J. Requate (Hg.): Recht und Justiz im gesellschaftlichen Aufbruch

Cover
Titel
Recht und Justiz im gesellschaftlichen Aufbruch (1960-1975). Bundesrepublik Deutschland, Italien und Frankreich im Vergleich


Herausgeber
Requate, Jörg
Reihe
Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 28
Erschienen
Baden-Baden 2003: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz-Werner Kersting, Westfälisches Institut für Regionalgeschichte, Münster

Die bundesdeutsche „juristische Zeitgeschichte“ beschäftigte sich bisher schwerpunktmäßig mit dem Rechts- und Justizsystem der beiden deutschen Diktaturen und dem Umgang ihrer Nachfolgegesellschaften mit dieser Vergangenheit. Das bekannteste Beispiel für die enge Verknüpfung beider Problemfelder bildet die Geschichte und Analyse der „Braunbuch-Kampagne“ der DDR Mitte der 1960er-Jahre, deren Vorläufer bis zu ersten Broschüren seit 1956 zurückreichten (z.B. Mai 1957: „Gestern Hitlers Blutrichter – heute Bonner Justizelite“, S. 109).

Dieser Fokus erfährt durch den vorliegenden, interdisziplinär besetzten Sammelband eine beträchtliche Ausweitung. Das Buch geht auf eine von dem Herausgeber Jörg Requate gemeinsam mit Heinz-Gerhard Haupt im Frühjahr 2000 am „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ der Universität Bielefeld geleitete Tagung zurück. Zwar bildet der Fragenkreis „Justiz und Vergangenheit“ in Deutschland (S. 93ff.) mit Beiträgen von Friedrich Dencker, Hans-Eckhard Niermann, Matthias Meusch und Michele Luminati auch hier einen deutlichen thematischen Schwerpunkt (Sektion II), zumal als Vergleichsfall ‚nur’ der Streit der italienischen Richterschaft über die eigene Vergangenheit beschrieben wird. Aber diese international vergleichende Perspektive, die in allen anderen Sektionen des Bandes durch die Einbeziehung auch Frankreichs noch ‚europäischer’ angelegt ist, war in der juristischen Zeitgeschichte bislang eben keineswegs selbstverständlich. Mit der Ausweitung des methodischen Ansatzes verbindet sich zugleich eine neue thematische Breite: Das Gesamtverhältnis von Recht, Justiz und Gesellschaft in den behandelten westeuropäischen Ländern Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien während der Auf- und Umbruchphase der 1960er und frühen 1970er-Jahre tritt in den Vordergrund.

Der Band beginnt mit einer eher allgemeinen Sektion „Gesellschaften im Aufbruch“ (S. 33ff.). Dort beleuchten Klaus Weinhauer, Michelle Zancarini-Fournel und Umberto Gentiloni mit jeweils ganz unterschiedlicher Akzentsetzung für alle drei Länder die ungewöhnliche gesellschaftliche Dynamik des Untersuchungszeitraums. Ein rasanter Aufschwung von Wirtschaft und Konsum sowie der Beginn eines beschleunigten (generationellen) Wandels von Mentalitäten, Moralvorstellungen und Lebensstilen fielen mit deutlichen Verschiebungen in den politischen Regierungskonstellationen zusammen. In der Bundesrepublik kam es 1966/69 zunächst zur Großen, dann zur sozial-liberalen Koalition; in Italien waren seit 1963 erstmals die Sozialisten an der Regierung beteiligt (Mitte-Links-Koalition); und Frankreich hatte unter de Gaulle schon 1958 nicht nur einen Regierungs-, sondern einen Verfassungs- und Systemwechsel erlebt. Gleichzeitig waren auch die Gestaltungskonzepte der Politik im Wandel begriffen (mehr „Technokratie“ als „Ideologie“). In Gesellschaft und Politik wurde der Ruf nach Modernisierung, Demokratisierung und Reform immer lauter, brachte aber gleichzeitig angesichts divergierender Vorstellungen über Form und Reichweite der notwendigen Veränderungen auch neuartige Spannungs- und Konfliktfelder hervor. Besonders deutlich manifestierten sich diese schließlich in der länderübergreifenden 68er-Bewegung, im „Heißen Herbst“ der italienischen Arbeiter von 1969 sowie in der Herausforderung von Staat und Gesellschaft durch den internationalen Linksterrorismus der 1970er-Jahre („Rote Armee Fraktion“, „Brigate Rosse“).

