G. Müting: Die Literatur "bemächtigt sich" der Reklame

Cover
Titel
Die Literatur "bemächtigt sich" der Reklame. Untersuchungen zur Verarbeitung von Werbung und werbendem Sprechen in literarischen Texten der Weimarer Zeit


Autor(en)
Müting, Gisela
Reihe
Europäische Hochschulschriften 1 1887
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 56,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Schug, Berlin

Das historische Interesse an den Themenfeldern "Werbung", oder allgemeiner: Marketing, nimmt offenbar stetig zu. Mit der Dissertation von Gisela Müting wird ein neuer Aspekt bearbeitet, der nicht die Entwicklung der Werbebranche oder einzelner Werbeträger thematisiert, sondern sich mit deren Rezeption auseinandersetzt. Dieser Perspektivenwechsel hin zu einer stärkeren Akteurs- und Rezipientenzentrierung weckt Interesse. Vor allem auch deshalb, weil eine "historische Werbewirkungsforschung" und damit die Untersuchung von Konsumbedürfnissen, Markenpräferenzen oder Meinungen über die Werbung als ein schwieriges Unternehmen erscheint, schließlich waren heute gängige Instrumente der Werbewirkungsforschung (z.B. Konsumentenbefragungen) in der Zeit vor 1945 kaum üblich, oder methodologisch eher zweifelhafter Natur. Müting erschließt dagegen eine neue Quellengruppe und zeigt anhand literarischer Texte, dass Teilaspekte der Rezeption von Werbung nachvollzogen werden können. Dabei geht sie der Forschungsfrage nach, wie sehr die Literatur von Weimar durch Werbung, Werbestrategien oder die zeitgenössische Werbesprache beeinflusst wurde. Mütings Grundannahme ist, dass Werbung eine neue Kultur der Wahrnehmung und Darstellung von Realität geprägt hat, wie sie typisch für das 20. Jahrhundert ist. Deren gesellschaftliche Präsenz weckte insbesondere seit Mitte der 1920er-Jahre das Interesse der Literaten. Demgegenüber hatte das Thema in der Literatur des Kaiserreiches keine Rolle gespielt: Nur sehr vereinzelt finden sich von Christian Morgenstern oder Karl Kraus literarische/journalistische Texte, die die neuen Werbewelten thematisieren. Aufgrund neusachlicher Orientierungen, mit der Hinwendung zur Alltagswirklichkeit Mitte der 1920er-Jahre und der Entwicklung neuer literaturästhetischer Konzepte, wird Werbung dann literaturfähig, sogar literaturbildend, und fungiert als Teil und Spiegel des großstädtischen Alltagslebens.

Werbung wird als literarisches Thema entdeckt: ihre Präsenz durch Werbeträger und Werbemittel wird dokumentiert, Werbefiguren und Slogans tauchen in der Literatur auf oder der Stil der Werbesprache wird imitiert. In Weimar ist ein weiteres Phänomen feststellbar: Schriftsteller werden nicht nur zunehmend zu Beobachtern oder Verarbeitern des Phänomens Werbung, sondern sie sind häufig selber Teil dessen, worüber sie schreiben. Viele Schriftsteller verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Werbetexter, so Wilhelm Schäfer, Hans Fallada, Joachim Ringelnatz, Carl Zuckmayer. Irmgard Keun arbeitete als Werbemodell. Bekannt ist auch das Beispiel von Frank Wedekind, der bereits um die Jahrhundertwende für Maggi werbliche Texte schrieb. Ausgehend von der wachsenden Popularität von Werbung oder des werblichen Sprechens in literarischen Texten der 1920er-Jahre formuliert Müting ihre zentrale These: "Literatur, der auch sonst innerhalb gewisser Grenzen eine dokumentarische Funktion zugesprochen werden kann, soll daher hier als eine Art Kronzeuge oder Protokoll für die Bedeutung und Wirkung einer neuen 'Massenkultur' betrachtet werden." (S. 14) Das sich daraus ergebende Erkenntnisinteresse ist, durch die Analyse und Anverwandlung von Werbung in literarischen Texten, d.h. durch die Verarbeitung von Werbung, gefiltert durch poetische Zwecke, zentrale Mechanismen kultureller Verarbeitung neuer Wirklichkeiten zu offenbaren, die als Teil der literarischen Moderne gelten können. Werbung liefert also eine neue Konstruktion von Wirklichkeit und wird dabei gleichzeitig zum Filter, durch den sie wahrgenommen wird.

