T. Heinzelmann: Heiliger Kampf oder Landesverteidigung?

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Titel
Heiliger Kampf oder Landesverteidigung?. Die Diskussion um die Einführung der allgemeinen Militärpflicht im Osmanischen Reich 1826-1856


Autor(en)
Heinzelmann, Tobias
Reihe
Heidelberger Studien zur Geschichte und Kultur des modernen Vorderen Orients, 32
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mustafa Erdem Kabadayi, Trier

Mit seiner Heidelberger Dissertation legt Heinzelmann Resultate einer umfassenden Recherche über die osmanischen Militärreformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. In seiner Studie räumt er der Einführung der allgemeinen Militärpflicht die bestimmende Rolle ein. Mit Recht merkt er in der Einleitung (S. 13) an, dass die militärischen Reformen für die Entwicklung der Ideologie der osmanischen Reformpolitik des 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung sind. Aus diesem Grund leuchtet auch seine These ein, dass eine Analyse der Diskussionen um die Einführung der allgemeinen Militärpflicht einen viel versprechenden Zugang zur osmanischen Ideengeschichte ermöglicht. Das Ziel seiner Untersuchung ist es daher, diese Diskussion zu rekonstruieren.

Der zeitliche und kontextuelle Rahmen der Studie ist die osmanische Reformpolitik. Am Ende des 18. Jahrhunderts befand sich das Osmanische Reich auch in der eigenen Wahrnehmung in einer Krise. Militärische Niederlagen hatten zu großen territorialen Verlusten geführt. Das Hauptziel der Modernisierungsbestrebungen am Anfang des 19. Jahrhunderts war, dieser bedrohenden Entwicklung entgegenzuwirken. Deshalb war das Militärwesen der wichtigste Ansatzpunkt für die Reformierung des osmanischen Staatswesens. Die Reformen in diesem Bereich hatten wesentliche Nachwirkungen auf die Entstehung eines modernen Staatswesens. Dies galt nicht nur für das Osmanische Reich, sondern auch für viele andere Staaten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Reformerfahrungen in Ägypten unter Muhammad Ali. 1 In diesem Zusammenhang wird die Einführung der allgemeinen Militärpflicht als ein wichtiger Bestandteil der Zentralisierung und der Ausdehnung der Kontrolle des modernen Staates über seine Untertanen angesehen. 2 Gerade hier liegt auch die Relevanz von Heinzelmanns Studie, die nicht nur für die spezialisierte Forschung zur osmanischen Reformpolitik des 19. Jahrhunderts von Interesse ist.

Zeitlich beleuchtet die Studie jene 30 Jahre zwischen zwei der wichtigsten Wendepunkte des osmanischen 19. Jahrhunderts, nämlich der Auflösung der Janitscharenregimenter 1826 und dem Reformedikt von 1856. Die Arbeit basiert auf drei Fragenkomplexen (S. 14): 1) Die Legitimierung der Auflösung der Janitscharentruppen und die Schaffung eines stehenden Heeres. 2) Die Umwandlung einer Armee von Söldnern in eine Armee von Militärpflichtigen. 3) Die Rolle der Nichtmuslime in der osmanischen Armee. Diese Aufteilung bestimmt auch die Gliederung und den Aufbau der Studie, die zum größten Teil chronologisch angelegt ist.

Im ersten einleitenden Kapitel erläutert Heinzelmann zuerst seine Fragestellung, dann die Quellengrundlage der Studie. Die Hauptquelle der Arbeit bildet umfangreiches osmanisches Aktenmaterial aus dem “Archiv des Ministerpräsidenten” (Basbakanlik Devlet Osmanli Arsivi) in Istanbul. Zum ersten Mal wird für diesen Themenkomplex Material in dieser Breite ausgewertet. Weiter werden sowohl gedruckte als auch ungedruckte zeitgenössische Quellen zugezogen, die die Quellengrundlage der Studie in entscheidenden Punkten ergänzen.

Nach einem kurz gefassten historischen Überblick konzentriert sich Heinzelmann im dritten Kapitel auf seine erste Fragestellung: die Legitimierung der Auflösung der Janitscharentruppen und die Schaffung eines stehenden Heeres. Nach einer genauen Analyse der Begebenheiten und der Situation der Janitscharen im Jahre 1826 zeichnet Heinzelmann die Auflösung und die sie begleitenden Legitimationsversuche des osmanischen Staates unter Sultan Mahmud II. detailreich nach. Nach der Abschaffung des Janitscharenregimenter verfügte das Osmanische Reich über keine regulären Truppen mehr. So verweist Heinzelmann auf die prekäre militärische Lage des Reiches und die Bestrebungen, eine neue Armee (Asakir-i Mansure) zu schaffen. Die Herausbildung dieser neuen stehenden Armee ist als Fortführung von früheren unvollendeten Reformvorhaben zu betrachten. Zusätzlich liefert Heinzelmann eine genaue Analyse der 1834 neu gegründeten Asakir-i Redife und ihrer Weiterentwicklung. In der bisherigen Forschung galten diese Truppen als Reserve, im europäischen Kontext etwa vergleichbar mit den preussischen Landwehreinheiten. Deshalb sind zwei Klarstellungen wichtige Erkenntnisse dieses Teil: erstens sollten die Asakir-i Mansure eher als ein Korps von Söldnern bzw. Berufssoldaten und nicht als eine Armee von Militärpflichtigen verstanden werden (S. 76), und zweitens hatten die Asakir-i Redife-Einheiten nicht den bisher in der Sekundärliteratur angenommenen Charakter von Reservetruppen, sondern glichen eher Miliztruppen (S. 112).