Die Sektionen III bis V fragen nach der spezifischen Rolle von Recht und Justiz in der damaligen Auf- und Umbruchphase. Dabei zeigen Jörg Requate, Elisabeth Bokelmann und Herbert Reiter die „Justiz im Prozess der Demokratisierung“ (S. 165ff.), gefolgt von Gerd Bender, François Gaudu und Aldo Mazzacane, die gemeinsam das Feld des „Arbeitsrechts“ ausleuchten (S. 221ff.). Der letzte Abschnitt umfasst Beiträge von Petra Gödecke, Hendrik Schneider, Jean-François Chassaing und Michele Papa zum Themenfeld „Strafrecht und Kriminologie“ (S. 261ff.).

Wird also in allen Sektionen (mit der oben erwähnten Ausnahme) jeweils für Deutschland, Italien und Frankreich eine gemeinsame Fragestellung verfolgt, so sind die Einzelbeiträge in sich jedoch nicht vergleichend angelegt. Ferner wird der Zeitraum 1960-1975 zumindest teilweise mehr oder weniger weit nach vorne und/oder hinten überschritten. Vor allem aber differieren die Beiträge deutlich hinsichtlich ihrer methodischen, empirischen und argumentativen Qualität und ihres systematischen Bezugs auf den übergeordneten Fokus des Sammelbandes. Zudem gibt es mehr ‚juristisch’ und mehr ‚sozialhistorisch’ angelegte Aufsätze. In dieser Situation erweist sich die instruktive und ausführliche Einleitung des Herausgebers (S. 9ff.) als äußerst hilfreich. Es gelingt ihm, die unterschiedlichen Zugriffe und Befunde in einer transnational vergleichenden „Vogelperspektive“ (S. 9) zusammenzuführen, die gewisse Gemeinsamkeiten der zeitgenössischen Gesellschafts-, Rechts- und Justizentwicklungen herausarbeitet, ohne die gleichzeitig (fort-)bestehenden nationalen Unterschiede zu vernachlässigen. Ohne diese Leistung Requates wäre es um die inhaltliche Kohärenz des Sammelbandes schlechter bestellt. Dagegen wurden zahlreiche kleine sprachlich-formale Unsauberkeiten leider nicht ‚ausgebügelt’: Hierzu gehören einfache Tippfehler (z.B. S. 10ff.), unvollständige und/oder unverständliche Sätze (z.B. S. 108, 112, 136f., 257, 304, Anm. 41), begriffliche Mängel (wie „Veten“ [statt „Vetos“], S. 86; „spitzige Spannungen“, S. 259; „im dritten Reich“, S. 93, Anm. 1) sowie falsche Fußnotenzählungen (S. 159ff.).

Zwar sprechen weder Requate noch die anderen AutorInnen explizit von einer ‚Vergesellschaftung’ des juristischen Metiers in den ‚langen’ 1960er-Jahren. Doch scheint mir der Begriff durchaus für eine knappe Bündelung einiger signifikanter Grundzüge der damaligen Entwicklung von Recht und Justiz geeignet. So erlebten alle drei Länder eine gleichermaßen reform- wie konfliktreiche Öffnung dieses Normen- und Handlungsfeldes hin zur Gesamtgesellschaft. Die ‚Relevanz’ (straf-)rechtlicher Normen und richterlicher Entscheidungen für gesellschaftliche Beharrung und Veränderung, für soziale Benachteiligung („Klassenjustiz“) und bürgerrechtliche Besserstellung wurde ‚entdeckt’ und zum Gegenstand heftiger Debatten nicht nur in der juristischen Fachöffentlichkeit. Vertreter der (vormals) „stillen Gewalt“ traten jetzt als „Experten des sozialen Lebens“ (S. 213) oder gar als „rote Richter“ (u.a. S. 195) in Erscheinung.

