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Titel
Mapping St. Petersburg. Imperial Text and Cityshape


Autor(en)
Buckler, Julie A.
Erschienen
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
$35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Oberländer, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt Universität zu Berlin

Im kulturellen Mythos Russlands ist Sankt Petersburg das Fenster zum Westen, die Hauptstadt des schlechten Wetters, der geeignete Ort für Depressionen und die Heimat der großen literarischen Meisterwerke des 19. Jahrhunderts. Der gemeine Leser der russischen Literatur assoziiert in der Regel die großen Poeten – Puschkin, Dostojewskij, Gogol –, wenn es um die ehemalige Hauptstadt des Russischen Reiches geht. Die in Harvard lehrende Literaturwissenschaftlerin Julie Buckler will sich dem Phänomen Sankt Petersburg jenseits dieser Klassiker nähern. Sie beschäftigt sich in ihrer Untersuchung über den kulturellen Mythos Sankt Petersburg mit weithin unbekannten Texten, die in Form von Reiseführern, Romanen, Gedichten und Legenden massenhaft vor allem im 19. Jahrhundert in Petersburg entstanden und die Stadt zum Inhalt hatten.

Das ge- und beschriebene Sankt Petersburg, so eines der zentralen Anliegen Julie Bucklers, war eben nicht nur die Stadt der Aristokratie, der Paläste und Parks (Puschkin) und auch nicht nur die Stadt von Bettlern, Prostituierten und Kriminellen (Dostojewskij). Petersburg war vor allem der Raum dazwischen, hatte eine Mitte – geografisch und literarisch. Julie Buckler will das vergessene Petersburg, das zwischen den Extremen von arm und reich unsichtbar geworden ist, gleichwohl aber ihrer Meinung nach repräsentativer für das Alltagsleben und den kulturellen Mythos ist, in die Erinnerung zurückholen (S. 3).

Zwei zentrale Fragen leiten Julie Buckler durch ihre Analyse: Welche Texte entsprechen bestimmten Räumen oder Lebensweisen im alten Sankt Petersburg? Und: Wie erzeugt das Schreiben über die Stadt die Stadt selbst, wie also sieht dieses zweite Sankt Petersburg aus, das als in der Schule auswendig gelerntes Gedicht, als bleibender Eindruck eines Romans oder als Versprechen eines unvergesslichen Urlaubs im Reiseführer existiert?

Der von Julie Buckler gewählte Zeitraum für ihre Untersuchung ist immens, umfasst er doch im Grunde die rund 300 Jahre, die seit der Gründung Sankt Petersburg ins Land gegangen sind. Ihr Schwerpunkt jedoch liegt auf Texten, die zwischen 1830 und 1890 geschrieben wurden. Die Sowjetunion streift sie nur kurz, um schließlich vor allem die seit der Perestrojka massenhaft erschienene, heimatkundlich orientierte Literatur über Sankt Petersburg ausführlicher zu besprechen, die laut Julie Buckler explizit an die imperiale Tradition der Stadt anknüpft (S. 15). Was sie genau unter der imperialen Tradition oder dem „imperialen Text“ der Stadt versteht, bleibt leider unausgesprochen. Die Vermutung allerdings liegt nahe, dass das imperiale Sankt Petersburg schlicht das diskursive Resultat jener Texte ist, die den Mythos Sankt Petersburg ausmachen.

Zwei Kategorien sind für Julie Buckler von zentraler Bedeutung: Raum und Mitte. Was den Raum betrifft, so macht bereits der Titel „Mapping St. Petersburg“ deutlich, wohin die Reise gehen soll: zum spatial turn. Wie so viele andere aktuell erscheinenden Bücher kommt auch dieses Buch ohne den Rekurs auf den neuesten methodischen Trend nicht aus. Und wie bei so vielen anderen Büchern fragt man sich am Ende: Wo war in diesem Buch eigentlich der spatial turn, der in der Einleitung mit den üblichen - und in der Regel unverständlichen - Verweisen unter anderem auf Henri Lefevbre und Michel de Certeau angekündigt wurde? Man stellt dann aber fest, dass es Julie Buckler im Verlaufe ihres Buches in der Tat geschafft hat, eine Literaturgeschichte des Raumes zu schreiben und zwar auf eine erfrischende, unprätentiöse Art und Weise. Das, was Julie Buckler auf englisch „mapping the textual topography of imperial Petersburg“ (S. 25) nennt, übersetzt sich im Laufe der Lektüre in die Verknüpfung von immer neuen Geschichten, Legenden und schreibenden Personen mit Plätzen und Orten der Stadt.

Die zweite tragende Kategorie für Bucklers Analyse, die Mitte, hat zunächst eine soziokulturelle Dimension. Auch hier ist Julie Buckler am Puls der Zeit, wächst doch die Zahl der Russlandhistoriker, die sich auf die Suche nach „Russia’s Missing Middle Class“ machen, stetig. 1 Julie Buckler sieht in der Mitte der Gesellschaft die zentrale Scharnierstelle im Übergang in die vorkapitalistische Phase, die sich über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckte (S. 5). Viel wichtiger jedoch als in dieser streitbaren Beobachtung ist die „Mitte“ für Julie Buckler deswegen, weil die Mehrheit der Literaten, die über Petersburg im 19. Jahrhundert schrieb, aus ebendieser Mitte kam und in der Regel Literatur verfasste, die als allenfalls durchschnittlich, respektiv mittelmäßig bezeichnet werden kann. Weiterhin ist die Kategorie „Mitte“ für Julie Buckler wegen ihrer räumlichen Dimension wichtig. In der Mitte zwischen den berühmten und vertrauten Plätzen und Orten befinden sich die „unterbeschriebenen Orte“ der Stadt, die Julie Buckler aufspüren will.

