F. Möller: Charismatische Führer

Titel
Charismatische Führer der deutschen Nation.


Herausgeber
Möller, Frank
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Seelig, Essen

Erfolg und Beliebtheit von Politikern und anderen populären Persönlichkeiten werden oft auf ihre persönliche Ausstrahlung zurückgeführt. In diesem Sinne wurden jüngst Johannes Paul II. und Joschka Fischer in der Presse beiläufig als Charismatiker charakterisiert.1 Der von Frank Möller herausgegebene Sammelband „Charismatische Führer der deutschen Nation“ stellt sich die Frage, welche Bedeutung Charisma in der kommunikativen Interaktion zwischen Politikern und der deutschen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert hatte. Wie lässt sich politische Herrschaft durch Charisma konstituieren, legitimieren und aufrechterhalten? Die Beiträge des Bandes veranschaulichen Möglichkeiten, Probleme und Grenzen, die das heuristische Konzept der charismatischen Herrschaft für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung des Verhältnisses zwischen Politikern und ihren Anhängern beinhaltet, anhand von zehn Fallbeispielen von Napoleon über Adolf Hitler bis hin zu Helmut Kohl.

Möller stellt einführend (S. 1-18) das theoretisch-methodische Instrumentarium zur Analyse charismatischer Führung vor. Ausgehend von der Herrschaftssoziologie Max Webers sei Charisma als ein „wechselseitige[r] Kommunikationsprozeß zwischen einem Führer und seinen Anhängern“ (S. 9) zu beschreiben. Als „Beziehungskategorie“ (S. 10) basiere Charisma nicht auf immanenten Eigenschaften, sondern maßgeblich auf von außen angetragenen Zuschreibungen. Dezidiert weist Möller Wehlers Unterscheidung von Eigen- und Fremdcharisma zurück.2 Im Mittelpunkt der Untersuchung habe nicht die Frage nach der außergewöhnlichen Begabung des Charismatikers zu stehen, sondern der wechselseitige Kommunikationsprozess zwischen Herrscher und Beherrschten. Erst durch die kommunikative Interaktion zwischen beiden Seiten werde charismatische Herrschaft konstruiert.

Andreas Schulz charakterisiert in seinem Beitrag „Der ,deutsche’ Napoleon – charismatisches Vorbild der Nationalbewegung?“ (S. 19-41) „die charismatische Persönlichkeit Napoleons als ein komplexes Geflecht äußerer Zuschreibungen, individueller Eigenschaften und spezifischer Erwartungen der deutschen Nationalbewegung“ (S. 21). Der früh entstehende Napoleon-Mythos habe denjenigen Deutschen, die sich nach einer geeinten Nation sehnten, eine Projektionsfläche für ihre Hoffnungen geboten. Ein von Mythen umwobenes Bild Napoleons habe die Erwartung geweckt, dass einst ein ihm vergleichbarer deutscher Held die nationale Einigung herbeiführen werde.

Möller weist in seinem Aufsatz „Heinrich von Gagern. Charisma und Charakter“ (S. 43-61) nach, dass der erste Präsident der Nationalversammlung von 1848 durchaus als charismatischer Führer bezeichnet werden kann. Durch seine Selbstinszenierung als „Idealtyp seiner Generation“ sei Gagern zur „ideale[n] Identifikationsfigur“ (S. 56) seiner Anhänger geworden. So leicht, wie es Gagern in der revolutionären Situation von 1848/49 gelungen sei, die Aura eines charismatischen Führers aufzubauen, so schnell habe er jedoch auch wieder sein Charisma verloren, als der erwartete Erfolg der Revolution ausgeblieben und die Hoffungen und Wünsche seiner Anhänger enttäuscht worden seien.

Entgegen Wehlers These 3 charakterisiert Christian Jansen Bismarck nicht als charismatischen Führer, sondern als Exponenten traditionaler und rationaler Herrschaft („Otto von Bismarck: Modernität und Repression, Gewaltsamkeit und List. Ein absolutistischer Staatsdiener im Zeitalter der Massenpolitik“, S. 63-83). Die Stilisierung Bismarcks zum Charismatiker habe erst am Ende seiner Kanzlerschaft begonnen und ihren Höhepunkt erst nach seinem Tod erreicht. Da es sich somit um eine „Ex-post-Konstruktion“ (S. 65) handele, fehle ihr eine notwendige Voraussetzung für charismatische Herrschaft: die soziale Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten. Mithin sei es analytisch unangemessen, Bismarck unter dem Rubrum ,Charismatiker’ zu führen.

Ulrich Sieg beschreibt in seinem Aufsatz „Wilhelm II. – ein ,leutseliger Charismatiker’“ (S. 85-108) den deutschen Kaiser als einen Herrscher, der von dem starken Wunsch nach Anerkennung beseelt gewesen sei, es jedoch wegen seiner eigentümlichen Selbstinszenierungen nicht vermochte habe, Charisma entwickeln oder für längere Zeit aufrechterhalten zu können. Unabhängig von Siegs empirischen Befunden lässt sich bereits auf theoretischer Ebene fragen, ob Wilhelm II. sinnvoll als charismatischer Führer bezeichnet werden kann. Zentrale Bestandteile der von Möller einleitend entwickelten Theorie können auf Wilhelm II. nicht angewandt werden – so fehlen etwa eine krisenhafte Situation als Vorraussetzung charismatischer Herrschaft oder die auf den Charismatiker projizierten Hoffnungen und Wünsche seiner Gefolgschaft.

Eindrucksvoll kann Wolfram Pyta („Paul von Hindenburg als charismatischer Führer der deutschen Nation“, S. 109-147) zeigen, dass das Charisma des Feldmarschalls und späteren Reichspräsidenten auf dem Prestige einer einzigen gewonnenen Schlacht basierte. Der Sieg bei Tannenberg, zu dem sich keine weiteren Erfolge gesellten, habe vollkommen genügt, um den Militär durch Selbstinszenierung und Fremdbeschreibung bereits zu Lebzeiten zum Mythos zu stilisieren. Anschaulich führt Pyta vor, wie Führer und Gefolgschaft in kommunikativer Interaktion gemeinsam dazu beitragen, charismatische Herrschaft zu konstruieren. Von allen Autoren greift Pyta am ausführlichsten Möllers Instrumentarium zur Analyse charismatischer Führung auf und kann somit eine empirische Unterfütterung der theoretischen Vorüberlegungen liefern.

Dirk von Laak zeichnet in seinem Aufsatz „Adolf Hitler“ (S. 149-169) nach, wie fünf Faktoren – Hitlers Person, die Konstruktion des Führer-Mythos, die „charismatische Situation“ (S. 161) des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik, die charismatischen Dispositionen der Gefolgschaft und die mediale Inszenierung – zusammenspielten, um Hitlers weitreichende Herrschaft, den „Musterfall charismatischer Herrschaft“ (S. 149), zu ermöglichen.

Edgar Wolfrum führt in seinem Beitrag „Konrad Adenauer: Politik und Vertrauen“ (S. 171-191) den Begriff ,Vertrauen’ ein, um mit ihm „die soziale Beziehung zwischen dem Kanzler und weiten Teilen der westdeutschen Bevölkerung auszuleuchten“ (S. 174). Da auf eine demokratische Gesellschaft das klassische Modell charismatischer Herrschaft nicht anwendbar sei, biete sich die Kategorie des Vertrauens an, um das Interpretament des Charismatikers sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht zu erweitern. Es gelingt Wolfrum zu zeigen, dass Adenauer – nicht zuletzt durch „das wichtigste Sozialkapital einer Führungspersönlichkeit: Vertrauen“ – „die politischen Ziele eines großen Teils der westdeutschen Bevölkerung“ (S. 189) verkörperte und so bereits früh zum Mythos avancierte.