Aber auch die Kriminalität selbst wurde ‚vergesellschaftet’: durch die stärkere Betonung der gesellschaftlichen Ursachen und „Etikettierungen“ von Delinquenz („labeling approach“); den allmählichen Paradigmenwechsel vom Schuld- und Vergeltungsgedanken zur „Resozialisierung“; den parallelen rasanten Einzug der Sozialwissenschaften in den Rechtsbereich (Rechts- und Kriminalsoziologie); und durch die verstärkte gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die „totalen Institutionen“ (Goffman, Foucault) und „Randgruppen“ eines Gemeinwesens. Dies schloss die Praxis und Reform des Strafvollzugs mit ein. Ein weiterer Grundtrend lag schließlich in der zunehmenden rechtlichen Regulierung von Konflikten jenseits des engeren juristischen Bereichs, was am Beispiel der Ausweitung der Arbeitnehmerrechte im Spannungsfeld von Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Unternehmen, Politik und Rechtsprechung herausgearbeitet wird.

Bei all dem erwies sich die „Hochwassermarke ’68“ (Wilhelm Damberg) auch im Rechts- und Justizwesen als eine ambivalente Zäsur: Einerseits verlieh erst sie dem zum Teil schon lange vorher einsetzenden Trend der Vergesellschaftung und inneren Demokratisierung seine eigentliche Dynamik und Breite. Andererseits tat sie dies um den ‚Preis’ einer bis dahin nicht gekannten Politisierung und Polarisierung, die unter Richtern und Anwälten ebenfalls persönliche Wunden schlug, zu politisch-ideologischen Fraktionierungen, Verhärtungen oder Positionswechseln führte und liberale Haltungen teilweise auch wieder zurückwarf. Das Problem angemessener liberal-rechtsstaatlicher Standards und Handlungsmuster stellte sich dann in den frühen 1970er-Jahren erneut – vor allem in der Bundesrepublik und Italien – mit der Herausforderung von Staat und Gesellschaft durch die linksterroristische Gewalt. Die entsprechende Verschärfung des Strafrechts und der Strafprozessordnung wird für Italien am Beispiel der dortigen „Sondergesetzgebung zur Bekämpfung der politischen Kriminalität“ zumindest knapp behandelt (Papa, S. 319ff.), während der diesbezügliche westdeutsche Diskurs („Innere Sicherheit“, Paragraf 129a StGB, „Radikalenerlass“ etc.) eindeutig zu kurz kommt. Allerdings hat die Forschung mit einer Historisierung des Linksterrorismus der 1970er-Jahre gerade erst begonnen.

Der Band macht nicht nur auf diese Forschungslücke auch der juristischen Zeitgeschichte aufmerksam. Zwei weitere Desiderate seien kurz genannt: Einmal stehen der Diskurs der Experten aus Justiz, Wissenschaft und Politik sowie die rechtsrelevanten Gesetzesinitiativen und -texte im Vordergrund. Wie aber wirkte sich deren ‚Anwendung’ konkret im Alltag von Gerichten, Gefängnissen, Angeklagten, Opfern, Hilfesuchenden und Randgruppen aus? Wie tief ging der Liberalisierungsschub? Wo stieß er an lebensweltliche Grenzen oder brachte selbst neue Problemlagen hervor? Ferner wäre sicher auch die transnationale Dimension des Themas noch zu vertiefen. So erscheint die Erweiterung des Ländervergleichs durch Perspektiven und Fragen der neueren Methodendiskussion über kulturelle „Transfers“, „Beziehungen“ und „Verflechtungen“ wünschenswert. In welchem Umfang und vor allem auf welchem Wege beeinflussten transnationale Ereignisse und Rezeptionsprozesse die nationalen Rechts- und Justizsysteme? Für den Einfluss von ’68 werden bereits viele weiterführende Hinweise gegeben. Gleiches gilt für das Beispiel der Rückwirkung speziell der US-amerikanischen Kriminalsoziologie auf den zeitgenössischen Fachdiskurs (bes. Schneider, S. 275ff.).

Mit seiner methodischen, perspektivischen und inhaltlichen Breite setzt der Sammelband neue innovative Akzente. Es ist zu hoffen, dass sie als Impuls und Maßstab künftiger Forschungen auf dem Feld der juristischen Zeitgeschichte, aber auch der Gesellschaftsgeschichte rezipiert werden.

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