Die eindrucksvollsten Kapitel befinden sich in der Mitte des Buches, während sich die beiden ersten Kapitel sehr darum bemühen, in Architektur und Literatur des 19. Jahrhunderts einen neuen, einheitlichen Stil auszumachen. Der Eklektizismus, die Uneindeutigkeiten und Anleihen aus allen möglichen Richtungen, die „Mitten“ seien stilbildend für Petersburg, so die Behauptung Julie Bucklers. Wie sich die Architektur in der Literatur widerspiegelte, demonstriert Julie Buckler im zweiten Kapitel unter anderem am „Hauptschauplatz des literarischen Eklektizismus“ (S. 81) und dem Klassiker des Petersburgmythos, dem Nevskij Prospekt.

Reiseführer geleiteten den Petersburgbesucher zu den Sehenswürdigkeiten und markierten damit die wichtigen und die weniger wichtigen Orte. Diese Beschreibungen wurden jedoch nicht nur von Reisenden gelesen, sondern auch von den Stadtbewohnern selbst, die sich mit Hilfe dieser Texte ein Bild der Stadt machten, in der sie lebten. „Spaziergänge“ (progulki) waren beliebt im russischen Feuilleton des 19. Jahrhunderts. Der Autor flanierte in seinem Text durch eine bestimme Nachbarschaft oder kleine Seitenstrassen und hielt dabei alle möglichen und unmöglichen Begebenheiten fest.

„Armchair travelling“ nennt Julie Buckler ihr drittes Kapitel und das Phänomen, dass der Leser, während er gemütlich zuhause im Sessel sitzt, durch unbekannte Gefilde geführt wird. Faszinierend ist das vierte Kapitel zu städtischen Legenden und Gerüchten. Julie Buckler gelingt es, eine Quellengattung, die per se nicht schriftlich und daher oft für immer verloren ist, mit Hilfe von Zeitungsartikeln und Romanen in die Erinnerung zurückzuholen. Zusammen mit der Rekonstruktion solcher urbaner Legenden wie der um die „selige Xenia“ aus dem 18. Jahrhundert (S. 124ff.) stellt Julie Buckler die Langlebigkeit solcher Mythen dar, die gelegentlich bis heute erzählt und erinnert werden.

Im fünften Kapitel beschreibt Julie Buckler, welche Plätze und Orte die Kulisse für unterschiedliche literarische Sujets abgaben. Die Paläste und Parks im Südwesten der Stadt waren beispielsweise zentral für Reiseliteratur oder Memoiren, tauchten aber im Feuilleton des 19. Jahrhunderts kaum auf. Die Datschasiedlungen, die vor allem nordöstlich der Stadt gelegen waren, dienten als beliebter Schauplatz für Satiren oder Parodien auf die Mittelklasse, jene Schicht, die sich zwar keinen Palast, aber doch immerhin ein Sommerhaus aus Holz leisten konnte. Die Slums der Stadt, am berühmtesten sicherlich der Heumarkt, lieferten den Stoff für Romane (Dostojewskij/Nekrasov), das Feuilleton oder populärwissenschaftliche Abhandlungen. 2

Der Petersburg-Mythos sei mehrheitlich das Produkt gescheiterter Schriftsteller, die aus der Provinz nach Petersburg kamen, so eine der zentralen Behauptungen des nächsten Kapitels. Zunächst voller Hoffnungen auf ein neues Leben schilderten die meisten dieser Autoren in ihren autobiografischen Kurzgeschichten und Romanen, wie schnell sich die Stadt ihrer Träume in einen Alptraum von Schlaflosigkeit, Armut und Depressionen verwandelte. Diese Erzählungen des Provinzlers in Petersburg bilden für Julie Buckler eine eigene literarische Tradition, in der die Stadt immer neblig, kalt und unmenschlich bleibt.

Obwohl „Mapping St. Petersburg“ durchaus als alternativer literarischer Reiseführer dienen könnte, ist es weit mehr als nur das. Julie Buckler hat eine faszinierende Literaturgeschichte Sankt Petersburgs geschrieben, die mit der unübersehbaren Fülle an Material souverän umgeht. Ihre Lesart der Stadt gegen das klassizistische Ideal und jenseits der großen Texte, ihr Plädoyer für die Mitte und das Übersehene, überzeugt. „Mapping Petersburg“ macht Lust auf „Mapping Leningrad“ – vor allem dann, wenn die Autorin Julie Buckler wäre.

Anmerkungen:
1 Balzer, Harley D. (Hg.), Russia’s Missing Middle Class. The Professions in Russian History, Armonk 1996; Elise Kimmerling Wirtschafter, Social Identity in Imperial Russia, DeKalb 1997.
2 Zum 300-jährigen Jubiläum Sankt Petersburgs neu aufgelegt: Michnewitsch, Wladimir O., Jazwy Peterburga. Opyt istoriko-statistitscheskogo isledowanija nrawstvennosti stolitschnogo naselenija, Sankt Peterburg 2003 (1886).

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