Das vierte Kapitel ist der Einführung der allgemeinen Militärpflicht und der Schaffung der dazu erforderlichen Gesetzesgrundlage gewidmet. Dieses Kapitel beginnt mit einer sehr umfangreichen Analyse des Edikts von Gülhane (1839) und kritisiert seine Rezeption in der Geschichtsschreibung zum Osmanischen Reich, nicht nur in Bezug auf die Militärreformen. Durch eine sorgsame Periodisierung der Inhalte und Geltungsbereiche von Begrifflichkeiten wie millet, vatan, ahali und reaya – in diesen Begriffen der osmanischen Staatsideologie spiegelt sich der Wandel in der Wahrnehmung und Definition der osmanischen Gesellschaft bezüglich Religionszugehörigkeit, Territorialität und legalen und sozialen Status der Untertanen – gelingt Heinzelmann eine äußerst interessante Textanalyse des Edikts. Sie geht vielleicht über die Grenzen des Notwendigen für seine Fragestellung hinaus (S. 132-142), doch trägt sie Wichtiges zur allgemeinen Diskussion bei. Dabei ist zentral, dass das Edikt von Gülhane keineswegs, wie oft behauptet, die Militärpflicht für die nichtmuslimischen Untertanen ankündigt. Anschließend wird in diesem Kapitel eine weitere wichtige Gesetzgebung im Detail erörtert: die Regulierung des Losverfahrens (kur’a) durch das Rekrutierungsgesetz von 1846 (S. 184). Schließlich geht Heinzelmann auf die aktuelle Praxis der Rekrutierung ein und stellt fest, dass das Losverfahren nur für zwei von fünf Einheiten der osmanischen Armee einigermaßen erfolgreich durchgeführt werden konnte.

Im letzten Kapitel untersucht Heinzelmann die Diskussion um die Rekrutierung von Nichtmuslimen in einer bisher noch nicht erreichten Tiefe und kann dieses umstrittene Thema der Forschung bedeutend schärfer konturieren, wenn auch nicht in allen Einzelheiten ausleuchten, weil gerade für diesen Bereich das Quellenmaterial nur lückenhaft zugänglich ist. Insbesondere überzeugt seine kritische Untersuchung, ab wann im Osmanischen Reich die Sondersteuer für die Nichtmuslime (cizye), eine Institution des islamischen Rechtes, als eine Art Militärersatzsteuer angesehen wird. Dies wird erst mit dem Reformedikt von 1856 in die Praxis umgesetzt (S. 309f., 321, 337).

In der Schlussbetrachtung fasst Heinzelmann seine Resultate knapp, jedoch genau zusammen. Zu den wichtigsten Punkten gehören: Entgegen der in der Forschung weit verbreiteten Meinung kann aus dem Edikt von Gülhane von 1839 der Grundsatz einer allgemeinen Militärpflicht nicht abgeleitet werden, welche sich gleichermaßen auf Muslime und Nichtmuslime erstreckte. Das Edikt führt auch nicht die Gleichberechtigung aller Untertanen in andern Bereichen ein. Vielmehr existierte auch nach dem Reformedikt von 1856 die Militärpflicht für Nichtmuslime nur theoretisch, und sie wurde grundsätzlich finanziell abgegolten. Somit bewirkte das Edikt von 1856 bezüglich der Militärpflicht de facto keine Änderung (S. 345f.), und nur in Ausnahmefällen wurden nichtmuslimische Untertanen zum militärischen Dienst herangezogen.

Heinzelmann erreicht mit dieser Studie größten Teils sein Ziel und es gelingt ihm, die Diskussion um die Einführung der allgemeinen Militärpflicht im Osmanischen Reich in ihren Grundzügen zu rekonstruieren. Dabei stützt er sich hauptsächlich auf das durch die osmanische Zentralregierung generierte Archivmaterial. Doch die Studie bleibt nicht nur auf dieser Diskussionsebene. Sie geht auch auf die realen Rekrutierungspraktiken ein. Hierbei ist auffällig, dass die militärische Agenda des Osmanischen Reiches für die Untersuchungsperiode unberücksichtigt bleibt. Außer einer kurzen Erwähnung der Kriegszustände in Albanien (S. 219) und der Auswirkungen des Krimkriegs auf die damaligen Rekrutenaushebungen (S. 266f.) wird weder die Intensität noch die Dauer der osmanischen Kriegführung der Periode mit den Rekrutierungspraktiken in Verbindung gesetzt.

Die Haltung und die Außenpolitik der anderen Staaten – sowohl der Verbündeten als auch der Gegner – bezüglich der osmanischen Militärreformen böte mit Sicherheit eine weitere ergänzende Perspektive. Insbesondere auf der Diskussionsebene hatten Interessen der anderen Mächte sehr wohl Einfluss auf die osmanischen Entscheidungen. In diesem Zusammenhang sind die Berichte des britischen Konsuls Blunt in Saloniki sehr wertvoll, wie Heinzelmann in seiner Einleitung selber erwähnt (S. 23). Man hofft auf eine ausführlichere Ausarbeitung dieses Aspekts. Jedoch ist es verständlich, dass Heinzelmann seinen Schwerpunkt auf die reichsinterne Diskussion setzt und sich auf seine intensive Recherche in den osmanischen Archiven stützt. Tobias Heinzelmann hat so eine aufschlussreiche, kritische Studie über die Militärreformen des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert vorgelegt, welche Klarheit über einige umstrittene Themen der Forschung für diese Periode schafft.

Anmerkungen:
1 Fahmy, Khaled, All the Pasha’s Men. Mehmed Ali, his army and the making of modern Egypt, Cambridge 1997.
2 Die grundlegende Studie über die Einführung der allgemeinen Militärpflicht für die Regionen Nahost und Zentralasien ist: Zürcher, Erik J., Arming the State. Military Conscription in the Middle East and Central Asia 1775-1925, London 1999.

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