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Titel
Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert


Autor(en)
Geulen, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrice G. Poutrus, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Nach Christian Geulen vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein tief greifender Wandel im deutschen Nationalismus, der sich nicht nur radikalisierte, sondern mit der Umdeutung der Nation zu einem biopolitischen Projekt eine vollkommen neue Gestalt erhielt. Danach war es, um den Fortbestand der Nation zu sichern, nicht mehr ausreichend, sich auf die Verfassung des Staates oder die eigene Herkunft zu berufen. Von nun an definierte sich die nationale Gemeinschaft als Volkskörper und hob sich fundamental von anderen Volkskörpern ab. Dieses Selbstbild der Nation ging einher mit der Vorstellung von der eigenen Überlegenheit und der radikalen Feindschaft dem Anderen gegenüber. Der Andere wurde zur existentiellen Bedrohung des Eigenen, und somit löste der entgrenzte Kampf der Rassen die Konkurrenz unter den Nationen ab. In diesem Kampf könne ein Volk, so die Annahme, seine Überlegenheit nur bestätigen, indem es sich im Krieg erneuere. Michel Foucault hat diesen katastrophalen Gesellschaftsentwurf als "Biopolitik" bezeichnet, und Geulen unternimmt in direktem Bezug auf den französischen Philosophen in seinem Buch über „Rassendiskurs und Nationalismus“ den Versuch, den Zusammenhang von Nation, Rasse und Imperialismus neu zu ordnen. Dabei gelingt es ihm, das Potential des diskurstheoretischen Ansatzes beeindruckend vorzuführen, wobei zugleich, wenn auch ungewollt, dessen Grenzen deutlich werden.

Um seine Ausgangsannahme zu belegen, liefert Geulen einen Abriss der Begriffsgeschichte von "Rasse" und untersucht folgerichtig den Zusammenhang zwischen Nation, Rasse und Wissenschaft in deutschen Gesellschaftsdiskursen des späten 19. Jahrhunderts. Dafür referiert er einleitend die europäischen Klassiker der Rassen- und Evolutionstheorien jener Zeit. Die exemplarisch herangezogenen Textquellen von Arthur de Gobineau, Houston Steward Chamberlain, Ludwig Gumplowicz, Ludwig Woltmann oder Theodor Fritsch bestätigen Geulens Hypothese sehr deutlich. In der Vorstellung dieser Autoren war die Nation nur mehr eine biopolitische Organisation, die im alltäglichen Leben der Bevölkerung im Rassenkampf bestehen musste. Mit der Einbeziehung der Theorie Darwins sowie der Biologie, der Anthropologie und der Medizin wurde der Diskurs der Rassen auf eine neue Stufe gehoben. Nun ging es nicht mehr nur darum, lediglich die Unterschiede zwischen Rassen und Völkern zu formulieren, sondern über ihre Verschiedenheit und ihre Zukunft nachzudenken bzw. diese Unterschiede durch den Kampf um die vermeintliche "Reinheit" der eigenen Rasse erst herzustellen. Dabei wurde insbesondere in Deutschland den Juden frühzeitig die Rolle einer so genannten "Gegenrasse" zugewiesen, die eine Gefahr für die Nation darstellte.

Geulens Vergleich mit Beispielen aus den Vereinigten Staaten stellt die Besonderheit der deutschen Entwicklung heraus. Auch das amerikanische Selbstverständnis wurde am Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich von der Idee einer biopolitisch begründeten Steuerung der Einwanderung geprägt. Die rassentheoretische Debatte in den Vereinigten Staaten war jedoch primär nicht auf die Aufhebung der ethnischen und sozialen Vielfalt ausgerichtet, sondern zielte vielmehr auf die Verbesserung der Leistungsfähigkeit der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen. Ihr fehlte damit die aggressive Dimension des deutschen Diskurses.

Die Stärke von Geulens Buch liegt darin, dass er die Wirkungsmacht des utopischen Rassediskurses in die Gesellschaft des Wilhelminischen Kaiserreichs hinein nachzuzeichnen vermag. Die Vorstellung, dass eine neue Politik bewusst den Selektionsprozess von Kampf, Chaos und Konkurrenz steuern müsse, blieb im Deutschen Kaiserreich keineswegs auf das völkische Lager und antisemitische Sektierer beschränkt. Die frühen eugenischen Programme zur Verhinderung „lebensunwerten Lebens“ verlieren in Geulens Perspektive ihren abseitigen Charakter. Auch kann er aus Verlautbarungen und Manuskripten der Reform- und Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg die beunruhigende Verbreitung des neuen Rassegedankens in der deutschen Gesellschaft nachweisen. Insbesondere aber der Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts bot nach Geulen schließlich den globalen Handlungsrahmen für diese Vorstellungen. In der etablierten und einflussreichen deutschen Kolonialbewegung lässt sich dieser radikale Rassismus nachweisen, besonders bei Carl Peters, wenn er sich mit dem Wesen der Menschen in den Kolonien auseinander setzte. Hier diente der Rassendiskurs schließlich zur außerpolitischen Rechtfertigung einer mörderischen Kolonialpraxis.

Mit diesem Schlusspunkt sieht Geulen seine Ausgangsthese klar belegt. Vorgestellt wurde vom Autor der Aufstieg eines biopolitischen Rassediskurses, der zwar nicht das Ende von Nation und Nationalismus herbeiführte, sehr wohl aber ihre bisherige politische Semantik wesentlich beeinflusst hatte. In wieweit dies gleichbedeutend mit einer Ablösung des alten nationalen Diskurses war, muss aber im vorgestellten Rahmen offen bleiben. Zwar erscheint das Substitutionsargument nach den Darlegungen des Autors plausibel, der Versuch jedoch, dies zu belegen, hätte eine solche Studie überdehnt. So wäre etwa eine an Geulen anknüpfende vergleichenden Arbeit denkbar, die nach den vorhandenen Anschlusspunkten und Übergängen von „altem“ Nationalismus und „neuem“ Rassismus fragt. Überhaupt lädt Geulen mit seiner argumentativen Verve zum weiterfragen ein. Wiederholt verweist er auf den Rassendiskurs als staatstragende Ideologie des „Dritten Reiches“. Immerhin hat die nationalsozialistische Diktatur dem Rassegedanken eine staatstragende Form gegeben. Mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Völkermord an den europäischen Juden wurde dann entsprechend die historische Wirklichkeit des „alten Kontinents“ katastrophal umgestaltet. Es ist deshalb mehr als gerechtfertigt, dieses Menschheitsverbrechen an die Geschichte einer intellektuellen Vorgeschichte zurück zu binden. Es ist das Verdienst von Christian Geulen, endlich den historischen Rassismus in Deutschland aus der Schmuddelecke der phantastischen Irrläufer geholt zu haben. Umgekehrt bleibt aber die Frage offen, wie der Weg von der Idee des Kampfes um die „Reinheit der Rasse“ zur Praxis des rassistischen Völkermordes verlief. Das ist jedoch kein Nachteil, denn gute historische Bücher enden nicht mit umfassenden Antworten, sondern mit herausfordernden Fragen. Das Buch von Christian Geulen gehört unbedingt dazu.

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