G. Guttenberger: Die Gottesvorstellung im Markusevangelium

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Titel
Die Gottesvorstellung im Markusevangelium.


Autor(en)
Guttenberger, Gudrun
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 123
Erschienen
Berlin 2004: de Gruyter
Anzahl Seiten
IX, 477 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Omerzu, Evangelisch-Theologische Fakultät, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Untersuchungen zur Gottesfrage bzw. zu Gottesvorstellungen im Neuen Testament stellen trotz der sich fast explosionsartig vermehrenden Zahl exegetischer Studien nach wie vor ein Desiderat dar. Gudrun Guttenberger, Professorin für Biblische Theologie und Religionspädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Hannover, führt dies darauf zurück, dass die Gottesvorstellung vielen als "(vermeintlich) selbstverständliche Größe" (S. 5) erscheint. Die Klammer zeigt bereits den Einspruch an, den Guttenberger gegen diese Einschätzung anmeldet, und die sie mit ihrer kenntnisreichen und anregenden Studie zur Gottesvorstellung im Markusevangelium als unsachgemäß widerlegen möchte. Dabei erhebt sie den Anspruch, eine Gesamtinterpretation des ältesten Evangeliums vorzulegen, "nicht nur Studien zu einem seiner Themen" (S. 3). Sie tut dies mit dezidiert theologischer Ausrichtung, insofern sie die Frage nach der Gottesvorstellung im Markusevangelium "als einen - in seiner Fremdheit und historischen Ferne wahrzunehmenden und zu respektierenden - Beitrag für das Nachdenken über die Frage nach einer Lebensgewinn verheißenden Interpretation einer letzten Wirklichkeit versteht und ins Gespräch" (S. 4) bringen möchte. Mit dem Begriff Gottesvorstellung grenzt sie sich von einem philosophischen oder dogmatischen Gottesbegriff ebenso ab wie vom "unbiblischen" Ausdruck Gottesbild (S. 4).

In der Einleitung (S. 1-48) verortet Guttenberger den Untersuchungsgegenstand zunächst forschungsgeschichtlich im Spannungsfeld von Monotheismus und Ausbildung der Christologie und begründet sodann die eigene methodische Herangehensweise. Wie etliche neuere Arbeiten 1 zum Markusevangelium verbindet sie diachrone redaktionskritische Analysen mit synchronen narrativen Methodenelementen, d.h. der Gesamttext des Evangeliums wird als Erzählung wahrgenommen und gewürdigt. Dabei distanziert sich Guttenberger bewusst von narrativ kritischen Lektürekonzepten eines impliziten Autors oder Lesenden und fragt allein nach der Aussageabsicht des realen Verfassers des Markusevangeliums und dem Verständnis der historischen (Erst-)Rezipienten (S. 36-38).

Die Auswahl der untersuchten Texte und damit auch die Gliederung des Hauptteils der Arbeit sind einerseits an den Bezeichnungen und Funktionen Gottes innerhalb der Erzählung (Kap. 2-4), andererseits an systematischen und religionswissenschaftlichen Kategorien orientiert (Transzendenz/Immanenz, Monotheismus/Christologie, Partikularismus/Universalismus, Gut/Böse, Funktion Gottes als Herrscher und/oder Retter, Monismus/Dualismus; Kap. 5-6).

Das Handeln Gottes in der Geschichte (Kap. 2, S. 49-116) wird zunächst grundsätzlich anhand des Evangelienanfangs und der "synoptischen Apokalypse" (Mk 13) untersucht, sodann im Hinblick auf die Geschichte Jesu als Sohn Gottes. Hier unterscheidet Guttenberger in der Analyse zwischen Gottes Immanenz und Präsenz auf der einen Seite, welche sich besonders in der Rolle als Vater Jesu in den Epiphanieerzählungen von der Taufe (Mk 1,9-11) und Verklärung Jesu (Mk 9,2-8) zeige, und der Distanz Gottes in der Beziehung zu Jesus auf der anderen Seite, wie sie sich aufgrund seiner Verantwortung für die Passion und die Ablehnung von dessen Botschaft (bes. Mk 4,11f) erweise. Guttenberger kommt zu dem Ergebnis, dass im Markusevangelium Gottes Transzendenz betont werde. Dabei wirke er dennoch vorherbestimmend und als Lenker der Geschichte. Die Distanz zur Welt werde in der Erzählung des Markus durchbrochen, indem Gott in Jesus wirke und durch diesen repräsentiert werde. Davon sei die Passion Jesu ausgenommen: "In Bezug auf den Leidenden handelt Gott als der Lenker der Geschichte, die Art dieses Handelns lässt sich jedoch nur via negationis qualifizieren: Er tritt nicht als Richter auf, er prüft nicht die Treue Jesu und handelt auch nicht ausdrücklich als Erlöser." (S. 333)