Müting untersucht die werblichen Aspekte in der Weimarer Literatur anhand epischer, dramatischer und lyrischer Texte; sie werden jeweils gattungsbezogen befragt. Es werden vor allem Werke solcher Autoren analysiert, die eine Beziehung zu Berlin oder zu einer anderen Großstadt hatten. Ein weiteres Auswahlkriterium der Quellen war deren anerkannte literarische Rezeption, d.h. es wurden nur Texte verwendet, die auch heute noch diskutiert und publiziert werden. Insgesamt kommt Müting auf circa 30 Texte von Autoren wie Alfred Döblin (Berlin Alexanderplatz), Erich Kästner (Fabian; Emil und die Detektive; Pünktchen und Anton), Irmgard Keun (Gilgi – eine von uns; Das kunstseidene Mädchen), Hans Fallada (Kleiner Mann was nun?), Wolf Durian (Kai aus der Kiste), Bertolt Brecht, Ernst Toller, Lajos Barta, Joachim Ringelnatz etc. Hinsichtlich der Art des Vorkommens von Werbung in Literatur unterscheidet Müting fünf funktionale Gruppen: 1. Thematisierung von Werbung als Zeitphänomen; 2. Darstellung von professioneller Werbetätigkeit; 3. Verarbeitung von Werbeträgern/Werbemitteln; 4. Verarbeitung von Zitaten aus der Werbung; 5. Übernahme des Sprachstils von Werbung. Bevor sich Müting an die beschriebene Analyse macht, folgt noch ein kurzer Einschub zum historischen Kontext der Weimarer Republik. Die dafür herangezogene Literatur verwundert (bspw. nimmt sie Klaus Manns "Wendepunkt" oder einen Fotoband als Basisquelle zur Geschichte der Weimarer Republik); hier wird sehr deutlich, dass Müting keine Historikerin ist, sondern Literaturwissenschaftlerin und ihre Vorgehensweise, auch wenn sie ein literaturgeschichtliches Thema behandelt, nicht immer historisch tief verankert ist. Diese Problematik taucht an verschiedenen Stellen auf, auch dann, wenn sie sich einführend der deutschen Werbegeschichte im Kaiserreich und Weimarer Republik zuwendet. Ein weiteres Manko ist, dass sie keine genaue Begriffsdefinition ihrer Untersuchungsgegenstände herleitet. Werbung ist für sie eine multimedial vermittelte Suggestivbotschaft, die zum Kauf animieren soll. Soweit ist das eine gängige Minimaldefinition, die brauchbar ist. Bei Müting ist aber nicht genau bestimmt, was unter Kaufanimation alles zu verstehen ist. Die Autorin fasst alles, was mit Verkaufen zu tun hat, unter dem Begriff der Werbung zusammen. Für sie ist Werbung in der Literatur auch verarbeitet, wenn in einem Text ein Straßenverkäufer, ein Hausierer, Zeitungsverkäufer oder Touristenführer (S. 175) auftaucht. Fraglich ist außerdem, ob unter Werbung die Ausstattung eines Geschäfts oder die Uniform eines Chauffeurs verstanden werden kann. Man kann das tun, aber es sollte vorher definitorisch "eingefangen" werden. Somit spricht Müting nicht über Werbung, sondern vielmehr auch über angrenzende Gebiete wie die Verkaufsorganisation, Vertrieb oder PR.

Forschungspraktisch geht Müting so vor, dass sie innerhalb der erwähnten fünf funktionalen thematischen Gruppen eine Vielzahl von Unterthemen generiert, denen sie einzelne kurze Passagen aus den Quellen zuordnet. Bei der ersten Themengruppe erscheinen z.B. Unterthemen wie Reizüberflutung, Prominenz durch Medien, neue Umwelterfahrungen – jeweils belegt mit einem Zitat. Dieses Kategorisieren und Zuordnen von literarischen Versatzstücken zieht sich über mehr als 200 Seiten. Ein Lesevergnügen ist das nicht. Aufschlussreich ist Mütings Fazit: Die Verwendung von Werbung in literarischen Texten erfüllt bestimmte Funktionen, die wiederum Aufschluss über die Gefühle historischer Akteure in den 1920er-Jahren geben. Werbung scheint immer dann in der Literatur verwendet worden zu sein, wenn die Ökonomisierung des Lebens sowie die Normierungen zwischenmenschlicher Beziehungen illustriert werden sollte. Werbung und werbliches Sprechen in der Literatur steht für nüchternes Kalkül, für Täuschung, Unverbindlichkeit, Unaufrichtigkeit, für unechte glänzende Alltagswelten, die meist als physische und psychische Belastung im Sinne einer Reizüberflutung dargestellt werden. Die Werbesprache wirkt aber andererseits auch als kreatives Moment für die Literatur. Sie ermöglicht den Autoren der Heterogenität, Amerikanisierung und dem Tempo der 1920er-Jahre offensichtlich einen sprachlichen Ausdruck zu geben: durch schnelle, abgehackte Sätze, Verkürzungen und Abkürzungen, Montagen, Oberflächlichkeiten. Insgesamt ist die Arbeit von Müting eine sehr anregende Studie, die – und hier liegt ein ganz praktischer Wert – wie ein themenbezogener Leitfaden durch die Literatur Weimars gelesen werden kann.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension