C. Töngi: Gewalt, Konflikt, Geschlecht in Uri im 19. Jahrhundert

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Titel
Um Leib und Leben. Gewalt, Konflikt, Geschlecht im Uri des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Töngi, Claudia
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv

Das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu Phänomenen der Gewalt ist ein paradoxes: einerseits beschäftigt sich die Historiografie traditionellerweise mit militärischen Konflikten zwischen Staaten, mit gewaltsamen Umbrüchen und Revolutionen, andererseits richtet sich der Blick der Forschung erst seit kurzem auf die effektive Ausübung von Gewalt. Diese Scheu der Geschichtswissenschaft hängt nicht zuletzt mit der Emotionalität und Scham zusammen, die Beschreibungen und Bilder brachialer Gewalt in einer Gesellschaft hervorrufen, die sich selbst als „zivilisiert“ bezeichnet. Gewaltausübung – sei es im Krieg oder im Alltag – bleibt aber oft auch in quellenmässiger Hinsicht diffus, zumindest so lange die Forschung ihren „erhöhten Standpunkt“ (Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke) nicht preisgibt, von dem sie auf politische Entscheidungsprozesse und durable Strukturen blickt.1 Einem mikrogeschichtlichen Ansatz verpflichtet ist denn auch die 2002 abgeschlossene und nun publizierte Dissertation der Schweizer Historikerin Claudia Töngi über Gewalt, Konflikt und Geschlecht im Kanton Uri im 19. Jahrhundert.

Anhand von Akten des Urner Verhöramts, die den Zeitraum zwischen 1803 und 1885 abdecken, untersucht Töngi die Formen physischer Gewalt im Alltag eines schweizerischen Landkantons.2 Ausgangspunkt der Untersuchung bilden Aussagen von Männern und Frauen, die im Verlauf von Straf- und Vaterschaftsprozessen von den Behörden einvernommen wurden. Wie bereits andere AutorInnen, die sich mit Gerichtsakten beschäftigten, versteht Töngi die Gerichtssituation als einen der „prominentesten Orte der gesellschaftlichen Aushandlung von Bedeutung“ und als „Kreuzungspunkt“ sowie „Schnittstelle“ unterschiedlichster Diskurse und Stimmen (S. 19). Sie geht davon aus, dass sich anhand von Gerichtsakten gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen in Bezug auf Gewalt rekonstruieren lassen. Der Fokus richtet sich demnach über das „in den Horizont der juristischen Tatbestandsdefinition eingebettete Handeln“ (S. 22) hinaus auf die Erfahrungen und Deutungsmuster der AkteurInnen sowie auf die Folgen von Gewalt für die betroffenen und beteiligten Frauen und Männer.

Mit diesem Untersuchungsdesign verbunden ist eine Auffassung von Gewalt als ein primär soziales Handeln. Wie Töngi einleitend festhält, ist Gewalt immer „mehr als ein rein physischer Angriff“ (S. 27). Gewalt ist in Machtbeziehungen eingebettetes symbolisches Handeln. Töngi will die historische Analyse von Gewalt allerdings nicht auf das Diskursive beschränkt wissen. Eine solche „Ästhetik unendlich möglicher Lesarten“ drohe, Leid und Schmerz als Resultate von Gewalt auszublenden und Gewalthandlungen implizit zu relativieren (S. 28). Stattdessen plädiert Töngi für einen handlungstheoretisch erweiterten Kulturbegriff, der soziale Bedeutung auch als das Ergebnis performativen Handelns versteht. In Bezug auf das für die Fragestellung zentrale Verhältnis von Gewalt und Geschlecht rückt damit der Aspekt des Doing gender ins Blickfeld. Angesichts der massiven Prävalenz männlicher Täter fragt Töngi nach der „Inszenierung, Bestätigung und Erzeugung bestimmter Formen männlicher Identität“ (S. 35) in Gewaltsettings unter Männern sowie zwischen Männern und Frauen.

Nach der Einleitung geht Töngi zunächst mit gewinnbringender Ausführlichkeit auf die Entstehungsbedingungen der untersuchten Gerichtsakten ein. Deutlich werden die vormodernen Züge des nur ansatzweise kodifizierten Urner Strafrechts. Zudem verweist Töngi auf die narrative Qualität und Funktion der vom Verhörrichter produzierten Untersuchungsberichte, die verstreute Zeugenaussagen erst zu einem auf justiziable Tatsachen ausgerichteten „Fall“ machten. Der anschliessende Hauptteil der Untersuchung geht anhand von drei verschiedenen Konstellationen – der Öffentlichkeit der Dorfgesellschaft, dem familialen Nahraum und sexueller Gewalt unterschiedlichen Settings und Deutungsmustern von Gewalt nach.

Im ersten Teil beschäftigt sich Töngi mit verschiedenen Eigentums- und Nutzungskonflikten. Sie zeigt, dass in der ländlichen Gesellschaft Uris Übergriffe auf das „Eigen“ (Eigentum) als Grundlage der ökonomischen und sozialen Existenz äusserst ehrrührige Angelegenheiten waren, die in gewissen Situationen eine gewaltsame Reaktion rechtfertigten. Der dabei ins Spiel gebrachte Ehrenkodex nahm zugleich Elemente volkstümlich-ritualisierter Formen der Gewalt wie des Ringkampfs oder des Schwingens auf. Erstaunlich häufig waren Frauen in solche Ehren- und Nutzungskonflikte involviert, seltener als Männer wurden sie indes handgreiflich. Nur am Rande schneidet Töngi allerdings die Frage an, inwiefern Frauen in Konflikten, gerade auch unter Frauen, eine spezifisch weibliche Ehre (und damit Identität) zu verteidigen hatten.

Eine primär männliche Angelegenheit waren dagegen Wirtshausstreitigkeiten und „Nachtbubereien“, die meist nur dann vor Gericht gelangten, wenn sie ein gewisses Mass an Gewalt überschritten. Das Kontinuum, das sich zwischen den anerkannten Formen männlichen Wettkampfs und illegaler Gewalt auftat, verweist darauf, dass die soziale Identität von Männern nicht nur in Beziehungen zu Frauen, sondern auch unter Männern ein durchaus fragiles Gebilde blieb. Einem vergleichbaren Ehrenkodex folgten die gewaltsamen Streitigkeiten unter italienischen Bauarbeitern, die in den 1870er-Jahren beim Bau der Gotthardbahn beschäftigt waren und in dieser Zeit einen beträchtlichen Teil der angeklagten Täter und der betroffenen Opfern ausmachten. Die Urner Behörden waren allerdings schnell bereit, Gewalthandlungen unter Tunnelbauern auf die angeblich besonders triebhafte und gewalttätige „Natur“ der Italiener zurückzuführen.

Wie Töngi im zweiten und dritten Teil zeigt, gelangte häusliche und sexuelle Gewalt vergleichsweise selten vor Gericht. So legitimierte im häuslichen Nahbereich die Tradition des hausväterlichen Züchtigungsrechts die Anwendung von Gewalt als Straf- und Erziehungsmittel gegenüber Frauen und Kindern, sofern die eingesetzte Gewalt ein gewisses Mass nicht überschritt. Gewaltakte von Frauen gegenüber Männern galten dagegen als Ausnahmen, die von den Beteiligten nur zu gern banalisiert wurden. In den seltenen Fällen, in denen Frauen als Opfer ehelicher Gewalt vor Gericht gelangten, erwarteten sie oft weniger eine Bestrafung des gewalttätigen Gatten als einen obrigkeitlichen Vermittlungsversuch, um die angeschlagene Beziehung wieder ins Lot zu bringen. Eine zentrale Rolle spielten die normativen Erwartungen an die Ehegatten auch innerhalb ehelicher Konflikte: Frauen warfen ihren Ehemännern Verfehlungen an der Rolle des Hausvaters vor, im Gegenzug sahen sie sich mit Kritik an ihren haushälterischen Fähigkeiten konfrontiert. Töngi interpretiert die gewaltsamen Reaktionen von Männern auf die Vorhaltungen ihrer Ehefrauen, die ihre Identität als Hausvorstand und Familienvater in Frage stellten, überzeugend als „verzweifelte Strategie der Machterhaltung“ (S. 397).

