R. Deines: Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias

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Titel
Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5, 13-20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie


Autor(en)
Deines, Roland
Reihe
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 177
Erschienen
Tübingen 2005: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
746 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Metzger, Evangelisch-Theologische Fakultät, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Roland Deines legt mit seiner Tübinger Habilitationsschrift "Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias" eine nach eigener Auskunft "weitschweifige" (S. 640) Untersuchung zu einem Schlüsseltext des Matthäusevangelium vor. Auf 654 Seiten untersucht er die Verse Mt 5,13-20 im Hinblick auf den Standpunkt des Evangelisten zur Frage nach der Bedeutung von Gesetz und Gerechtigkeit für die matthäische Gemeinde. Diese Fragestellung profiliert er in der Einleitung in theologischer Hinsicht unter dem Stichwort "Werkgerechtigkeit" als neuralgischen Punkt des Protestantismus. Die historische Fragestellung des Themas sieht er der Exegese vor allem in der Frage nach einem angeblichen Antijudaismus im Matthäusevangelium aufgetragen. Da beide Fragen von einer bestimmten Wirkabsicht des Evangelisten ausgehen und diese zu erheben suchen, provozieren sie eine Auseinandersetzung mit in der Exegese in den letzten Jahren aufgekommenen Methoden, den Textsinn abgelöst vom Autor und dessen historischer Situation und Absicht zu betrachten. Zwar billigt Deines der Methodik des so genannten "literary" bzw. "narrative critisicm" einen gewissen Erkenntnisgewinn zu, lehnt sie jedoch für die Evangeliumsauslegung als unzureichend ab, da sie den besonderen Charakter der Texte als vor allem gehörte Predigten (S. 88) verkennen. Deshalb ist das Selbstverständnis der Texte zu beachten, die "als erzählte Aufforderungen und Anleitungen" (S. 76) verstanden werden müssen und ihren Rezipienten ermöglichen wollen, dem in ihnen erzählten göttlichen Geschehen zu entsprechen. Für die Evangelien heißt dies konkret, dass sie als eine "Botschaft" gelesen werden müssen, "die ihren Ursprung [...] in Gott hat und darum dringlich ist" (S. 90). Darum darf ein Evangelium nicht primär "als Literatur [...], sondern - wenn überhaupt - als 'Sachbuch' [gelesen werden], das in der realen Welt den Weg zur nicht minder real gedachten ewigen Welt Gottes nicht nur weist, sondern eröffnet" (S. 90).

Nachdem Deines also seinen methodischen Standpunkt vor allem in Auseinandersetzung mit D.B. Howell und M. Mayordomo-Marin klar gemacht und in diesem Zuge auch die Rezipienten des Evangeliums mit "Gemeindeleiter[n] und Schriftgelehrte[n]" (S. 92) identifiziert sowie das Werk an sich auf einen Apostel zurückgeführt (S. 653) hat, beginnt er den ersten Teil seiner Untersuchung mit einem Überblick über die Rede von der Königsherrschaft Gottes, die er als theologischen Leitfaden des Evangeliums ansieht. Diese bricht bereits im Wirken Johannes' des Täufers an und vollendet sich endgültig im Gericht Gottes, das nach Deines in drei verschiedene Akte gegliedert werden muss: Von einer Spaltung innerhalb der Gemeinde, die scheidet zwischen denen, die innerhalb des "Strahlfeldes der Basileia" (S. 116) lebten, und denen, die es nicht tun, müsse zunächst das Gericht über Israel und schließlich das über die Völker unterschieden werden. Aufgrund dieser Unterscheidung der Gerichtsaspekte folgert Deines, dass es Matthäus bei den Gerichtsgleichnissen und -reden nicht darum geht, eine "zukünftige Aussonderung [innerhalb der Gemeinde] als unveränderliches Schicksal zu predigen, sondern auf die gegenwärtige Haltung der Gemeinde einzuwirken" (S. 120). Zusammen mit der Feststellung, dass die von Israel erhoffte Erfüllung der Tora exklusiv durch Christus geschehen sei und den Jüngern damit nichts mehr an Werken des Gesetzes abverlangt werde, gewinnt er eine grundlegende Sicht des gesamten Evangeliums, das die zu interpretierenden Verse nachhaltig beeinflusst: Die Bergpredigt wird zu einer Unterweisung für die Jünger, die die Gebote der Tora nicht mehr zu erfüllen brauchen, es aber als Verkünder der Gerechtigkeit Christi anderen ermöglichen können, in die Königsherrschaft Gottes einzugehen (S. 180). Damit steht ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung bereits fest: Die Tora "ist als eigenständige Größe, gar als Weg oder Mittel zur Gerechtigkeit, funktionslos geworden, weil auch sie erfüllt ist [...] Die dienende Funktion der Tora [...] als Wegweiser zur Gerechtigkeit [...] ist auf die Jünger [...] übergegangen" (S. 256), sie "hat keine eigene Funktion neben dem Gebot Jesu mehr" (S. 648). Da wo das Alte Testament die Beziehung zwischen Gerechtigkeit, Tora und Messias entweder nicht klärt oder wo die Tora "dem Messias seine Aufgabe zuweist", tritt Matthäus seiner Tradition in der Weise entgegen, dass er den Messias als ausschlaggebend für das Verständnis der Tora ansieht (S. 643).

