssystems erschütterte. Auch die Wirkung des Streites auf die deutsche Geschichte bleibt im Dunkeln, jeder Hinweis auf die durch die Lösung des Investiturstreits eingeleitete Territorialisierung des Deutschen Reiches fehlt. Die Wikipedia geht über historisierende Beschreibungen im Stile einer Personengeschichte selten hinaus.11

Beispiel Merkantilismus: Waren die beiden ersten Stichproben zumindest nicht grob falsch, kann man das von vielen Formulierungen des Artikels zum Merkantilismus nicht mehr behaupten, der Merkantilismus wird hier als „vorherrschendes Wirtschaftssystem im Zeitalter des Absolutismus“ bezeichnet, der „die mittelalterliche Zunft- und Stadtwirtschaft“ abgelöst habe, als bedeutendster Vertreter wird Jean-Baptiste Colbert bezeichnet.12 Hier wird der Eindruck erweckt, dass es sich beim Merkantilismus um ein einheitliches Wirtschaftssystem gehandelt habe, dessen wirtschaftstheoretischen Grundpfeiler von einem französischen Staatsbeamten gelegt worden sei. Das Gegenteil ist der Fall und in der historischen Forschung besteht darin auch kein Zweifel, dass der Begriff des Merkantilismus letztlich nur sehr unterschiedliche praktisch-wirtschaftspolitische Maßnahmen in Europa bezeichnen kann, die gerade keiner einheitlichen Linie folgten. Die Bewertung am Ende des Textes zeigt zudem, dass der Artikel eher zur Verschleierung des merkantilen Wesens als zu seiner Erhellung beiträgt: „Adam Smiths Werk Wohlstand der Nationen und die französische Revolution machten letztlich dem Merkantilismus ein Ende und bereiteten den Weg für den Liberalismus.“13

Erschwerend für das Verständnis bleiben auch die formalen Mängel der Texte, wenn das Tempus der Darstellung wechselt (Investiturstreit), neue und alte Rechtschreibung munter durcheinander gehen (besonders z.B. im Artikel Goethe) oder keine Einheitlichkeit im Umgang mit Verlinkungen besteht. So werden häufig Verlinkungen völlig ohne sinntragende Funktion gesetzt, wenn beispielsweise bei einem französischen Politiker ein Link zu Frankreich gesetzt wird.

Fazit: Die drei von dem Rezensenten aus den mittlerweile über 200.000 Artikeln willkürlich herangezogenen Begriffe haben schwerwiegende Mängel gezeigt, sowohl was die inhaltliche Qualität, aber auch was die formale Umsetzung betrifft. Zwar hat die Wikipedia als kollaborativ angelegte Enzyklopädie keinesfalls den Anspruch, fertig oder vollständig zu sein, von einem Lexikon aber, das man käuflich erworben hat, und sei es nur für 10 Euro, erwartet man zurecht auch, dass es zumindest keine allzu groben Fehler enthält. Das kann von den hier intensiv betrachteten Artikeln jedenfalls nicht behauptet werden, wobei die Stichprobe von drei Artikeln natürlich nicht ausreichend sein kann, um die Qualität der gesamten Anwendung zu beurteilen. Als Nachschlagewerk im wissenschaftlichen Umfeld ist unter dieser Einschränkung die Wikipedia-DVD nur unter Vorbehalt einer weiteren gründlichen Prüfung der Fakten nutzbar, da grundlegende Aussagen, Bewertungen und Einschätzungen noch gründlicher hinterfragt werden müssen als bei etablierten Nachschlagewerken der Geschichtswissenschaft mit einem die Qualität sichernden Peer-Reviewing-Prozess und einem Herausgebergremium wie dem Lexikon des Mittelalters oder dem Kleinen Pauly.

Dennoch ist die Wikipedia ein interessantes Projekt, das die Idee der wissenschaftlichen Allmende sehr konsequent umgesetzt hat und in einer beachtlichen Zeit eine Enzyklopädie in kollaborativer Arbeit erstellt hat, dass man nur staunen kann. Zudem ist das Potenzial der Wikipedia durch seine Hypertextstruktur und durch seine rein digitale Erscheinungsform im Prinzip unbegrenzt.

Zu einer brauchbaren Textqualität zumindest im geisteswissenschaftlichen Umfeld scheint allerdings noch ein weiter Weg zu sein, der Einsatz im universitären Umfeld ist nur dann anzuraten, wenn man zugleich die Mühe und Zeit auf sich nehmen möchte und kann, die Fehler und Ungenauigkeiten der Textsubstanz gleich auszubessern, wobei hier das Internet der DVD natürlich vorzuziehen ist, da man die Änderungen nur online anbringen kann. Der Dank der Wikipedia Gemeinschaft dürfte einem dann freilich sicher sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. <http://www.digitale-bibliothek.de/> (20.04.2005).
2 Einen Überblick zu wissenschaftlichen Rezensionen dazu unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezcdrom> (20.04.2005).
3 Vgl. <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia-Distribution> (20.04.2005).
4 Die deutsche Version: <http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite> (20.04.2005).
5 Vgl. <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia-CD> (20.04.2005).
6 Vgl. <http://wikimediafoundation.org/wiki/Home> (20.04.2005).
7 Nach Angabe von alexca.com hat die Wikipedia längst sehr viel mehr Zugriffe als etwa britannica.com: <http://www.alexa.com/data/details/traffic_details?&range=2y&size=large&compare_sites=britannica.com&y=t&url=www.wikipedia.org/#topw.wikipedia.org/#top> (20.04.2005).
8 Siehe hierzu den umfassenden Pressespiegel zur Wikipedia: <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Pressespiegel> (20.04.2005).
9 Vgl. <http://www.opensourcejahrbuch.de/2005/pdfs/OpenSourceJahrbuch2005_online.pdf> (20.04.2005), hier: S. 393-408.
10 Vgl. den Artikel „Historikerstreit“. DB Sonderband: Wikipedia Frühjahr 2005, S. 201346.
11 Vgl. den Artikel „Investiturstreit“ . DB Sonderband: Wikipedia Frühjahr 2005, S. 216835.
12 Vgl. den Artikel „Merkantilismus“. DB Sonderband: Wikipedia Frühjahr 2005, S. 294470.
13 Vgl. den Artikel „Merkantilismus“. DB Sonderband: Wikipedia Frühjahr 2005, S. 294471.

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