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Titel
Frieden oder Pazifismus?. Arbeiten zum Völkerrecht und zur Internationalen Politik 1924-1978


Autor(en)
Schmitt, Carl
Herausgeber
Maschke, Günter
Erschienen
Anzahl Seiten
XXX, 1.010 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Wie schwer wiegt der Frieden? 1.010 Seiten, drei Pfund, 1.500 Gramm? Das jedenfalls wirft Maschkes Edition in die Waagschale. Wer von ihr lediglich einen praktischen Zugriff auf wichtige, entlegene oder bisher unbekannte Texte Schmitts erwartete, könnte enttäuscht sein. Maschke bietet weniger und mehr. Er packt nicht den Rest zusammen, der noch nicht wieder aufgelegt wurde, liefert kein Kompendium älterer Giftschrank-Texte oder anderer Kostbarkeiten, sondern einen fulminanten Markstein und Anstoß für die Schmitt-Forschung und Völkerrechtsdiskussion.

Edition ist Interpretation. Jede Auswahl wird zur Intervention in eine gewandelte Diskussionslandschaft. Sie sollte sich deshalb auch als solche begreifen. Schmitt vertrat diese Auffassung und beherzigte sie. Seine eigene Textauswahl waren gezielte Interpretationen. 1958 veröffentlichte er „Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954“ und erinnerte damit wieder an sein verfassungsrechtliches Werk vor 1933, nachdem er 1940 mit seiner Sammlung „Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923-1939“ etwas andere Segel gesetzt hatte. Kurt Sontheimer 1 kritisierte sogleich die Tendenz der Auswahl und Helmut Quaritsch 2 diskutierte die der „Positionen und Begriffe“ eingehend. Die „Verfassungsrechtlichen Aufsätze“ kreierten eine neue Form der Selbstkommentierung und sollten damals nur ein Anfang sein. Im unlängst (2004) erschienenen Briefwechsel mit dem spanischen Juristen Álvaro d’Ors, dessen Andenken Maschke die neue Edition auch widmet, schreibt Schmitt dazu am 31. März 1958: „Ich hatte in den letzten Wochen und Monaten sehr viel Arbeit, weil ich eine Sammlung von 21 verfassungsrechtlichen Aufsätzen aus den Jahren 1924-54 edieren und mit ‚Bemerkungen’ versehen musste.“ Weiter heißt es: „Der Verleger [...] will das Buch im Mai veröffentlichen und dann noch einen Band völkerrechtlicher und einen 3. Band rechtsphilosophischer Aufsätze folgen lassen, aber ich glaube nicht, dass ich die Kraft haben werde, noch einmal die große Mühe einer solchen Selbst-Edition auf mich zu nehmen.“3

In Schmitts Nachlass finden sich verschiedene Pläne zu diesen Sammlungen. Maschke hat sie nun in erheblich abweichender Zusammenstellung realisiert. Statt der zeitgeschichtlichen Glossen und Bemerkungen ergänzte er Schmitts Texte um überaus kundige Anmerkungen und bibliografische Angaben insbesondere zum zeitgenössischen Kontext und zur neueren Diskussion. Seine Sammlung „Staat, Großraum, Nomos“ präsentierte 1995 „Arbeiten aus den Jahren 1916 bis 1969“ mit der interpretativen Absicht, Schmitt als einen politischen Denker vorzustellen, der das „Ende der Epoche der Staatlichkeit“ sah und die aktuellen Tendenzen zu suprastaatlichen Großraumbildungen unter dem Grundbegriff des „Nomos“ noch als Rechtsgeschehen zu verstehen suchte. Im weiteren Sinne realisierte er damit Schmitts rechtsphilosophisches Vorhaben, auch wenn z.B. die – 2004 wieder aufgelegte – staatsphilosophische Programmschrift „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ von 1914, anders als in Plänen Schmitts, nicht enthalten war. Der dritte Schritt des alten Vorhabens liegt nun mit den „Arbeiten zum Völkerrecht und zur Internationalen Politik“ vor.

Nie und nimmer hätte Schmitt seinen Band nach 1945 allerdings unter der polemischen Formel eines Artikels von 1933 erscheinen lassen. Der waghalsige Titel deutet schon das besondere Profil von Maschkes Editionen an: Schmitts gewiss nicht unpolemische Texte gerieten hier in die Hände eines dogmatischen Rechtsauslegers. Maschke sieht die gegenwärtige Literatur „allzu häufig der political correctness verfallen“ (S. XIX) und bemängelt neben der „Ent-Historisierung“ und „Ent-Konkretisierung“ heute vor allem die „Ent-Politisierung“ Schmitts. Sie zeige sich insbesondere daran, dass die fundamentale Bedeutung der völkerrechtlichen Schriften und die politische Fundamentalerfahrung des „Diktats“ von Versailles geradezu systematisch übersehen werde. Maschke nennt „Versailles“ die „‚Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts’“ (S. XXVII) und bietet Schmitt heute im „Weltbürgerkrieg“ gegen die USA auf. Diese Stoßrichtung wird vielen Lesern nicht gefallen. Grundsätzlich ist es aber wohl richtig, dass es eine solche entpolitisierende Rezeptionstendenz gibt und die Diskussion der völkerrechtlichen Schriften sich sehr auf die „Großraumlehre“ aus der nationalsozialistischen Zeit konzentriert hatte. Wenn Maschke Schmitts Politisierung von der Bonner Zeit und dem Kampf mit Versailles her datiert, stellt er einen „Nationalisten“ vor, der normative Konsequenzen für die Völkerrechtstheorie zog. Den Titel verteidigt er rechtsphilosophisch mit Álvaro d’Ors und Julien Freund: Frieden sei nur in der Abgrenzung vom Feind als „Enthaltung vom Krieg“ verständlich und fassbar (S. XXIX).

