Ch. Brenner u.a. (Hgg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung

Titel
Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR 1948-1968


Herausgeber
Brenner, Christiane; Heumos, Peter
Reihe
Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 27
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
558 S., 38 Abb.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Geschichte der Arbeit und der Arbeiter in den staatssozialistischen Ländern des sowjetischen Blocks erfreut sich in jüngster Zeit – entgegen einiger Trends in der westeuropäischen Arbeiterhistoriografie – einer gewissen, wenn auch nicht überschäumenden Konjunktur. Der vorliegende Sammelband verstärkt diesen Eindruck. Er nimmt mit seinem wohl etwas zu generell geratenen Titel das Thema der Jahrestagung 2002 des Collegium Carolinum auf. Diese wiederum bezog sich sehr stark auf ein von der VolkswagenStiftung gefördertes Projekt zur Sozialgeschichte der Industriearbeiterschaft in der Tschechoslowakei zwischen 1945 und 1968 und versuchte den „Vergleich der tschechoslowakischen Verhältnisse mit entsprechenden Entwicklungen in anderen staatssozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas“ (S. 9). Daraus erklärt sich die von den Herausgebern selbst registrierte thematische „Schlagseite“.

In einem überaus anregenden Einführungsbeitrag erörtert Christoph Boyer, inwieweit Sozialgeschichte überhaupt zur Erforschung kommunistischer Systeme beitragen kann. Vor allem in der differenzierten historischen Pfadbindung ihrer Entwicklung sieht er ein weites Untersuchungsfeld. Beachtung verdient auch sein Plädoyer für die Bedeutung von Kontingenz: Bei aller systembedingten Überformung und Determiniertheit der „Staatssozialismen“ (S. 27) sollte die Wirkungsmacht von Zufällen nicht aus dem Blick verloren werden. Die folgenden Beiträge gruppieren sich um vier Themenachsen: (1.) „Herrschaftsstrukturen und Konflikte in Industriebetrieben“; (2.) „Betriebliche Kulturarbeit“; (3.) „Repression und soziale Klassen“; (4.) „Städtische und industrielle ‚Aufbaumilieus’“. Wie bei Tagungsbänden oft üblich, folgt auch hier die Gliederung einem Kompromiss zwischen dem inhaltlichen Anliegen der beiden Herausgeber und dem Beitragsangebot. Das damit verbundene Risiko wurde in diesem Fall erfolgreich minimiert, nicht zuletzt, weil die meisten Autoren aus einem in umfangreichen Vorarbeiten angereicherten Forschungsfundus schöpfen konnten.

Im ersten Themenschwerpunkt wirft Friederike Sattler die Frage nach dem analytischen Potenzial der Kategorie „industrielle Beziehungen“ bei der Anwendung auf zentralisierte sozialistische Planwirtschaften auf. Der infolge der Krise von 1956 im Warschauer Elektrolampenwerk eingetretenen Situation geht Małgorzata Mazurek in einer materialreichen Studie nach. Mark Pittaway beleuchtet betriebliche Konfliktszenarien zwischen Arbeitern, Management und Staatsorganen in Ungarn vor 1956 am Beispiel von Betrieben der Grundstoff- und Leichtindustrie. Die in der Tschechoslowakei im Verlauf der 1950er und 1960er-Jahre inszenierten Produktionskampagnen und ihr ausnahmsloses Scheitern sind Gegenstand des Beitrags von Peter Heumos. Ähnlichkeiten des Arbeiterverhaltens dürften zu vergleichenden Untersuchungen für andere Länder anregen. Innerbetriebliche Konfliktlagen analysiert Martin Krämer historisch weit ausholend anhand der Aktivitäten tschechisch-polnischer Montanbetriebsräte im Jahr 1948.

Der zweite Schwerpunkt des Bandes verweist auf die Funktion der Betriebe und der Gewerkschaften im Kontext kommunistischer Erziehungsdiktaturen. Helke Stadtland problematisiert die Kulturarbeit und den ihr zugrunde liegenden Kulturbegriff staatssozialistischer Gewerkschaften – in der weitergehenden Absicht, eine Sozialgeschichte der Kulturpolitik in Diktaturen auf den Weg zu bringen. Eine zentrale Dimension deutet sie mit dem Hinweis auf das Spannungsfeld an, das zwischen herrschaftsstabilisierenden und -destabilisierenden Faktoren der gewerkschaftlichen Kulturarbeit liege. Für den Ländervergleich will sie mit gutem Grund nicht nur unterschiedliche Entwicklungspfade, Traditionen und Mentalitäten berücksichtigt wissen, sondern auch ein unterschiedliches „Timing“ (S. 223). Die beiden folgenden Beiträge sind der gewerkschaftlichen Kulturarbeit in der Tschechoslowakei gewidmet. Jiří Knapik geht dem Thema für das Jahr 1948 nach, während Jiří Pokorný die Tätigkeit der Betriebsklubs im Zeitraum 1945 bis 1968 unter die Lupe nimmt. Instruktiv ist auch die von Annette Schuhmann beigesteuerte Untersuchung zur Rolle der Kulturhäuser in industriellen Großbetrieben der DDR.