Inhaltlich bleibt die Tora "in der Weise [...], wie sie Jesus gelehrt hat" (S. 366), für die Jünger verpflichtend: also mit einem deutlichen Akzent auf den ethischen Geboten. Dieser Jesus-Tora, der Tora im Reich des Messias, sollen die Jünger gehorsam bleiben, allerdings nicht, um sich damit ihr Heil verdienen zu können, sondern um sich auszuweisen (S. 369f.). Was dies konkret bedeutet, bleibt ebenso unklar wie die Auskunft, dass die Jünger "in" ihrem "Tun", "Anteil gewinn[en] an der Vollkommenheit des himmlischen Vaters" (S. 429), die wiederum "ein bestimmtes Verhalten" (S. 430) beinhaltet, das aber nicht eine Konditionierung des Heils darstellt. Diese Überzeugung drückt auch die fragwürdige Paraphrase von Mt 5,20 aus: "Wenn eure Gerechtigkeit keinen 'eschatologischen Mehrwert' gegenüber der der Schriftgelehrten und Pharisäern besäße (was sie aber hat), dann würdet ihr unmöglich in die Königsherrschaft der Himmel hineingelangen (zu der ihr aber schon gehört)" (S. 429). Wie ist dann aber zu verstehen, dass die Gerechtigkeit der Jünger getan werden muss (vgl. S. 644, 647)? Insgesamt wird die matthäische Paränese als eine "missionarisch ausgerichtete [...] Jüngerethik" (S. 645) zur Sprache gebracht wird 1, die laut Deines offensichtlich auf den historischen Jesus zurückgeführt werden kann (S. 363).

Die Untersuchung ist in ihrer philologischen Gründlichkeit und in ihrem weiten Blick für traditionsgeschichtliche Zusammenhänge, der der Interpretation zu Grunde liegt, vorbildlich verfasst. Es ist wenig sinnvoll, bei einem solchen Werk kleinere Versehen wie die gelegentlich unvollständige Verzeichnung einiger Titel im Literaturverzeichnis (z.B. R. Riesner) zu notieren. Allerdings kann der Arbeit ein antiquierter Habitus nicht abgesprochen werden, der die Lektüre zuweilen durchaus stören kann. So ist das Verb "herolden" (S. 255) genauso veraltet wie die Mahnung, die zu Beginn der Zusammenfassung an den eiligen Leser gerichtet wird (S. 639) und m.E. in einer solchen Untersuchung genauso wenig zu suchen hat wie die rhetorische Frage auf S. 651: "Hätte Jesus so etwas gesagt?"

Wichtiger dürfte die inhaltliche Auseinandersetzung mit Deines These sein. Zu fragen ist neben den bereits erwähnten Punkten insbesondere nach der Bedeutung des Gerichts für das Verständnis der Bergpredigt und der matthäischen Soteriologie. Dass das Gericht, von dem in Mt 25f deutlich die Rede ist, nicht die Gemeinde umgreift, wird am Text nicht ersichtlich. Außerdem liegt ein Widerspruch vor, wenn Deines einerseits behauptet, die Gemeinde werde nicht gerichtet, sondern könne sich ihres Heils sicher sein (S. 430f.), und andererseits doch von einer inneren Scheidung spricht (S. 116). Sicherlich ist seine durchgängige Betonung richtig, dass sich die Jünger ihr Heil nicht durch Toraobservanz selbst ermöglichen können (S. 430), doch ist zu fragen, wie sich der Mensch sein Heil selbst verderben kann (S. 431), wenn damit seine Heilsgewissheit nicht auf dem Spiel steht, wenn also von einer "sekundäre[n] Konditionierung des Heils" nicht gesprochen werden soll.2 So enthebt auch diese Untersuchung nicht der Aufgabe, das Verhältnis von Heilszusage und Imperativ im Matthäusevangelium theologisch zu reflektieren und mit dem paulinischen Verständnis der Soteriologie zu konfrontieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. Luz, U., Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/1), Zürich 1997, S. 190.
2 Landmesser, C., Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9-13 (WUNT 133), Tübingen 2001, S. 155 (u.ö.).

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