Die Seltenheit, mit der Sexualdelikte eingeklagt wurden, erklärt Töngi nicht zuletzt mit den hohen Anforderungen, welche der Tatbestand der Notzucht zu erfüllen hatte. So mussten Frauen glaubhaft darlegen, dass sie sich gegen eine Vergewaltigung mit aller Kraft gewehrt hatten. Gewalt als Mittel der männlichen „Verführung“ genoss denn auch eine gewisse soziale Akzeptanz – und zwar selbst bei den betroffenen Frauen, die oft erst dann Anzeige erhoben, wenn sich ihr „Verführer“ dem abgegebenen Eheversprechen entzog. Löst man sich allerdings von der zeitgenössischen juristischen Tatbestandslogik, wie dies Töngi mit dem Einbezug von Paternitätsverfahren tut, so rückt ein ganzes Spektrum an sexueller Gewalt ins Blickfeld, deren Täter-Opfer-Struktur exakt an den Geschlechtergrenzen verläuft. Deutlich relativiert wird dabei der – auch von unehelich schwanger gewordenen Frauen bemühte – Topos des vergewaltigenden „Fremden im Wald“, der sexuelle Gewalt auf einen Ort ausserhalb der Gesellschaft verweist. Ins Blickfeld rücken dagegen nicht minder auf Druck und Zwang beruhende sexuelle Beziehungen zwischen Hausherren und Dienstbotinnen. Bezeichnend für die Asymmetrie solcher Beziehungen ist die Protektion, welche die in Paternitätsverfahren involvierten Männern durch ihr Umfeld und die Justiz genossen: selbst protokollarisch festgehaltene sexuelle Gewalt wurde durch den stillschweigenden Verzicht auf eine Strafverfolgung unsichtbar gemacht.

„Um Leib und Leben“ überzeugt insbesondere an jenen Stellen, wo es Töngi gelingt, den sozialen und symbolisch-kommunikativen Charakter geschlechtsspezifischer Gewalt herauszuarbeiten – etwa dann, wenn säumige Schuldner oder kritisierte Ehemänner versuchen, ihre Ehre mit Gewalt zu verteidigen. Die Untersuchung der (teilweise arg zerstückelten) Fallbeispiele und die Querbezüge, die Töngi zu den Topoi der Urner Sagenwelt herstellt, zeigen, dass brachiale Gewaltausübung in der Tat mehr mit kulturellen Deutungsmustern zu tun hat, als gemeinhin angenommen wird. Töngis Lektüre der Gerichtsakten wirft allerdings stellenweise die Frage auf, welches Mass an prozesstaktischer Raffinesse man historischen AkteurInnen im Nachhinein unterstellen darf, zumal wenn es sich um Männer und Frauen handelt, die mit der juristischen Tatbestandsdefinition und Beweisführung keineswegs vertraut gewesen sein dürften. Ebenfalls auf grundsätzliche methodisch-theoretische Fragen stösst das nachvollziehbare Insistieren, die emotionale Dimension von Gewalt zu berücksichtigen: Welche Methoden stehen den HistorikerInnen zur Verfügung, um Texte als „Beschreibungen situativer Befindlichkeit“ (S. 370) zu lesen und aus schriftlichen Quellen Emotionen wie Angst, Schuld und Scham herauszudestillieren, ohne dabei einem „emotionalen Zirkelschluss“ zu verfallen? Unabhängig von diesen kritischen Einwänden stellt Claudia Töngis Untersuchung eine gelungene Verschränkung verschiedener Aspekte der Sozial-, Kultur- und Geschlechtergeschichte dar, die weit über die im Zentrum stehende Gewaltproblematik Einblicke in die Gesellschaft eines katholischen Landkantons bietet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Lindenberger, Thomas; Lüdtke, Alf (Hgg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995.
2 Eine quantitative Unersuchung der Urner Gerichtsfälle ist bereits erschienen: Töngi, Claudia, Geschlechterbeziehungen und Gewalt. Eine empirische Untersuchung zum Problem von Wandel und Kontinuität alltäglicher Gewalt anhand von Urner Gerichtsakten des 19. Jahrhunderts, Bern 2002.

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