Die im dritten Teil versammelten Beiträge verlassen den betrieblichen Bezugsrahmen und wenden sich expressis verbis dem Thema der politischen Repression zu. Anhand des Begriffspaares „Repression“ und „soziale Klassen“ fragt Dieter Segert in einem theoretisch hochkarätigen Beitrag nach den essentiellen Bezugspunkten einer Sozialgeschichte der politischen Macht im Staatssozialismus. Als sehr anregend erscheint beispielsweise die Frage, warum auch Repression es nicht vermochte, die Machtapparate des Staatssozialismus von äußerem und innerem Wandlungsdruck zu entlasten. Karel Jech illustriert das Vorgehen gegen die Großbauern während der Kollektivierung der tschechoslowakischen Landwirtschaft in den 1950er-Jahren. Die nach 1968 in der ČSSR angewandten Formen der Repression gegen regimekritische Intellektuelle sind Gegenstand eines Aufsatzes von Marketa Spiritová. Das staatliche Vorgehen gegen die an den Arbeiterproteste von Brno im Jahr 1951 Beteiligten beschreibt Jiří Pernes, während Mečislav Borák und Dušan Janák das Wirken der „Außerordentlichen Volksgerichte“ im Rahmen der von 1945 bis 1948 ausgeübten Retributionsgerichtsbarkeit untersuchen. Diese sollte NS-Verbrechen und Kollaboration ahnden, leistete im Endeffekt aber auch einen Beitrag zur „ethnischen Säuberung“.

Der vierte Themenschwerpunkt ist den städtischen und industriellen „Aufbaumilieus“ gewidmet, die im Zuge einer Industrialisierung sowjetischen Typs entstanden. Michaela Marek wirft die Frage nach der Idealstadt des Sozialismus auf. Am Beispiel von Eisenhüttenstadt lenkt sie die Aufmerksamkeit auf vorausgegangene sozialutopische Stadtentwürfe. Dies wird durch einen Blick auf das problematische Nebeneinander alter und neuer urbaner Substanz ergänzt, wie ihn Petr Lozoviuk exemplarisch für die Bezirksstadt Ždár nad Sázavou ermöglicht. Einem solchen Dualismus wendet sich in kritischer Sicht auch Sándor Horváth zu, der das Aufeinanderprallen „zivilisierter“ und „wilder“ Milieus im Alltag der „ersten sozialistischen Stadt Ungarns“, Sztálinváros, beschreibt. Ähnliche Konstellationen entdeckt Katherine Lebow im Freizeitverhalten der Bewohner des polnischen Nowa Huta in den Jahren 1949 bis 1956.

Die informativen Beiträge dieses Bandes erfüllen mindestens eine Doppelfunktion: Zum einen ergänzen sie das von Peter Heumos geleitete deutsch-tschechische Forschungsvorhaben zur Sozialgeschichte der tschechischen Industriearbeiterschaft1 und weiten dessen Fragestellungen auf Polen, Ungarn und die DDR aus. Zum anderen korrespondieren sie mit weiteren Beiträgen zur Arbeitergeschichte Mittel- und Osteuropas.2 Sie lassen intensive Forschungsbemühungen erkennen, die geeignet sind, bestehende Forschungsdefizite zur Geschichte der Arbeit und der Arbeiter im Staatssozialismus abzubauen. Dies alles ist mit Gewinn zu lesen. Gleichwohl vermisst man in den meisten Beiträgen des vorliegenden Bandes, wie in den anderen genannten Sammelbänden auch, den bi- oder multilateralen Vergleich. In ihrer Mehrzahl handelt es sich um Studien, die den jeweiligen nationalen Handlungsrahmen nicht überschreiten. Das mag dem Forschungsstand entsprechen, der zudem aufgrund der sehr unterschiedlichen Quellenlage und mehr oder weniger begrenzter Forschungskapazitäten nicht ohne weiteres anzugleichen sein dürfte. Sprachbarrieren spielen nach wie vor eine erhebliche Rolle. Immerhin zeigen vor allem die Beiträge von Boyer, Stadtland und Segert, welches analytische Potenzial im komparativen sozialgeschichtlichen Ansatz steckt. Allerdings wird auch deutlich, wie schwer er in der empirischen Forschung zu handhaben ist. Es gehört zu den Vorzügen des Bandes, dass er gerade in dieser Hinsicht wichtige Anregungen bietet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Heumos, Peter, Industriearbeiter in der Tschechoslowakei 1945-1968. Ergebnisse eine Forschungsprojekts, in: Bohemia 44 (2003), S. 146-171.
2 Vgl. Roth, Klaus (Hg.), Arbeit im Sozialismus – Arbeit im Postsozialismus. Erkundungen zum Arbeitsleben im östlichen Europa, Münster 2004; Hübner, Peter; Kleßmann, Christoph; Tenfelde, Klaus (Hgg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln 2005.

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