In der erzählten Zeit ist Gott jedoch nicht nur in Jesus, sondern auch "durch seinen Willen als Fordernder" (S. 117) präsent, also in seiner Funktion als Gesetzgeber (Kap. 3, S. 117- 182). Diesen Aspekt diskutiert Guttenberger sowohl anhand der Parabel von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-12) und der Darstellung der AnhängerInnen Jesu in Mk 3,31-35 als auch aufgrund von Streit- und Schulgesprächen, in denen Gott als Gesetzgeber erscheint. Vor allem letztere zeigten, dass Gottes Wille den Menschen durch die Auslegung Jesu vermittelt werde. Nachdrücklich werde hier die Bedeutung des ersten Gebotes betont und bekannt. Der Wille Gottes komme besonders in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen in den Blick, so dass "das Gebot der Nächstenliebe […] als der hermeneutische Schlüssel für die Gebotsauslegungen des Evangeliums verstanden werden" (S. 163) könne. Zugleich zeige sich hier eine Hochschätzung der Schöpfungsordnung, die "prinzipiell allen Menschen einsichtig ist und für alle gilt" (S. 164). Das Wirken Gottes als Gesetzgeber sei somit an sein Schöpfungshandeln zurückgebunden.

Während die Vorstellungen vom Handeln Gottes in der Geschichte und als Gesetzgeber Markus vermutlich bereits weitgehend traditionell vorgegeben waren, begegnet mit der Frage der Macht bzw. Allmacht Gottes ein Schwerpunkt seiner spezifischen Redaktion (Kap. 4, S. 183-217). Die Exegese der vom Motiv der dynamis geprägten Texte (bes. Mk 9,23; 10,27; 12,18-27; 14,36) zeige, dass positive Aussagen über die Macht Gottes im Markusevangelium stets in Zusammenhang des eschatologischen Heils und der Auferstehung erfolgten. Deshalb sei im Umkehrschluss der Verzicht Gottes auf sein allmächtiges schöpferisches - Leben schaffendes und rettendes - Handeln "gleichbedeutend mit Gottesferne und Tod" (S. 217). Diskussionswürdig erscheint mir vor allem Guttenbergers Folgerung: "Dem Unheil gibt er Raum durch seinen Rückzug und schafft dadurch Heil; das ist die soteriologische Grundaussage des Evangeliums." (S. 217) Der "Selbstwiderspruch", dass Gott der Lenker der Geschichte, Gott, den allmächtigen Retter, verdränge, indem er Jesu Bitte um Bewahrung vor dem Tod im Garten Gethsemane nicht erhöre, löse sich erst im Eschaton: "Gott, der Retter, gewährt Menschen den Zugang zum ewigen Leben, rettet sie aber nicht aus den Verfolgungen der gegenwärtigen Zeit." (S. 334)

