J. Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie

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Titel
Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB


Autor(en)
Angster, Julia
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 13
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
538 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Paulmann, School of Humanities and Social Sciences, International University Bremen

Julia Angster erläutert in ihrer beeindruckenden Studie den Wandel im politischen Denken von SPD und Gewerkschaften, der in den 1940er-Jahren begann und 1959 mit dem Godesberger Programm der Partei bzw. 1963 im Düsseldorfer Programm des DGB einen programmatischen Abschluss fand. An die Stelle von klassenkämpferischen Kategorien traten allmählich andere Vorstellungen zur Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Diese umfassten die Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom Staat, die weitgehende Akzeptanz der Marktwirtschaft, die Bereitschaft, mit Arbeitgebern und Staat Kompromisse zu verhandeln, die Anerkennung von Pluralismus und das Eintreten für das parlamentarische Regierungssystem. Angster stellte die fundamentalen Neuorientierungen der Sozialdemokratie in den Zusammenhang einer ideellen Westernisierung in der Bundesrepublik. Sie setzt sich damit ab von Konzepten der Amerikanisierung, obgleich die Initiative amerikanischer Gewerkschafter in dem geschilderten Prozess eine wichtige Rolle spielte und von der Autorin ausführlich analysiert werden.

Westernisierung beruhte nicht auf dem einseitigen Einfluss einer westlichen Führungsmacht. Sie setzte vielmehr auf deutscher Seite die Bereitschaft zur Aufnahme von solchen Ideen voraus, die vor dem Hintergrund und unter Weiterentwicklung eigener Traditionen verwertbar erschienen. Ferner waren die Umstände der wirtschaftlichen und innenpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik – nicht zuletzt das wirtschaftliche Wachstum und die wiederholten Wahlniederlagen der Sozialdemokratie – für die Akzeptanz fremder Konzepte von entscheidender Bedeutung. Eine dementsprechende verstärkte Orientierung der sozialdemokratischen Führung in Westdeutschland erfuhr schließlich auch durch den Ost-West-Konflikt einen nicht zu vernachlässigenden antikommunistischen Impuls.

Angsters Studie ist keine traditionelle Ideengeschichte anhand programmatischer Manifeste und Debatten, sondern untersucht die ideellen Veränderungen als konkrete Prozesse in politischen und sozialen Zusammenhängen. Die Mechanismen internationalen Ideentransfers stehen dabei im Vordergrund und werden eingehend betrachtet. Im ersten Kapitel erläutert Angster die Ausgangslage, indem sie Gesellschaftsbild und Politikverständnis der deutschen und amerikanischen Arbeiterbewegung jeweils getrennt vorstellt. Der argumentative Schwerpunkt liegt auf der Herausbildung eines „Konsensliberalismus“ in den USA, der dort die Innen- und Außenpolitik der 1950er und 1960er-Jahre dominieren sollte. New Deal und vor allem die Kriegswirtschaft banden auch die amerikanischen Gewerkschaften in die damit einhergehenden Konzepte und Praktiken ein. Für das Engagement der American Federation of Labor (AFL) und des Congress of Industrial Organizations (CIO) besonders wichtig war dabei der liberale Internationalismus als ein wesentliches Element. Er gab in einer Mischung aus Eigeninteresse und Selbstbewusstsein den inneren Anstoß zum Engagement im Nachkriegseuropa.

Im zweiten Kapitel behandelt Angster die „Außenpolitik“ der amerikanischen Gewerkschaften. Sie beschreibt neben den Zielen die Institutionen der AFL und des CIO, die quasi Botschaften in Europa mit Ablegern auch in Deutschland einrichteten. Ferner stützten die Arbeiterorganisationen sich auf die internationalen Gewerkschaftsbewegungen. Schließlich arbeiteten ihre Vertreter mit verschiedenen Regierungsbehörden – vom State Departement über OMGUS bis hin zur CIA – offen und verdeckt zusammen. Die Autorin vertritt hier in überzeugender Weise ein breites Verständnis von Außenpolitik, das halbamtliche, nichtstaatliche Akteure und Handlungsfelder jenseits diplomatischer Beziehungen einschließt. Dies erfordert andere Kategorien zur Analyse von Beziehungen. Zentral für Angster sind Netzwerke, d.h. informelle Verbindungen zwischen Angehörigen verschiedener Eliten, die länderübergreifend und langfristig zusammenarbeiteten. Geprägt waren sie durch ein gemeinsames Anliegen, weniger durch kurzfristige Eigeninteressen, so dass sie auch aufkommende Auseinandersetzungen in der Sache überdauern konnten, weil sie auf einem Fundament gemeinsamer Überzeugungen und Ziele beruhten.

Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Aufbau des deutsch-amerikanischen Netzwerks zwischen 1945 und 1953. Angster identifiziert seine Wurzeln im Exil. Daher widmet sich auch das vierte Kapitel – zeitlich zurückgreifend – eingehend der Gruppe von Exilanten, die für die Beziehungen zwischen den Arbeiterbewegungen nach dem Weltkrieg wichtig wurden. Hier wird der Wertewandel vor dem Hintergrund des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und den Erfahrungen des Exils erklärt und der Weg der Remigranten in die SPD geschildert. Der zentrale Knotenpunkt für die verschiedenen Personen, die fast alle aus sozialistischen Splittergruppen der Weimarer Zeit herkamen, war Großbritannien. Dort näherten sich die Positionen an, so dass Angster von einer Art „Wiedervereinigung“ der nichtkommunistischen Arbeiterbewegung spricht. In diesem Abschnitt leistet die Studie einen wertvollen Beitrag zu Geschichte des Exils und der Remigration. Die Erfahrungen im westlichen Ausland führten zu Veränderungen von Werten und Einstellungen, brachten neue Kenntnisse und veränderte Verhaltensweisen, ohne dass die künftigen Reformer die westlichen Modelle unverändert übernahmen. Häufig wurde ihnen selbst die Veränderung in ihren Einstellungen zu Wirtschaft, Gesellschaft und Staat erst richtig bewusst, wenn sie am Kriegsende mit den in Deutschland verbliebenen Mitgliedern der Arbeiterbewegung zusammentrafen – eine im Übrigen keineswegs konfliktfreie und wohlwollende Begegnung.

Die Arbeitsweise und Struktur des Netzwerkes in den Jahren 1952-57, als die Reformer in SPD und Gewerkschaften sich zu rühren begannen, behandelt Angster in Kapitel V. Die Interaktion beider Seiten, der amerikanischen und der deutschen, werden erläutert und die konkreten Ergebnisse, d.h. die Programme von 1959 und 1963, sodann in Kapitel VI vorgestellt. Das Netzwerk begann um 1960 zu zerfallen. Hauptursache war Angster zufolge sein Erfolg: In der programmatischen Erneuerung manifestierte sich der Wertewandel in der westdeutschen Arbeiterbewegung. Reformer in Deutschland und amerikanische „Geburtshelfer“ hatten ihr Ziel erreicht. Die organisierten Arbeiter waren nun in eine transnationale Werteordnung integriert, die auf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, Wachstum als Lösungsmittel für soziale und politische Spannungen und der parlamentarischen Demokratie beruhte. Dieser fundamentale Erfolg ließ nun allerdings die Eigeninteressen amerikanischer und westdeutscher Arbeiterorganisationen wieder stärker hervortreten. Entspannungs- und Deutschlandpolitik sowie außerparlamentarische Protestbewegungen riefen unterschiedliche Reaktionen auf beiden Seiten des Atlantiks hervor. Die formellen Beziehungen wurden abgebrochen, in den informellen Netzwerken verstummte die Kommunikation und die Verbindungen mit der SPD wurden 1963 und mit dem DGB 1973 gekappt.

Die Studie von Julia Angster ist ein gutes Beispiel dafür, wie politische Ideengeschichte in eine transnationale Gesellschaftsgeschichte eingebettet werden kann. Sie leistet auf diesem Feld für die Geschichte der westdeutschen Arbeiterbewegung einen wertvollen, substanziellen Beitrag. Zugleich belegt das Buch den großen Aufwand, der notwendig ist, um Netzwerke zu rekonstruieren und ihre Arbeitsweise zu erklären. Verstreute Quellen in Nachlässen, darstellerische Herausforderungen und Probleme des Abwägens individueller, struktureller und entwicklungsgeschichtlicher Faktoren bereiten besondere Schwierigkeiten. Julia Angster hat sie überzeugend gemeistert.

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