An Wolfrums Gedanken schließt unmittelbar Rainer Gries’ Aufsatz „,Walter Ulbricht – das sind wir alle!’ Inszenierungsstrategien einer charismatischen Kommunikation“ (S. 193-218) an. Auch Gries betrachtet ,Vertrauen’ als zentrale Kategorie charismatischer Herrschaft. Er kommt zu dem Schluss, dass Ulbricht kein Charismatiker gewesen sei, da er weder Vertrauen zu den Menschen noch das Vertrauen der Menschen besessen habe. Alle Strategien, eine charismatische Beziehung zwischen Ulbricht und der Bevölkerung der DDR zu konstruieren, seien letztendlich an dem fundamentalen Strukturfehler des sozialistischen Staats gescheitert: an einer mangelnden Annerkennung seitens des Volks.

Wolther von Kieseritzky betrachtet den politischen Erfolg Willy Brandts als das Produkt eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren, das Kieseritzky insgesamt als „Charismapolitik“ (S. 222) bezeichnet („,Wie eine Art Pfingsten...’. Willy Brandt und die Bewährungsprobe der zweiten deutschen Republik“, S. 219-258). Aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften, der Zuschreibungen an den Politiker, seines politischen Konzepts einer Gesellschaftsreform und der medialen Inszenierung sei Brandt in der Aufbruchsstimmung am Ende der 1960er-Jahre „zum Träger von Hoffnungen und Projektionen geworden“, der „den ersehnten gesellschaftlichen und politischen Wandel zu verbürgen“ schien (S. 220). Als jedoch im Gegensatz zu seiner erfolgreichen Außenpolitik innenpolitische Fortschritte ausgeblieben seien, habe Brandts Charisma empfindliche Rückschläge erlitten. Der Rücktritt von 1974 sei die Folge gewesen, ohne aber eine weitere charismatische Beziehung zu seinen Anhängern zu verhindern.

Dieter Hein („Helmut Kohl. Ein charismatischer Führer der deutschen Nation?“, S. 259-281) führt vor, dass der Führungs- und Regierungsstil des langjährigen Bundeskanzlers sowohl von Elementen rationaler als auch charismatischer Herrschaft geprägt war. Im Anschluss an Stefan Breuer 4 plädiert Hein dafür, dass sich in modernen Gesellschaften Charisma und Rationalität nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich vielmehr osmotisch durchdringen. So lasse sich die Ära Kohl als „ein Musterbeispiel für den Prozeß gleichzeitiger Zunahme von rationaler und charismatischer Herrschaft“ (S. 281) betrachten, womit zugleich eine Erklärung für den enormen politischen Erfolg des CDU-Politikers geben sei.

Das Konzept der charismatischen Herrschaft, so zeigt der Band, ist ein nützliches heuristisches Mittel, um das Verhältnis zwischen Politikern und der Öffentlichkeit als eine auf Kommunikation beruhende soziale Beziehung zu analysieren. Da charismatischer Herrschaft – wie nicht zuletzt der Beitrag von Dieter Hein zeigt – ein idealtypisches Erkenntnisinstrument ist, das in der Realität niemals eine vollständige, reine Entsprechung erfahren wird, müssen stets die Komplexität der realen Verhältnisse und mögliche Mischformen der einzelnen Herrschaftstypen berücksichtigt werden. Auch Bismarcks Kanzlerschaft lässt sich wohl eher als ein komplexes Konglomerat von Elementen traditionaler, rationaler und charismatischer Herrschaft auffassen, anstatt dass einseitig für oder gegen eine auf Charisma beruhende Führung plädiert werden könnte. Die Beiträge warnen aber auch vor einer Überbeanspruchung des Konzepts. Charismatische Herrschaft sollte nicht allzu schnell als Erklärung für politische Führung herangezogen werden.

Anmerkungen:
1 Schmidt, Helmut, Den Papst treffen. Begegnungen mit einem großen, aber auch starrsinnigen Mann, in: Die Zeit, Nr. 15, 6. April 2005, S. 1; Ulrich, Bernd, Lasst ihn laufen! Joschka Fischers Visa-Affäre geht zu Ende, seine Krise geht weiter, in: Die Zeit, Nr. 18, 28. April 2005, S. 1.
2 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 370.
3 Ebd., S. 368-376.
4 Breuer, Stefan, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994.