Daran schließt sich logisch die Frage nach Gott und dem Bösen an (Kap. 5, S. 218-287), die bereits im Zusammenhang des Handelns Gottes im Rahmen der Passion und Ablehnung Jesu thematisiert wurde und nun vertieft wird. Guttenberger fragt danach, ob bzw. inwiefern das Böse im Markusevangelium auf Gott selbst, auf gegengöttliche Kräfte oder aber auf die Menschen zurückgeführt wird. Eine Rückführung des Bösen auf Gott erfolge nur "in dem für ein monotheistisches System unbedingt notwendigen Mindestmaß: Letztlich entspricht das Böse und das Leiden Jesu Gottes Plan" (S. 285). Da Markus Gott jedoch ausschließlich als gut verstehe und mit dem Leben verbinde, rücke er ihn vom Sterben Jesu ab. Er rechne zwar mit dem satanischen Einfluss des Bösen, die Macht der Dämonen sei aber mit dem Auftreten Jesu definitiv beendet. Die Demonstration der Überlegenheit Jesu über die dämonischen Mächte habe die didaktische Funktion, "die Menschen zur Einsicht in den eschatologischen Charakter der Zeit und die Würde Jesu zu führen" (S. 286). Diese Einsicht bezeichnet Guttenberger als die "anthropologische Wende" (S. 286, 334 u.ö.), die in Mk 7,24-30; 9,14-29 inszeniert werde: Für die Annahme, aber eben auch für die Ablehnung Jesu und Gottes, also letztlich für das Böse, seien die Menschen selbst verantwortlich (S. 286). Die Einsicht, dass Jesus dann, wenn er - insbesondere im Zusammenhang seiner Exorzismen sowie der Beherrschung der Chaosmächte - gegen das Böse auftritt, gottgleich bzw. göttlich dargestellt wird, leitet zum nächsten Kapitel über: zur Frage nach der Vereinbarkeit von Monotheismus und Christologie.

Die Einzigkeit Gottes und ihr Verhältnis zur Christologie (Kap. 6, S. 288-332) wird anhand der Perikopen Mk 2,1-12; 14,55-65; 13,35-37; 10,17f, in denen Jesu Verhältnis zu seinem Vater ausdrücklich thematisiert wird, untersucht und im Kontext der Messiasgeheimnistheorie interpretiert. Markus habe seine Christologie (noch) nicht als Verletzung des ersten Gebotes verstanden. Er halte an dessen fundamentaler Bedeutung für die Beziehung zwischen Gott und Mensch fest, doch seien erste Konflikte erkennbar. Markus versuche diese zu schlichten, indem er Jesus im Verhältnis zu Gott darstelle. Das Schweigegebot müsse dann als Vorsichtsmaßnahme gegen eine Verletzung des ersten Gebotes angesehen werden: "Juden dürfen den irdischen Jesus nicht Sohn Gottes nennen." (S. 331) Erst Passion und Auferstehung, erst Jesu "Unterworfensein unter Gott als Lenker der Geschichte" (S. 335) erlaube ihnen Hoheitsaussagen über Jesus. Umgekehrt bedeute für heidenchristliche Rezipienten "der Glaube an Jesus als Sohn des höchsten Gottes (Mk 5,7) und kyrios (Mk 5,20; 7,28) eine Hinführung zum Glauben an den einen Gott" (S. 332).

Zusammenfassung und Ertrag (Kap. 7, S. 333-345) orientieren sich zunächst am Gang der Untersuchung, dann an den in der Einleitung erarbeiteten systematischen Kategorien. Der Schwerpunkt der Gottesvorstellung im Markusevangelium liegt nach Guttenberger auf der Darstellung Gottes als Schöpfer und Lenker der Geschichte. Dabei betone das Markusevangelium durchweg die Transzendenz Gottes, der nicht direkt in das Weltgeschehen eingreife (S. 335), sondern erst im Eschaton als Retter handeln werde. In der Gegenwart sei er als Schöpfer nur in seiner Funktion als Gesetzgeber wirksam. Die Betonung der Transzendenz, aber auch der "Einheit und Einzigkeit" (S. 336) Gottes bedinge die Darstellung Jesu nach dem Vorbild alttestamentlich-jüdischer Mittlergestalten. Dabei sei der "innovative Anteil" (S. 338) des Markus insbesondere hinsichtlich der Verbindung des Menschensohntitels mit dem Leiden Jesu sowie im Hinblick auf das Schweigegebot gegen die Dämonen groß.

