A. Wagner: 'Machtergreifung' in Sachsen

Cover
Titel
'Machtergreifung' in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930-1935


Autor(en)
Wagner, Andreas
Reihe
Geschichte und Politik in Sachsen 22
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Stelbrink, Soest

Die oft beschriebene Abkehr der Zeitgeschichtsschreibung von einer vornehmlich monokratischen und zentralistischen Gesamtdeutung des NS-Regimes liegt mittlerweile fast vier Jahrzehnte zurück. Seitdem floriert die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in Kommunen und überschaubaren Regionen. Dieser Paradigmenwechsel ging jedoch meist mit einer Hinwendung zu sozial- und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen einher. Daher besteht nach wie vor ein auffälliges Defizit an politikgeschichtlichen Untersuchungen über die deutschen Mittelstaaten in der NS-Zeit. Die 1933/34 rasch vorgenommene Zerstörung des deutschen Föderalismus hat allzu oft die Einsicht dafür verstellt, dass die ehemaligen Länderverwaltungen unter nunmehr nationalsozialistischer Leitung als Verkörperungen eines Partikularbewusstseins und wichtige Exekutivinstanzen mit gewissen, noch genauer auszulotenden Handlungsspielräumen fortbestanden. Diese Vernachlässigung der Landesgeschichte war um so unberechtigter, wenn sich die Länder – wie im Falle des Freistaates Sachsen – mit den NSDAP-Gauen deckten und von eigensinnigen Potentaten wie Gauleiter Mutschmann regiert wurden, der mit Vorliebe Heimatstolz propagierte und innerhalb seines Machtbereiches „fast schrankenlos schalten und walten konnte“ (S. 394).

Andreas Wagner untersucht in seiner Dissertation in vergleichender Perspektive gleichsam die „Vor- und Frühgeschichte“ dieser im NS-Staat „fast beispiellosen“ (S. 394) Machtakkumulation auf Landes- bzw. Gauebene. Seine Arbeit entstand im Umfeld des in Leipzig und Dresden durchgeführten Forschungsprojektes über „Sachsen unter totalitärer Herrschaft“, dem bereits einige andere, etwa zeitgleich erschienene Monografien und Sammelbände zu verdanken sind.1 Wie bereits in seiner 2001 veröffentlichten Magisterarbeit 2 sieht Wagner die mehrjährige „Machtergreifungs“-phase in Sachsen wesentlich durch die Machtkonkurrenz zwischen Mutschmann und dem Dresdner SA-Obergruppenführer von Killinger geprägt. Zur Erklärung dieses ausgeprägten Gegensatzes holt er weit aus und gibt zunächst einen knapp 40-seitigen Rückblick auf die Geschichte der sächsischen NSDAP und SA zwischen 1921 und 1933. Danach lag der organisatorische Schwerpunkt der Partei im westlichen und südwestlichen Sachsen. Vom vogtländischen Plauen aus gelang es Gauleiter Mutschmann schließlich nur mühsam, seinen Herrschaftsanspruch über ganz Sachsen zu realisieren. Mit der Konsolidierung überregionaler SA-Strukturen ab 1929 erwuchs der Gauleitung jedoch in Person des Dresdner SA-Obergruppenführers Killinger ein parteiinterner Konkurrent, der von der südwestlichen Peripherie aus zunehmend schwerer zu kontrollieren war.

Nach dem 30. Januar 1933 bekam dieser bis dahin ausschließlich innerparteiliche Antagonismus rasch eine neue Dimension. Die von Hitler vorgenommene Bestellung des politisch als relativ gemäßigt erscheinenden Killinger zum Reichskommissar in Sachsen am 10. März 1933 war allerdings nicht zuletzt ein Affront für den auf eine „Bartholomäusnacht“ (S. 145) dringenden Gauleiter. Nach Killingers Berufung begann in den Kommunen eine von örtlichen NS-Funktionären initiierte Phase massenhafter anarchischer Machtusurpationen, die freilich auch Wagner nicht annähernd quantitativ umreißen kann. Der auf eine geregelte Machtübernahme bedachte Reichskommissar drohte ob dieser Entwicklung jeglichen Einfluss zu verlieren. Killinger betrieb daher eine gezielte Zähmung der nationalsozialistischen Revolution, die vor allem den Machtgewinn des Gauleiters eindämmen sollte. Folglich wurden lediglich einige Schlüsselpositionen in der Verwaltung durch enge Vertraute Killingers besetzt. Die generell anpassungsbereite höhere Beamtenschaft in den Ministerien, Kreis- und Amtshauptmannschaften blieb „weitgehend unangetastet“ (S. 299). Der zunächst ungeregelte Einfluss örtlicher Parteistellen wurde durch die Einrichtung von Kommissaren bei den staatlichen Mittel- und Unterbehörden reglementiert, kanalisiert und kontrolliert. Bei vielen Beamten, die im März noch in der Rolle von „Vollstreckungsgehilfen“ und „ohnmächtigen Beobachtern“ verharrten, war daher bereits im April wieder „ein neu entstehendes Selbstbewusstsein im Umgang mit der Partei“ (S. 202) zu konstatieren. Die Behörden wurden wieder zu einem „mitbestimmenden Faktor“ (S. 203). Bemerkenswert erscheint auch das von Wagner vorgelegte Zahlenmaterial über die Anwendung des Berufsbeamtengesetzes, das so detailliert bisher für keinen anderen Mittelstaat vorlag und mit „etwa 4,6 Prozent“ (S. 235) entlassenen bzw. in den Ruhestand versetzten Beamten Mommsens Schätzwert von 3,5 bis 4 Prozent für Hamburg – nicht wie Wagner irrtümlich behauptet: für das ganze Reich 3 – im Wesentlichen bestätigt. Killingers „Etatismus aus Eigennutz“ (S. 243 und öfter) lässt die „Machtergreifungs“-Phase in Sachsen im reichsweiten Vergleich als „weniger tiefgreifend“ erscheinen (S. 299).