Man kann Maschke also gewiss nicht vorwerfen, er hätte seinen Standpunkt verschwiegen. Den „Betrug der Anonymität“, den Schmitt im Kampf mit Versailles so fürchtete, gibt es hier nicht. So lässt sich diese kommentierte Auswahl als pointierte Intervention ungetrübt schätzen. Zweifellos ist ihre historisch-politische und wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung ein Riesenbeitrag. Maschke selbst streicht ihn gebührend heraus: „Wer unter den unverdrossen nachwachsenden Interpreten [Rezensent rechnet sich dazu], nur Gott der Herr hat sie gezählet [Tommissen vielleicht noch], beweist Interesse für die damaligen politischen Stellungnahmen Schmitts, wer kennt die damaligen Konflikte über das von Umerziehern verwaltete Taschenbuchwissen hinaus, wer kämpft sich durch das Labyrinth des deutschen, europäischen, US-amerikanischen Staats- und Völkerrechts, durch diese wahre macchia?“ (S. XXVI) Die Forschung wird es Maschke danken, wenn der politische Tenor auch Schmitts Werk vereinfacht und manche Vorurteile bestätigt.

Es ist also nicht der Neuigkeitswert der Texte, sondern deren Auswahl und Kommentierung, die Maschkes Edition über den praktischen Nutzen hinaus wertvoll macht. Die neue Sammlung bietet nicht weniger als 10 Texte, die schon (unkommentiert) in den „Positionen und Begriffen“ enthalten waren und lieferbar sind. Dazu kommen partielle Überschneidungen: So brachten die „Positionen und Begriffen“ die wichtige Rede über „Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik“ sowie die Erstfassung des „Begriffs des Politischen“ nur im Teilabdruck. Andere Texte sind kaum bekannte Varianten oder Kompilate, teils Rückübersetzungen. Quantitative Herzstücke der neuen Edition sind „Die Kernfrage des Völkerbundes“, die wenig bekannte Programmschrift „Nationalsozialismus und Völkerrecht“ von 1934, die Rezensionsabhandlung „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“, auch als Reprint lieferbar, sowie das pseudonym verfasste, weitgehend unbekannte Repetitorium „Völkerrecht“.

Das halbe Quantum der Schmitt-Texte, die die neue Edition bietet, ist also heute in anderer, von Schmitt selbst autorisierter Form im selben Verlag Duncker & Humblot leicht greifbar. Man kauft nicht zuletzt Maschkes Kommentar und dessen interpretativen Anstoß ein. Zur vorliegenden Ausgabe bemerkt Maschke (S. XIX), dass der „üppig anmutende Anmerkungsteil für die Drucklegung um ca. 60 Prozent gekürzt“ werden musste. Eine Alternative wäre gewesen, sich ganz auf Texte Schmitts zu beschränken und den Kommentar getrennt zu veröffentlichen. Dann wäre die Edition aber nicht in der gleichen Weise eine Intervention gewesen.

Und es gibt ja neue Texte: Die Broschüren „Die Kernfrage des Völkerbundes“ (1926) und „Nationalsozialismus und Völkerrecht“ (1934) waren bisher noch nicht wieder aufgelegt. Einige Artikel gegen die Sowjetunion konnten 1940, während des Hitler-Stalin-Pakts, nicht in die „Positionen und Begriffe“ aufgenommen werden. Der Völkerrechts-Kommentar von 1948/50, der auf die Nachkriegsentwicklung eingeht, war bisher fast unbekannt. Die späten, im „Staat“ erschienenen Texte über „Clausewitz als politischer Denker“ und „Die legale Weltrevolution“ waren noch in keiner Sammlung greifbar. Sie sind ein wichtiger Teil von Schmitts „Vergangenheitsbewältigung“ und Nationalismuskritik nach 1945, die oft übersehen wird. Schmitts letzter Aufsatz „Die legale Weltrevolution“ von 1978 ist darüber hinaus sein aktueller Beitrag zur „Globalisierungskritik“.