Aus ihren Beobachtungen zieht Guttenberger für die markinische Gemeinde die Schlussfolgerung: "Plausibilität für die behauptete und dargelegte Vereinbarkeit von Christologie und Monotheismus mag nur innerhalb eines christlich adaptierten jüdischen Monotheismus möglich sein für Menschen, die den Zugang zum einen Gott über den Glauben an den Gottessohn Jesus gefunden haben und deren Adaption des jüdischen Monotheismus mit einem größeren Anteil monarchianischer Elemente aus der heidnischen Tradition beziehungsweise mit der Aktualisierung des monarchianischen Potentials des jüdischen Monotheismus einherging." (S. 339) Ob man aufgrund der Gottesvorstellung tatsächlich so eindeutige Aussagen über die Identität der markinischen Gemeinde machen kann, scheint mir fraglich und müsste durch eingehendere Untersuchungen "monotheistisch ausgerichtet[er]" (S. 31) paganer Strömungen abgestützt bzw. in einen weiteren relgionsgeschichtlichen Kontext eingebunden werden.

Wichtiger ist der zweite wesentliche Ertrag der Arbeit, nämlich der "Beitrag des Markusevangeliums auf die Frage nach Gott" (S. 343). Die Überwindung des Bösen und des Leids ereigne sich in der Erzählung des Markus nicht in apokalyptischer Tradition durch die Vernichtung einer außerhalb von Gott stehenden Macht, sondern "durch eine Form der Integration". Dabei werde zwar die "unberechenbare und unverständliche Seite der Wirklichkeit und der Herrschaft Gottes" dargestellt, indem Menschen für den Tod Jesu verantwortlich und die Jünger in der Krise schwach sind. Doch der "Heilsplan Gottes umgreift und überwindet sowohl den dunklen Aspekt des göttlichen Wesens als auch die Bosheit und Schwäche der Menschen: Jesus wird auferweckt und die Jünger werden gesammelt werden". Der Heilsplan Gottes sei allerdings in der Gegenwart - der erzählten Welt wie derjenigen der Lesenden! - nicht evident, sondern seine Kraft erweise sich erst im Eschaton. "Erst dann ist Gott als der einzig und ausschließlich Gute und Spender des Lebens erfahrbar." In der Zwischenzeit diene der Weg Jesu als Vorbild für den Glauben an die Güte Gottes, "obwohl dieser sich verbirgt", und für die "Bereitschaft, das Leiden zu ertragen, obwohl es mit Verlassenheit und Verzweiflung einhergeht" (S. 344).

Diese Deutung wird sicher nicht unwidersprochen bleiben, zumal sie nicht frei von Spannungen ist. So wäre noch klarer zu zeigen, woher die Gewissheit stammt, dass es einen göttlichen Heilsplan gibt, der seiner Erfüllung im Eschaton zueilt, wenn dieser gegenwärtig gar nicht offenbar ist. Wird Gott nicht vielleicht insgesamt zu transzendent vorgestellt? Auch müssen die Ergebnisse hinsichtlich ihrer christologischen und soteriologischen Implikationen hinterfragt werden: Soll Christus z.B. wirklich lediglich als Vorbild des Glaubens und der Bewährung im Leiden verstanden werden (vgl. Mk 10,45)? Worin besteht für Markus das Heil? Doch eine Erörterung dieser Anfragen sei der weiteren Fachdiskussion vorbehalten, die dieses Buch hoffentlich anregen wird, das damit auch das Thema der Gottesvorstellung bzw. des Monotheismus im Neuen Testament aus seinem Schattendasein hervorholen dürfte. Davon abgesehen, dass es Guttenberger in anregender Weise gelingt, ihre Einzelexegesen einer umfassenden theologischen Deutung zuzuführen, enthält die Arbeit eine Fülle von kenntnisreichen religions-, zeit- und sozialgeschichtlichen Erörterungen, die in langen Anmerkungen, etlichen Petitpassagen und Exkursen dargeboten werden. Die Lektüre dieser Untersuchung ist daher in jeder Hinsicht ein Gewinn.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Breytenbach, Cilliers, Nachfolge und Zukunftserwartung nach Markus. Eine methodenkritische Studie (AThANT 71), Zürich 1984; Lührmann, Dieter, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987; Müller, Peter, "Wer ist dieser? ". Jesus im Markusevangelium (BThSt 27), Neukirchen-Vluyn 1995; Klauck, Hans-Josef, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog (BThSt 32), Neukirchen-Vluyn 1997.

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