Niemand wird nach Lektüre dieser Passagen bestreiten, dass der besagte Antagonismus zwischen Killinger und Mutschmann in der sächsischen Politik des Jahres 1933 eine wichtige Rolle spielte. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass Wagner bisweilen der Versuchung erlegen ist, den besagten Gegensatz ohne eindeutige Belege zum interpretatorischen Passepartout für die gesamte Personal- und Verwaltungspolitik der Ära Killinger zu machen. Wenn es Wagner etwa „scheint“ (S. 243), dass die oberflächliche Anwendung des Berufsbeamtengesetzes in den Ministerien nicht zuletzt auf das Absicherungsbedürfnis Killingers gegenüber seinem Machtkonkurrenten zurückzuführen sei, so wäre an dieser Stelle wohl eine noch vagere Formulierung am Platze gewesen. Schließlich kann man das beträchtliche Beharrungsvermögen sich weitgehend selbst kontrollierender Bürokratien auch dort konstatieren, wo keineswegs eine vergleichbare dualistische Machtkonstellation vorherrschte.

Die ab Seite 272 behandelte Ernennung Mutschmanns zum Reichsstatthalter am 5. Mai 1933 bildete einen Markstein für die weitere Entwicklung. Ab diesem Zeitpunkt nimmt auch die bis dahin manchmal etwas langatmige und redundante Untersuchung Wagners merklich an Fahrt auf. Die folgenden Passagen sind die interessantesten und aufschlussreichsten des gesamten Buches. In prägnanten Ausführungen schildert Wagner die Etablierung einer sächsischen „Doppelspitze“ (S. 174), die schließlich auch das ganze Kabinett spaltete. Mit Hilfe erfahrener Verwaltungstechniker gelang es dem mittlerweile zum Ministerpräsidenten ernannten Killinger jedoch, den Einfluss des Reichsstatthalters auf den Regierungsalltag deutlich einzuschränken. Im Gegensatz zu einigen anderen Reichsstatthaltern konnte sich Mutschmann damit vorerst nicht zum Herren der Landesregierung aufschwingen. Das gegenläufige Pauschalurteil Diehl-Thieles 4 ist damit aus den Akten eindrucksvoll widerlegt.

Der „stabile Dualismus“ (S. 300) in Sachsen zerbrach erst nach der Röhm-Affäre Ende Juni 1934. Wagner kann darlegen, dass Mutschmann wohl kaum der Initiator, wohl aber der hauptsächliche Nutznießer der zunächst nur vorläufigen Amtsenthebung Killingers war. Im Februar 1935 schließlich konnte der Gauleiter neben seinem Amt als Reichsstatthalter auch die begehrte Nachfolge Killingers antreten. Diese neue Machtposition nutzte Mutschmann alsbald zu einem personellen und vor allem organisatorischen Umbau der sächsischen Ministerialverwaltung. Exponierte Vertraute Killingers wurden gezielt ausgebootet; wesentliche Machtkompetenzen übernahm Mutschmann entweder selbst oder leitete sie in die Hände enger Vertrauter. Wagner fasst diese Vorgänge mit Recht unter dem Begriff einer „Zweiten Machtergreifung“ (S. 14 und öfter) in Sachsen zusammen.

Insgesamt 16 Tabellen bereiten das umfangreiche und aufschlussreiche Zahlenmaterial leserfreundlich auf und runden das insgesamt sehr positive Gesamtbild ab. Die Untersuchung Wagners liest sich nicht zuletzt als ein eindrucksvolles Plädoyer für die Erarbeitung weiterer landes- bzw. gaugeschichtlicher, jedoch an übergreifenden Fragestellungen orientierter Untersuchungen zur NS-Zeit.

Anmerkungen:
1 Siehe von Hehl, Ulrich; Parak, Michael; Sachsen unter totalitärer Herrschaft. Ein Projekt des Historischen Seminars der Universität Leipzig und des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 2002 (2003), S. 34 ff.
2 Wagner, Andreas, Mutschmann gegen von Killinger. Konfliktlinien zwischen Gauleiter und SA-Führer während des Aufstiegs der NSDAP und der „Machtergreifung“ im Freistaat Sachsen, Beucha 2001.
3 Vgl. Mommsen, Hans, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966, S. 55 sowie Wagner, Machtergreifung, S. 236.
4 Siehe Diehl-Thiele, Peter, Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung, München 1969, S. 49.

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