Der Leser absolviert einen didaktischen Grundkurs im Völkerrecht und Lehrgang im politischen Denken. Schmitt erklärt ganz grundsätzlich, wie es um das Völkerrecht und den Völkerbund steht und wie es sich in seiner politischen „Substanz“ entwickelte und wandelte. Dabei wird er nicht müde, die Juridifizierung der Politik anzuprangern, das Völkerrecht als Herrschaftsinstrument und Mittel des „modernen Imperialismus“ zu entlarven und an das existentielle „Grundrecht“ (vgl. S. 392ff.) Deutschlands auf „Gleichberechtigung“ und „Selbstbestimmung“ zu erinnern. Die geballte Ladung macht klar, wie ernsthaft er sein Werk als „Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ verstand und den Genfer Völkerbund als Mittel zur Sicherung der „Beute“ von „Versailles“ betrachtete. Seine politische Lesart des Rechts wurde in ihrer Konsequenz vielleicht nie so deutlich. Die polemische Formel „Frieden oder Pazifismus?“ ist ein rechtsphilosophisches Programm. Knapp nachzulesen ist es etwa im Artikel „Die Ära der integralen Politik“ von 1936, einer Rückübersetzung aus dem Italienischen. Die „Prüfung durch ein politisches Kriterium“ bezeichnet Schmitt hier als „Logik“ einer „rekonstruktiven Wissenschaft“ (S. 464). Cantus firmus ist es, den Machthabern ihren Schleier des Rechts zu entreißen und den „Betrug der Anonymität“ vom „Unrecht der Fremdherrschaft“ zu scheiden. Grundmelodie ist die Bestätigung, dass Schmitts Kampf mit „Genf“ (und wohl auch „Weimar“) vom Kampf gegen „Versailles“ her zu verstehen ist. Schmitt verglich Hitler nach 1945 mit Schillers „Demetrius“. Verschiedenste Motive erklärte er dadurch für illegitim und nur eines ließ er gelten: den Kampf mit Versailles. In sein „Glossarium“ notierte er am 1. Mai 1949: Hitler „wurde als falscher Demetrius von der Mutter Germania adoptiert, die sich 1933-1941 immer wieder sagte: ‚Doch ist er auch nicht meines Herzens Sohn, er soll der Sohn doch meiner Rache sein’“.4 Dieses Grundmotiv stellt Maschke heraus.

Insgesamt muss man zwar sagen, dass die Sammlung, anders als einige Nachlass-Editionen, keine sensationelle Erweiterung des bekannten und zugänglichen Textkorpus bietet. Ihr Markstein im Verblüffungsweg der Publikationspolitik ist gerade die Wiederentdeckung des „alten“ Schmitt 5, einer „manchmal überragende[n] Stimme in einem ausgedehnten Chor“ (S. XIX). Die Schlüsselbedeutung seines ständigen „Kampfes“ mit Versailles und Genf rückt aber jetzt erst angemessen in den Blick der Forschung. Die Entdeckung des normativen Anspruchs gehört dabei zu den wichtigsten Anregungen des Bandes. Die Tendenz der Sammlung kann kaum übersehen werden. Deutlich ist nun auch, was noch fehlt: Schmitts vergriffene Schriften zur Verfassungsgeschichte Deutschlands: „Volksentscheid und Volksbegehren“, „Hugo Preuß“, „Staat, Bewegung, Volk“, „Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches“, der kleine Grundgesetz-Kommentar, „Die Tyrannei der Werte“ und verwandte Texte. Ein starker Band steht also noch aus. Nach dem Nachweis der Fundamentalbedeutung von „Versailles“ für Schmitts Kritik am Völkerrecht wird dann auch das Stichwort „Weimar“ plastischer.

Selbsteditionen und Ausgaben letzter Hand haben einiges für sich. Einen guten Grund nannte Thomas Mann. Im Vorwort zu seiner Sammlung „Altes und Neues“ schrieb er 1953: „Aber wenn nun doch einmal die launische Natur uns gewährt, gleichsam ins Nachher hineinzudauern und ‚uns selber historisch zu werden’, - warum sollten wir uns da nicht der Philologie zuvorkommend erweisen?“ Gewiss hätte eine Selbstedition Schmitts etwas andere Akzente gesetzt. Mehr noch als die frühere Sammlung „Staat, Großraum, Nomos“, die von den Texten lebte, ist die neue Edition aber eine imponierende Forschungsleistung und Intervention in die laufende Diskussion. Sie zeigt Schmitts Werk im einfachen Grundansatz, der politischen Betrachtung der Macht im Recht nämlich, und in seiner mikroanalytischen Feinstruktur.

Anmerkungen:
1 Sontheimer, Kurt, Carl Schmitt. Seine Loyalität gegenüber der Weimarer Verfassung, in: Neue Politische Literatur 3 (1958), S. 757-770.
2 Quaritsch, Helmut, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989.
3 Schmitt, Carl und d’Ors, Álvaro, Briefwechsel, hrsg.v. Herrero, Montserrat, Berlin 2004, S. 185.
4 Schmitt, Carl, Glossarium, Berlin 1991, S. 239.
5 Das bemerkte schon Stephan Schlak in seiner Rezension „Begriffsnebel, verrissen“ in der Süddeutschen Zeitung vom 7. April 2005.

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